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Schulseelsorger übt Kritik an Abschiebung aus Schulen “Aufstehen im richtigen Moment”

von domradio, 2. Juni 2017. 300 Berufsschüler haben diese
Woche gegen die Abschiebung eines Mitschülers protestiert. Der Polizeieinsatz
eskalierte. Jede Integrationsarbeit werde so zunichte gemacht, kritisiert der
Frankfurter Schulseelsorger Hans-Christoph Stoodt.
domradio.de. Auch an Ihrer Schule sind viele Schüler aus
Afghanistan von Abschiebung bedroht. Wenn Sie solche Nachrichten hören: Empört
Sie sowas?

Dr. Hans-Christoph Stoodt
(Schulseelsorger an der Philipp-Holzmann-Schule in Frankfurt):
Ich finde das völlig unglaublich. Wir haben an die
100 Schüler an der Schule, die ganz grundsätzlich von Abschiebung bedroht sind
und 19 Fälle, wo Abschiebung direkt droht. In einem Fall wäre es beinahe
so weit gekommen. An unserer Schule sind 2800 Schülerinnen und Schüler, und wir
sind eine von 17 Berufsschulen in Frankfurt. Also, das ist wirklich ein
drängendes Problem.
Mich empören Abschiebungen aus
Schulen deswegen, weil Schulen erstrangige Orte der Integration und
Vertrauensbildung sind. Und wenn solche Orte aus Sicht der Schüler als
Sammelpunkt für mögliche Abschiebungen angesehen werden, dann wird jede Form
von Prävention, von Integrationsarbeit, von Heilung verwundeter und verletzter
Menschen kaputtgemacht. Das geht nicht! 

domradio.de: Müssen Sie eigentlich kooperieren, wenn die
Polizei kommt? Müssen Sie dann sagen, der betreffende Schüler ist gerade im
Matheraum oder beim Sport?

Stoodt: Ich bin evangelischer Pfarrer und sozusagen vom
Land hilfsweise angestellt in der Schule. Ich muss gar nichts, denn ich habe
keinen Eid auf die Verfassung geschworen, sondern bin auf die Bibel vereidigt.
Und ich würde selbstverständlich nicht kooperieren in einem solchen Fall. Ich
gehe auch davon aus, dass an unserer Schule in einem solchen Fall – aus dem
Bauch heraus – ähnlich gehandelt würde wie in Nürnberg. Ich kann Ihnen das
deswegen so sagen, weil wir gestern eine Sitzung der Schülervertretung
abgehalten haben, in der auch über diesen Fall gesprochen wurde. Außerdem habe
ich in den letzten beiden Tagen dreimal das Spiegel-Online-Video mit den
Nürnberger Vorgängen vorgeführt – auch als ein Beispiel für ethisches
Verhalten.
Natürlich müssen Schüler lernen,
dass es wichtig ist, dass es Regeln und Gesetze gibt. Es ist auch wichtig, dass
es die Polizei gibt. Das ist alles ganz unbestritten. Aber sie müssen auch
lernen, dass man im richtigen Moment dagegen aufstehen muss, wenn – wie Jesus
gesagt hätte – nicht mehr die Regeln für die Menschen, sondern plötzlich
die Menschen für die Regeln da sind. Das geht nicht, das können wir uns nicht
erlauben! Und deswegen haben diese Schüler in Nürnberg was ganz
Wunderbares gemacht. Bei mir würden die alle eine Eins kriegen
in Sozialverhalten. 

domradio.de: Also sozusagen ziviler Ungehorsam?

Stoodt: Ziviler Ungehorsam, der  – wenn man es sich
mit ein bisschen Abstand betrachtet – eigentlich viel näher an den Werten des
Grundgesetzes und auch an den Werten des Evangeliums ist, als das Verhalten der
Polizei. 

domradio.de: Auch in Duisburg gab es diese Woche den Fall einer
Abschiebung. Da mussten am Ende sogar ein Arzt und ein Seelsorger in die Klasse
gerufen werden. Was bedeutet es eigentlich für die Mitschüler, wenn sie solche
Aktionen miterleben?

Stoodt: Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer Klasse,
in der Leute sind, die sie zum Teil schon jahrelang kennen. Ich habe solche
Klassen, in denen auch afghanische Schüler sind – einige kenne ich seit
drei Jahren und habe mich mit daran beteiligt, ihnen deutsch beizubringen. Und
jetzt werden diese Schüler aus einer Klasse rausgeholt. Und dann sitzt da ein
Schüler aus dem Kosovo mit dabei, der durchaus auch abgeschoben werden könnte.
Was glauben Sie, was in dem vorgeht, wenn er erlebt, wie ein afghanischer
Schüler abgeholt werden würde? Das wird hoffentlich in unserer Schule
nie passieren! 
Und es ist nicht nur für die
schlimm, die sozusagen potentiell von Abschiebung bedroht sind, sondern auch
für alle anderen. Es ist so, wie wenn in einer Familie plötzlich ein
vernichtender, schrecklicher Streit ausbricht, und alle sind völlig entsetzt
darüber, dass sowas in der eigenen Familie möglich ist.
Das, was Schule ist – ein Ort der
Vertrauensbildung – das würde mit einem Schlag sehr nachhaltig im Bewusstsein
der Schülerinnen und Schüler zerstört, wenn es zu einer solchen Situation käme.
Wenn sowas passiert, dann brauchen diese Schüler psychologische Betreuung und
auch Seelsorge. Denn sowas bleibt denen nicht in den Kleidern stecken. Das
prägt ihr Bild von dieser Gesellschaft und von diesem Staat in einem ganz
anderen Ausmaß und viel tiefer als alle Bemühungen, die wir uns in der Schule
haben machen können und müssen. Es ist ganz schrecklich, wenn sowas
passiert! 

domradio.de. Wie gehen Sie denn eigentlich als Seelsorger damit
um, wie spenden Sie Trost? Geht das überhaupt? 

Stoodt: Zum Glück bin ich ein einer solchen Situation – was
Abschiebung angeht – noch nicht gewesen. Wir haben hier in Frankfurt eine
solche Situation noch nicht gehabt, aber in einem nicht weit entfernten
Nachbarort ist das passiert. Leider in diesem Fall – anders als in Nürnberg –
ohne großen Widerstand der Schule. Aber das war auch schon im Januar. Ich
glaube, es gibt da eine aufsteigende Linie von Selbstverständlichkeit, dass man
sich gegen sowas wehren würde.
Ich arbeite jetzt schon in
unserer Schule an dieser Situation, indem ich immer wieder mit Schülerinnen und
Schülern darüber rede und das mit ihnen im Kopf durchspiele: Was machen
wir denn, wenn sowas an unserer Schule passiert? Und ich glaube, das ist
ein wichtiger Punkt, mit einer solchen Situation aktiv umzugehen und sich damit
auseinanderzusetzen: Was mache ich? Welche Möglichkeiten und Optionen gibt es
überhaupt? Was sagt der Lehrer dazu? Was sagen die anderen Mitschülerinnen
und Mitschüler dazu?
Und wenn ich in die Situation käme, Trost spenden zu müssen, gibt es eine große Zahl von erprobten
Möglichkeiten schulpastoraler Art. Das reicht bis hin zu Schulgottesdiensten.
Aber wichtig ist natürlich in allererster Linie die individuelle Seelsorge und
Beratungsarbeit mit den Betroffenen und den unmittelbaren Angehörigen. Denn
sowas betrifft ja immer ein Netzwerk von Menschen.

Das Interview führte Ina
Rottscheidt.
(dr)