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Corona und Suizid: ist aktiv umgesetzte Lebensmüdigkeit nur ein Kollateralschaden?

von Milena Rampoldi, ProMosaik, 15. April 2020. Das Coronavirus trifft vor allem Italien sehr hart. Die Ausgangssperren sind verhängt, die gesamte Nation lebt eingesperrt in den vier Wänden. In dieser vollkommenen horizontalen Segregation nehmen die Existenzängste vieler Menschen zu, vor allem wenn man das Coronavirus und seine Folgen auf die schon geschwächte Wirtschaft des Landes betrachtet. Die Produktion ist gelähmt, es gibt Massenentlassungen, Menschen werden ihre Wohnungen kündigt, weil sie zahlungsunfähig ist. Ein Teufelskreis, der nicht auf das Corona, sondern auf die Kollateralschäden der Ausgangssperren und der vollständigen Lähmung der Wirtschaft und auf die vollkommene Taubheit der Regierung für die Sorgen und Probleme der Menschen geht. Und die Anzahl der Selbstmorde steigt in allen Altersgruppen.


-Wie weit sind wir im Tunnel?
Welcher Tunnel? Wir sind im kleinen Flur zwischen dem Schlafzimmer und der Küche.
Zeichnung von Mauro Biani

Menschen werden psychisch krank. Sie entwickeln Phobien. Sie bekommen Depressionen, weil ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Materielle Armut und psychische Krankheit, berufliche Perspektivenlosigkeit und soziale Abriegelung von den eigenen Freunden, Familienmitgliedern, Mitstreitern und Bekannten sind oft miteinander verwoben.
Der Zwang zu Hause zu bleiben, wenn mal bald kein Zuhause mehr hat oder bereits aus der Mietwohnung ausgezogen ist, die man nicht mehr zahlen kann, führt viele in einen Tunnel der absoluten Hoffnungslosigkeit. Dazu kommt der Verlust der Arbeit, der vor der Wohnung oder nach der Wohnung erfolgt, wobei es dabei nicht mehr auf die Reihenfolge dieser schicksalhaften Ereignisse ankommt, gegen die man nichts unternehmen kann, außer im sogenannten „Zuhause“ zwischen Sofa, Computer, Fernseher und Bett zu bleiben. „Körperlose“ virtuelle Kontakte und Online-Strategien werden als das „Unwahre“ und „Nicht-Wirklich-Menschliche“ enttarnt. Denn der Mensch ist ein Körper, ein Leib, der sozial und politisch lebt, denkt und handelt.
Und der Suizid ist die Zerstörung des Leibs und somit des „Hauses“ unserer Seele in einem Akt der vollkommenen Verzweiflung.
Seit dem Coronavirusausbruch und den extremen Notstandmaßnahmen der italienischen Regierung ist die Anzahl der Selbstmorde im Lande extrem gestiegen. Einige Beispiele aus einem Zeitungsbericht vom „Libero Quotidiano“ vom 9. April 2020:
Sanae und Bouchra sterben gemeinsam, indem sie sich von der Fähre, die von Punta Sabbioni zum Lido von Venedig führt in die Lagune werfen. Mögliche Ursache ihres gemeinsamen Suizids ist die Perspektivenlosigkeit im Beruf und die Wahrnehmung der Aussichtslosigkeit der eigenen Existenz.
Vier Menschen bringen sich in Pisa um. Auch hier sind die Gründe in den Depressionen aufgrund der Coronakrise zu suchen. Menschen fühlen sich alleine gelassen. Sie verlieren alles. Keiner hört ihnen zu in ihrer Segregation. Außerdem geht es den anderen genauso. Oder sie leiden darunter, weil sie einen geliebten Menschen verloren haben, der infolge des Virus verstorben ist.
Letzte Woche stürzte sich ein 25-jähriger Migrant aus Senegal in Mailand aus dem Fenster seiner Wohnung. Er hatte einen Anruf von seinem Arbeitgeber erhalten, der ihn aufgrund des Umsatzrückgangs in die Kurzarbeit versetzt hatte. Die Nachbarn hatten ihm zugerufen, er sollte es nicht tun, aber er knallte auf den Asphalt des Hofs.
Ein 29-jähriger nahm sich in Turin mit einem Strick im Treppenhaus des Hauses das Leben. Auch hier: berufliche Perspektivenlosigkeit infolge der Covid-19-Maßnahmen des italienischen Staates.
Infolge der Zwangsquarantäne nehmen sich immer mehr Menschen das Leben. Auch die Familiendramen nehmen zu. In Rho, in der Nähe von Mailand, erschießt ein 38jähriger Mann die Ehefrau und bringt sich dann selbst um. Zwei Schwestern bringen sich in der Nähe von Avellino gemeinsam im Haus um.  Ein 55-jähriger Mann springt in der Nähe von Monza vom dritten Stock. Im März bringen sich zwei Krankenschwestern aufgrund des Leidensdrucks um, so viele Sterbende in der Intensivstation zu erleben.
In Savona springt ein Großvater vom Balkon. Er ist verzweifelt, einsam und sieht keine Perspektive mehr, weil er seinen Enkel nicht sehen darf. Und dieser alte Mann ist kein Einzelfall in seiner Altersgruppe. Im Seniorenalter sind es die Depressionen und Ängste als Folgeerscheinungen der Quarantäne, die zu suizidalen Akten führen.
Die Beispiele zeigen, dass die steigende Anzahl der Selbstmorde auf viele Gründe zurückzuführen ist, die aber alle mit den Covid-19-Zwangsmaßnahmen des Staates zusammenhängen.
Diese Kollateralschäden darf ein Staat nicht in Kauf nehmen. Die Quarantänemaßnahmen und Ausgangsverbote müssen dringend gelockert werden. Es braucht eine Kultur der Achtsamkeit, des sog. Social Distancing (damit wird „Physical Distancing“ eigentlich gemeint), der Hygienemaßnahmen und der Empathie. Es braucht keine Zwangsmaßnahmen, mit denen man die Wirtschaft an die Wand fährt, Menschen in Massen in die psychische Krankheit treibt, weil man sie ent-leibt und in eine virtuelle Ausgrenzung führt.