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Der Lockdown kann zwar Covid-19 eindämmen, aber er kann dem Virus der Islamophobie in Indien nicht Einhalt gebieten

von Priya Ramani, The Print, 10. April 2020. Deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik. Wenn 2018 und 2019 die Jahre waren, in denen Indien Vergewaltigungen zu einer kommunalistischen Angelegenheit machte, so wird das Jahr 2020 als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem dieses Land eine globale Pandemie durch die Brille des Konflikts zwischen Hindus und Muslimen betrachtete.


Der Aktivist Akram Akhtar befand sich gerade zu Hause in Shamli, Uttar Pradesh, als die Uhr am 5. April 21 Uhr schlug, und der Tonstreifen derjenigen, die dem Aufruf von Premierminister Narendra Modi nach einem 9-minütigen Lichtausfall nachgekommen waren, um ihn herum widerhallte.
„Es ertönten laute Rufe der Jai Shri Ram (Feuerwerkskörper) und die unverwechselbaren Geräusche der abgefeuerten, einheimischen Pistolen Kaliber .315. Ich hörte die Muschelhörner und Gebetsglocken aus dem Tempel, in dem die Lautsprecher Bhakti-Lieder spielten.“ Dies hielt 45 Minuten lang an, berichtete er.
Auch in anderen Teilen Indiens wurde Modis Aufruf, das Licht auszumachen und eine Diya anzuzünden oder eine Fackel zu entfachen, um „unseren Kampf gegen das Coronavirus auszudrücken“, von vielen Hindus als ein Zeichen der Stärke der Mehrheitsgesellschaft ausgelegt.
Akhtar war besorgt, dass es zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft kommen könnte, stieg auf sein Motorrad und fuhr in einige muslimische Viertel. „Hier war es dunkel und ruhig. Im Gegensatz zu anderen Tagen war hier gar niemand unterwegs“, fügte er hinzu und führte dies auf die Angst zurück, die vor allem durch die vor kurzem ausgeübte Polizeigewalt gegen muslimische Bürger ausgelöst wurde, die in Uttar Pradesh (UP) gegen die (Änderung) des Staatsbürgerschaftsgesetzes demonstriert hatten.
Seit Dezember 2019 nimmt die Polizei in Indiens bevölkerungsreichstem Bundesstaat Muslime ins Visier. Tausende wurden bereits festgenommen. Es wurden Häuser durchsucht und es wurde sogar das Feuer auf Menschen eröffnet, die gegen neue Gesetze protestieren, die die indische Staatsbürgerschaft durch ein religiöses Sieb laufen lassen möchten.
Eine nüchterne Überschrift in der Zeitschrift Time spiegelt unser aktuelles Selbst ganz deutlich wider: „Es war schon vorher eine Gefahr, in Indien Muslim zu sein. Dann kam das Coronavirus.“
Nachdem die Teilnehmer eines Tablighi Jamaat-Treffens – das in Delhi vor der Forderung Modis zwecks Einrichtung einer nationalen Sperre stattfand – positiv getestet wurden, verbreiteten sich die Fake-News über Muslime, die mit Absicht das Coronavirus verbreiten würden, wie ein Lauffeuer. Dann war unsere Islamfeindlichkeit weltweit sichtbar, als der Hashtag #CoronaJihad zum Trend wurde.
Ein Hinweis darauf, wie schnell sich die hasserfüllten Gerüchte verbreiteten, war, dass sogar die UP-Polizei dazu gezwungen war, Tatsachen zu überprüfen.
In Sahranpur, 62 km von Shamli, gab die Polizei eine Erklärung ab, in der sie bestritt, dass Jamaatis, die in Rampur unter Quarantäne gestellt wurden, „einen Aufruhr verursachten“, weil sie kein nicht-vegetarisches Essen bekamen und im Freien ausgeschieden hatten. „Nachdem wir Nachrichtenberichte, -kanäle und Social-Media-Beiträge durchgesehen haben, haben wir festgestellt, dass diese Berichte völlig falsch sind und der Wahrheit widersprechen. Die Polizei von Saharanpur widerlegt diese projizierten Nachrichten in ihrer Gesamtheit“, twitterte die offizielle Polizei.
Daraufhin kam es zu weiteren Vorfällen, in denen die UP-Polizei Personen und Medienorganisationen  korrigierte, warnte oder verhaftete, weil sie Fake-News oder Angriffe gegen Muslime verbreitet hatten. In einem Artikel der Tageszeitung Hindustan vom 6. April hieß es, die Polizei von Meerut habe den Bericht, dass eine Maulana auf einen Ladenbesitzer gespuckt und ihn gebissen habe , für unwahr befunden. Der Ladenbesitzer war nach einer finanziellen Auseinandersetzung wütend und hatte mit einer Münze Bissspuren erzeugt.
Fake-News und wahrer Schaden
Die religiöse Organisation Jamiat Ulema-e-Hind wendete sich an das Oberste Gericht und beantragte, die Verbreitung der Fake-News zu stoppen und gegen eine Ecke der Medien vorzugehen, die für die Verbreitung von Hass und Bigotterie in der Gemeinde verantwortlich war. Der Organisation zufolge wurde das Tablighi Jamaat-Treffen als Vorwand genutzt, um die gesamte muslimische Gemeinschaft zu dämonisieren.
Wenn 2018 und 2019 die Jahre waren, in denen Indien – im Fernsehen während der Hauptsendezeit und auf den sozialen Medien – für Vergewaltigungen stand und man stundenlang über die Religion des Vergewaltigers und seines Opfers in schrecklichen Fällen von Gewalt gegen junge Frauen und Minderjährige debattierte, so wird das Jahr 2020 als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem eine globale Pandemie durch die Brille des Konflikts zwischen Hindus und Muslimen betrachtet wird.
Die Fake-News waren überall. „Meine Eltern kaufen seit vielen Jahren Lebensmittel in einem Supermarkt eines malaiischen Muslims. Gestern erhielt mein Vater eine WhatsApp-Nachricht, in der man ihn aufforderte, nicht in den Laden zu gehen, da sowohl der Besitzer als auch die Waren des Ladens mit Coronavirus infiziert waren“, wie jemand auf Facebook gepostet hatte.
Tod des Säkularismus
Die Ideen des indischen Synkretismus und Säkularismus scheinen 2020 immer mehr in einen fernen Traum zu rücken. Dieser vor kurzem eingetretene Ausbruch hasserfüllter Bigotterie folgte den Unruhen in Delhi, bei denen 19 Moscheen beschädigt und mit gezielter Gewalt in Brand gesteckt wurden, die im Februar in den Arbeitervierteln im Nordosten der Stadt 48 Stunden lang andauerte.
Als der Journalist und Autor Ajaz Ashraf diese Moscheen besuchte, wurde er daran erinnert, wie die Taliban zwei Statuen von Gauthama Buddha aus dem 6. Jahrhundert in Afghanistan in die Luft gesprengt und wie der Islamische Staat archäologische Stätten zerstört hatte, als seine Soldaten durch den Nordirak und Syrien zogen.
„Diese Moscheen haben weder eine alte Vergangenheit noch sind sie architektonische Wunder. Doch die Wut, mit der sich diese Banden auf sie stürzten, hatte was Taliban-artiges an sich. Sie zeigten ihre extreme Verachtung für die heiligen Räume, die nicht die ihren waren; sie machten deutlich, dass die Kultstätten der anderen zum Reich des Heidnischen gehörten“, schrieb Ashraf letzten Monat für das Nachrichtenportal News Click. Er meinte, er habe aufgegeben, nachdem er die Zerstörung in neun Moscheen gesehen hatte.
Sogar heilige Räume, die in Indien schon immer sowohl von hinduistischen als auch von muslimischen Gläubigen besucht wurden, stehen vor einer unsicheren Zukunft.
Als Nikhil Mandalaparthy, ein Berichterstatter am Pulitzer Center, begann, die Zukunft unserer Sufi- Dargahs zu untersuchen, stellte er fest, dass berühmte Dargahs in Ajmer und Delhi zunehmend von Hindutva-Anhängern und konservativen Muslimen angegriffen wurden. Unaufhörliche islamfeindliche Nachrichten auf den sozialen Medien (beispielsweise die Meldung auf Twitter, nach der hinduistische Besucher von Sufi-Schreinen „mit Juden vergleichbar sind, welche Nazis verehren“) führten dazu, das die hinduistischen Besucher dieser synkretistischen Räume in einigen Landesteilen abnahmen, erfuhr er.
Zu Beginn dieser Woche starb ein Baby in Bharatpur, Rajasthan, nachdem sich ein Arzt geweigert hatte, eine schwangere muslimische Frau wegen ihrer Religion zu behandeln.
Islamfeindlichkeit findet sich im neuen Indien überall. Und sie hat bereits tödliche Auswirkungen.
Kauert euch hin. Es ist erst April. Das Jahr 2020 hat noch weitere acht Monate.