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ProMosaik im Interview mit Frau Iris Hefets von der “Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.”


Liebe
Leserinnen und Leser,
wir
freuen uns heute sehr, Ihnen das Interview unserer Redaktion mit Frau Iris
Hefets, Mitglied der „jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.“
vorzustellen. Sie ist Autorin des folgenden Artikels „Pilgerfahrt nach
Auschwitz“, der 2010 auf der taz erschien und eine große Diskussion auslöste.
Hier finden Sie den Artikel erneut auf unserem Blog:
Wir
haben Frau Hefets über ihren Artikel, das Zusammenleben von Juden und Muslimen
in Marokko, dems Herkunftsland ihrer Familie und über die möglichen Wege zum
Frieden in Nahost befragt. Sie ist Psychotherapeutin und lebt seit mehr als 10
Jahren in Deutschland, seit sie Israel verließ.
Wir
freuen uns auf Ihre Kommentare hierzu und möchten nun Frau Hefets das Wort
geben.
Dankend
Dr.
phil. Milena Rampoldi von ProMosaik e.V.

Dr.
phil. Milena Rampoldi: Wie kam es zum Artikel „Pilgerfahrt nach Ausschwitz“ und
warum? Welche waren die äußeren und welche die inneren Umstände?
Frau Iris Hefets: Zum Artikel „Nur auf Zehenspitzen gehen“,
wie es in der Printausgabe hieß, kam es, nachdem der Vortrag von Finkelstein 3
Mal verlegt und dann abgesagt wurde. Ich fand es als Jüdin unmöglich, dass
deutsche Organisationen und „pro-israelische“ Aktivisten Holocaustüberlebende
und ihre Nachkommen, wie Ilan Pappe, Hajo Meyer und Norman Finkelstein, mundtot
machen. Es wird so zu sagen „für uns Juden gemacht“, weil sie „unsere“
Interessen verteidigen. Da wird angenommen, dass Israel für die Juden spricht,
obwohl 60% der Juden nicht in Israel leben und stereotypisch gedacht, dass es
„die Juden“ gibt. So eine Zensur lässt auch ein einheitliches Bild zum
Vorschein kommen, da Juden, die die israelische Politik kritisieren, keine
Bühne in Deutschland bekommen.
Ich bin dann die Gründe dafür
nachgegangen und glaube, dass die Tabuisierung des Holocausts dazu beiträgt,
dass es Denkverbote gibt und man totalitäre Denkstrukturen pflegt, anstatt für
Vielfältigkeit zu sorgen. Die Indoktrinierung der Kinder und Jugendlichen in
Israel  und die Betrachtung des Holocausts
als Berechtigung, Unrecht zu verbreiten und Unrecht zu tun, führte mich dazu, die
Gemeinsamkeiten zwischen dieser israelischen und deutschen Einstellung zu
untersuchen. Der Artikel war so provokativ, dass die jüdische Gemeinde in
Berlin mit ihrer totalitären Tradition versuchte, die taz-Redaktion zum
Einknicken zu bringen. Nachdem dieser Versuch gescheitert war, organisierten
sie eine Podiumsdiskussion unter dem Namen meines Artikels, ohne mich aber dazu
einzuladen. Die Podiumsdiskussion endete in Eklat: denn die protestierenden
Israelis in der Synagoge wurden von der Polizei rausgeworfen, und die
Redakteurin von der taz verließ die Synagoge. Ich klagte Lala Süskind, die
damalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde an, weil sie mir in ihrem Grußwort ein
angeblich antisemitisches Zitat untergeschoben hatte, und gewann den Prozess.
Danach versuchte Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrates der
Juden, den Verlust des Ansehens der Gemeinde durch ein Streitgespräch mit mir
in der taz auszugleichen… 

Quelle: Palästinaportal

Dr.
phil. Milena Rampoldi: Erzähle bitte unseren Leserinnen und Leser etwas über
das Zusammenleben der Juden und Muslime in Marokko bis heute.
Frau Iris Hefets: In Marokko lebten Juden und Muslime in
relativem Frieden, da der Islam gegenüber monotheistischen Religionen ziemlich
tolerant ist. Es gibt aber heute kaum noch Juden in Marokko, da die meisten
nach Israel, Frankreich und Kanada ausgewandert sind. Anlässlich der Gründung
des Staates Israel wurden zionistische Gesandete nach Marokko geschickt, um die
Juden dort zum Auswandern zu überzeugen und manchmal auch dazu zu zwingen (erst
wurden die Kinder verführt bzw. entführt, und die Eltern kamen nach). Viele
wollten auch Marokko verlassen, da die Franzosen abgezogen waren, Marokko seine
Unabhängigkeit erhielt und die Juden, die während des Kolonialismus eine
bessere Stellung innehatten als die Muslime, Angst vor Rache hatten bzw. sich
vor dem Chaos fürchteten, dem sie zum Opfer fallen können. Dazu kam auch noch
die nationalistische Welle aus Europa in den Maghreb, und die Juden waren z.T.
zerrissen und fühlten sich auch davon bedroht. Die Auswanderung zerstörte die
bis dahin florierenden Gemeinden. Ein jüdisches Leben kann nur im Rahmen einer
Gemeinde existieren, weshalb sie fast alle ausgewandert sind. In Israel wurden
sie von den europäischen Juden als Juden zweiter Klasse und letztendlich als „Araber“
angesehen. Sie werden aus diesem Grunde bis heute unterdrückt, diskriminiert
und benachteiligt. Die marokkanischen Juden, die nach Europa bzw. Kanada
ausgewandert sind, haben es besser….

Dr.
phil. Milena Rampoldi: Wie würdest du mit deinen eigenen Worten und aufgrund
deiner Erfahrungen heute den Deutschen den Unterschied zwischen Antisemitismus
und Antizionismus erklären?
Frau Iris Hefets:
Antisemitismus richtet sich gegen Juden, weil sie Juden sind. Es geht nicht um
das Verhalten bzw. um eine Ideologie, die einem Verhalten zu Grunde liegt. Der
Antizionismus richtet sich gegen die Zionisten, unabhängig davon, ob sie nun
Juden sind oder nicht: ein Drittel der Million Auswanderer aus der ehemaligen
Sowjetunion nach Israel sind z.B. Christen bzw.
Nichtjuden
und z.T. Zionisten. Es gibt viele Protestanten in den USA,
die Zionisten sind. Der Antizionismus richtete sich gegen die Ideologie und
Verbrechen des israelischen Staates, der zionistisch ist und deshalb Juden als
Ethnie bevorzugt und diesen auf Kosten anderer bessere Rechte zuspricht. Der
Antizionismus ist mit dem Antirassismus vergleichbar. Um ein Beispiel zu
nennen: Er richtet sich gegen eine Ideologie und wenn man sich anders verhält,
kann man die Kritik des Antizionismus vermeiden. Den Antisemitismus hingegen
kann man durch eine Änderung des Verhaltens nicht vermeiden: denn er richtet
sich gegen das Dasein eines Menschen und nicht gegen sein Verhalten.
Dr.
phil. Milena Rampoldi: Welche sind die besten Strategien, um Israel dazu zu
bringen, umzukehren, um den Frieden mit den Palästinensern zu suchen?
Frau Iris Hefets: Den jüdisch-israelischen
Bürgern in Israel fehlt es an Motivation zur Veränderung, obwohl viele unter
der israelischen Wirklichkeit leiden. Deshalb wäre es mal wichtig, diese
Motivation aufzubauen. Die israelische Elite erzielt leider immer noch
Riesengewinne aus der Besatzung, weshalb der „Löwenanteil“ der israelischen
Akademiker (die zu 90% Ashkenasi, also europäische Juden, sind, obwohl sie 40%
der Bevölkerung ausmachen) die Besatzung und den zionistischen Staat
unterstützt. Um das zu ändern, plädiere ich vor allem für den kulturellen und
akademischen Boykott. Das heißt, dass Konferenzen und Events, die vom Staat
Israel finanziert werden, boykottiert werden sollen. Auch Reisen nach Israel
sollten, wenn möglich, boykottiert werden. Dazu wäre es wichtig, keine Produkte
aus Israel zu kaufen. Es gibt Menschen, die dazu aufrufen, die Produkte aus den
besetzten Gebieten zu boykottieren. Ich denke aber, dass infolge des Wasserraubs
an den Palästinensern auch das in Israel angebaute Basilikum genauso „unkoscher“
ist wie das Basilikum aus den besetzten Gebieten im Westjordanland und in Gaza. 
Dr.
phil. Milena Rampoldi: Wie kann der interreligiöse Dialog zum Frieden in Nahost
beitragen?
Frau Iris Hefets: Der
interreligiöse Dialog ist wichtig, weil die Zionisten ein falsches Bild
propagieren, nach dem die Muslime judenfeindlich wären. Das finde ich besonders
in Deutschland an der Grenze einer Holocaustverleugnung, weil viele Deutsche
sich dadurch von den Sünden ihrer Vorväter befreien wollen. Die marokkanischen
Juden feiern heute z.B. die Mimoona,
das Ende von Pessach. Nach eine
Woche, in der man kein Mehl essen darf, bringen die Muslime den Juden das erste
Mehl und sie feiern zusammen. Die zionistische Hasbara (also der proisraelische Propaganda-Apparat im Allgemeinen,
ohne sich auf den jüdischen zu beschränken) versucht die Juden aus den
arabischen und muslimischen Ländern als Flüchtlinge darzustellen, als wären sie
von den Arabern und Muslimen von dort vertrieben worden. Sie wollen sie und
ihren Besitz auf diese Weise (auf Kosten der Misrachi Juden) mit den
palästinensische Flüchtlinge verrechnen. Denn es waren ja die Ashkenasi-Juden,
die die Palästinenser im Rahmen der Nakba
vertrieben haben. Sie wollten (zu Recht!) den Zugriff auf ihren Besitz in
Europa haben und versuchen dasselbe den Misrachi Juden vorzuenthalten… Deshalb
wäre es besonders wichtig, sich gegen diese Darstellungen und Versuche zu
wehren, einen Keil zwischen Juden und Muslimen zu stecken.
Dr.
phil. Milena Rampoldi: Nach dem Wahlsieg von Netanyahu: wie geht unser
Widerstand gegen das israelische Regime weiter? Was wird sich in diesem
Widerstand ändern?
Frau Iris Hefets: Der Wahlsieg
von Netanyahu hilft dem Widerstand. Denn wir können unsere Mitmenschen hier
leichter erreichen. Die Illusion und Lippenbekenntnisse vorheriger Regierungen,
die wir immer zu enttarnen versuchten, sind nun nicht mehr so leicht
aufrechtzuerhalten. Viele Deutschen müssen von der Idealisierung der Juden und
Israelis „heilen“. Jetzt, wo es klarer ist, dass Israel auf Kriegskurs setzt
und es offen sagt, sollten wir mehr für Boykott und Desinvestition plädieren
und auf Sanktionen gegen hoffen (auch wenn dies unausgesprochen passiert: auch
eine Konferenz, die in Israel ohne große Entscheidungen abgesagt wird, ist
wichtig). Der Unterschied zwischen Netanyahu und den anderen Politikern ist
letztendlich eher ein Stilunterschied: auf der politischen Ebene geht es leider
in Israel seit Jahrzehnten nur bergab, und parallel dazu gibt es immer mehr
Kriegsgewinner. Das ist für die israelische Gesellschaft, auch wenn sie nur das
kleine Opfer ist, katastrophal. Diese Gesellschaft hat keine kritische Masse,
die eine Veränderung hervorbringen kann. Vielleicht wird diese Wahl endlich mal
dazu führen, dass sich in Israel eine wahre Opposition entwickelt, mit der wir
uns – wie oft in solchen Kämpfen – solidarisch zeigen könnten.
Dr.
phil. Milena Rampoldi: Welche ist die politische Utopie, die dir vorschwebt,
wenn du hoffst und träumst?
Frau Iris Hefets: Da muss ich
wirklich einschlafen und träumen….einerseits ist es keine Utopie, da die Arabische
Liga schon 2002 Israel das Angebot unterbreitete, das Israel immer schon als
Bedingung für den Frieden mit allen seinen Nachbarn gestellt hatte: Anerkennung,
Normalisierung der Beziehungen und 1967-Grenzen. Israel hat das Angebot aber ignoriert.
Aber eine wahre Utopie wäre ein Staat mit offenen Grenzen in Nahost. Das würde
aber einen Machverlust für die weiße Minderheit in Israel mit sich bringen.
Dies wird aber geschehen, mit Sicherheit, irgendwann…. Leider verfallen Imperien
aber langsam und nehmen viele Menschenleben mit sich nach unten in die Hölle.
Dass dies heute in Israel geschehen wird, erscheint mir noch Zukunftsmusik,
aber das wäre mein Traum. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Palästinenser,
nach den furchtbaren Verbrechen, die wir ihnen angetan haben, noch mit uns leben
wollen (und warum auch?) und können. Ich habe solche Freunde hier, die dazu
immer noch bereit sind, und das stimmt mich einen Tick optimistischer…