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Der Kampf gegen das Altern gefährdet «die Alten»

Jürgmeier, Infosperber, 11.
Mai 2020, erste Veröffentlichung auf Infosperber.- «Ich habe keine Angst vor
dem Alter.» Sagen viele. Weil «die Schweiz» gegen «das Altern» kämpft? Wie der
«Blick» schreibt.
Auf dem Rückweg vom Joggen spiegelt sich im Fenster
eines Ladens ein alter Mann, der nach Hause rennt. In den Todesanzeigen lese
ich, jemand sei mit achtzig gestorben. ‹Ein schönes Alter.› Denke ich. Erinnere
mich an den Augenarzt, der mich wegen eines Hornhautgeschwürs auf meinen
Jahrgang verwiesen hat. Und zucke zusammen. Nur noch zwölf Jahre bis Ultimo.
Zwölf Jahre. Um alle Ideen noch auszuschreiben. Die Bücher in den Gestellen und
die noch nicht geschriebenen in den Köpfen der Autor*innen zu lesen. Mit den
Skis noch ein paar Mal von der
Roten Nase ins Verlorene Tal zu
fahren. Noch zehn Mal im
Silsersee zu schwimmen. Noch zwölf Jahre. Um S.
die Hand zu halten. Ihren Mund zu küssen. Mit ihr über den
Greifensee zu
paddeln. Über gleiche Welten zu reden. Und über Kinder zu streiten.
Vorausgesetzt die ZumutungenSchmerzenEinschränkungen dieser letzten Jahre
setzen mir nicht allzu hart zu. «Ich habe keine Angst vor dem Alter.» Lese ich.
Und: «Alt werden ist nichts für Feiglinge.» Die Durchhalteparolen der grauen
Soldat*innen beruhigen mich nicht.
Irgendwann – das Bild. Ich sitze am Schreibtisch.
Finde in meiner Agenda die Notiz «Sterben». Frage mich, was damit gemeint ist.
Wen will ich treffen? Wozu? Dann fällt es mir ein. Die Ärztin hat mir
schonungslos, wie gewünscht, eine «beginnende Demenz» diagnostiziert. Und mir
den ungefähren Verlauf skizziert. Anschliessend habe ich «Sterben» im Kalender
eingetragen. Bevor die mittleren bis schweren Symptome beginnen. Heute. Wo’s
grad so schön ist. Wie oft soll er den Termin noch hinausschieben? Wann würde
er nicht mehr selbst entscheiden können? Das Bild ist das Bild. Nicht die
Wirklichkeit. «Ceci n’est pas une pipe.»
Noch vor Corona – das mich einer «Risikogruppe»
zuteilen und verängstigen wird – gibt der neuste Sorgenbarometer an:
Altersvorsorge und Gesundheit, beziehungsweise die Krankenkasse, machen «den
Schweizer*innen» am meisten Angst. Umweltschutz und Klimawandel folgen erst
nach «den Ausländer*innen» an vierter Stelle. Indiz für eine Bevölkerung, die
darauf spekuliert, dass sie das Versinken von Venedigs Brücken und der
Tulpenfelder vor Amsterdam nicht mehr erleben wird. Selbst grosse Teile «der
Jugend» kümmern sich stärker um die kurzfristige Sanierung der AHV als
um die Zerstörung von «natürlichen» und anderen Lebensgrundlagen in
(vermeintlich) ferner Zukunft. «Die Schweiz kämpft gegen das Altern.» Titelt
das Boulevardblatt des Landes, das als «überaltert» gilt. Wie hoch wäre ein
«gesundes» Ablaufalter? Und wie bekämpft man das Altern? Mit Reha, wie es im Blick
beschrieben wird? Durch ein intensives, aber kurzes Leben? Durch den Krieg
gegen «die Alten»? Würden die rechtzeitig erschlagen, sie alterten nicht.
Würden nicht zu viele. Könnten die Volkswirtschaft nicht belasten. Und müssten
nicht zusehen, wie die Gletscher schmelzen.