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Eine Stunde arbeiten, x Stunden arbeiten lassen

Jürgmeier,
Infosperber,
 17. Mai 2020, erste Veröffentlichung auf Infosperber.
 
Hohe Löhne garantieren
Qualität. So das Gesetz des Marktes. Aber bei den einen hat die Arbeitsstunde
der anderen nur zehn Minuten.



Am 9. Dezember hat mir, dem «sehr geehrten Verleger», die
Republik in ihrem «wichtigsten Newsletter seit dem Start» mitgeteilt: «Wir
müssen bis Ende März zwei grosse Ziele erreichen: wieder 19’000 Verlegerinnen
sein und zusätzlich 2,2 Millionen Franken auftreiben… Wenn wir diese Ziele
erreichen, haben wir eine gute Chance, in vernünftiger Frist wirtschaftlich
stabil zu sein. Schaffen wir es nicht, werden wir am Nachmittag des 31. März
für sämtliche Mitarbeitenden der Republik
die Kündigung aussprechen. Und danach das Unternehmen geordnet auflösen.»
Heute lese ich in der Wochenzeitung unter dem Titel «Friss oder
stirb?», eine Lohnsenkung als Beitrag der Mitarbeitenden sei «keine Option».
Die Republik bezahlt
überdurchschnittliche 8000 Franken Einheitslohn. Im Monat. «Wegen dieser Löhne
haben wir auch gute Leute hier. Und wir wollen diese Qualität beibehalten.»
Erklärt der stellvertretende Chefredaktor Oliver Fuchs. Hat die Wochenzeitung mit einem
Einheitslohn von 5400 Franken keine «guten Leute»? Kann die Woz mit der Qualität der Republik nicht mithalten? Die
Argumentation klingt wie der neoliberale Verweis auf den Weltmarkt, mit dem
die, zugegeben, etwas höheren Millionengehälter und -boni der Chief Executive
Officers CEO internationaler Unternehmen legitimiert werden. Der Teuerste ist
die Beste. Und ich überlege mir, als Verleger, für einen Moment, ob ich die
Entlassung des Republik-Verantwortlichen
beantragen soll. Weil der, offensichtlich, für weniger als 8000 keine Qualität
mehr liefern würde. (Es wurde dann im Frühling 2020 bei der Republik niemand entlassen.)
Schliesslich war ich immer und grundsätzlich für den
Einheitslohn. Und bin es noch immer. Häufig gegen meine eigenen Interessen.
Eine Stunde ist eine Stunde ist eine Stunde. Gleiche Wertschätzung, gleiche
Anerkennung, gleicher Preis für jeden Tag, den einer oder eine arbeitet.
Manchmal sage ich, dass ich das denke, und werde ausgelacht. Ich würde doch
nicht ernsthaft glauben, das habe eine realpolitische Chance? Tue ich nicht.
Ich kenne das Resultat der 1:12-Initiative. Zum Beispiel. 65 Prozent Nein.
Immerhin waren 35 Prozent der Stimmenden in jenem November 2013 der Meinung,
das Zwölffache genüge als Lohnspanne – im gleichen Unternehmen. Aber wer
generell denselben Lohn fordert, wird in diesen kapitalistischen Verhältnissen
zur belächelten Figur.
Nur weil es einem nicht einleuchtet, dass jemand mit seinem
Stundenlohn zwölf (oder mehr) andere während einer Stunde für sich chrampfen
lassen kann. Dass eine oder einer für eine juristische Beratungsstunde
womöglich mehr als zehn Stunden FensterBödenKüchenkästen putzen muss. Sieben
Stunden für eine Therapiesitzung. Dass der CEO eines internationalen Konzerns
höchstens fünf Minuten Verantwortung tragen muss, um die stündige Taxifahrt zu
bezahlen. Die Tourist*innen aus dem reichen Norden sich in Süd und Fernost für
ihren Stundenlohn die Früchte tagelanger Arbeit kaufen können. Die
Finanzberatung nur zehn Minuten dauert, der Computersupport nach einer knappen
Viertelstunde endet, obwohl die Fachperson Pflege dafür eine Stunde Infusionen
gelegt, Kissen geschüttelt, Ängste beruhigt, Tabletten verteilt und Rücken
eingeseift hat.
Ein Narr, wer das nicht für normal hält. Eine Fantastin, wer
sich eine andere Welt vorstellen kann.