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Eine Musikschule in Gaza nutzt Mozart und Fairuz zur Verarbeitung von Kriegstraumata


Ahmed Alkabariti أحمد الكباريتي


Übersetzt von 
Ellen Rohlfs  – 
Milena Rampoldi 

Herausgegeben von 
Fausto Giudice 

Direkt
außerhalb eines Gebäudes im  Stadtteil Tal al-Hawa in Gaza versammelt
sich eine Gruppe junger Leute unter einem Fenster, um die schöne
klassische Musik zu hören,  die  aus einem Fenster ein  paar Meter über
ihnen kommt.
 

Das Fenster gehört zu einer kleinen Wohnung, die als bescheidene
Musikschule genutzt wird und infolge der stundenlangen Stromsperren in
Gaza  ohne richtige Beleuchtung geführt wird. Die Musik spielt Raslan
Ashour, 16,  der gerade Mozarts Exsultate,  Jubilate auf der Trompete
übt.

Als er eine andere Melodie zu spielen beginnt,  beobachtet seine
Lehrerin, Natasha Radawn ihn aus der Nähe und lächelt.  „Seine Leistung
ist trotz kleiner Fehler viel besser als vorher“, meint sie.

Ashours Leidenschaft, orientalische und westliche, klassische Musik
zu lernen, wurde von seiner Mutter nicht so gern gesehen, die meinte,
ihr Sohn solle etwas  Sinnvolleres lernen, wie z.B  Management, um wie
sein Vater im Modegeschäft zu arbeiten.

„Mein Vater ist derjenige, der mir die Trompete  kaufte. Ich habe
einen Traum,  dass ich einmal einen Taktstock vor einem Orchester
schwinge. Warum nicht? Ich würde gern so eine Person sein“, teilte
Ashour Mondoweiss mit.

Raslan Ashour

Die Gaza-Musikschule entstand 2008 als Teil des Edward Said
nationalen Musikkonservatoriums und wurde noch am Ende desselben Jahrs
vom Krieg beschädigt. Said errichtete die Hauptstelle des
Musik-Instituts in Jerusalem unter dem Slogan: heute ein Orchester,
morgen ein Staat.  „Der Staat besteht nicht aus Steinstraßen und
Gebäuden oder Wirtschaft. Der Staat ist Kultur“, sagte Suhail Khoury,
Direktorin des  Konservatoriums,  in einer Erklärung von 2014.

Musikerziehung ist im Gazastreifen nicht üblich, aber jetzt
versammeln sich fast 190 eifrige Studenten und Studentinnen in dem
Räumen dieser Schule. Viele hoffen,  dass ihre  Instrumente ihnen helfen
werden, von dieser turbulenten Situation  des belagerten Gazastreifens
in eine völlig andere Welt zu gelangen.


Kuzam Hejjo

In einem der Räume hält Kuzam Hejjo, 11, ihr Cello, während sie
versucht, Tschaikowskys „ Nussknacker“ von einem  alten Notenblatt zu
lesen, das von ihrer Lehrerin aus Russland  nach Gaza  nach ihrer
Eheschließung mitgebracht wurde.

„Ich stelle mich vor, ich sei eine echt kleine Person, die durch die
Musik gehen kann und auf ihre Saiten rumzuspringen anfängt, wie Barbie
Mariposa im Zeichentrickfilm“, sagte sie Mondoweiss.

Hejjos Eltern glauben, es sei an der Zeit, dass sie ihren Studien 
mehr Aufmerksamkeit schenkt oder sich  einem Sport-Club  anschließt.
Über die Hälfte der Schüler verlassen die Schule vorzeitig und schlagen
andere Wege ein. Viele denken auch, dass es bei dieser politischen
Situation im Gazastreifen nicht die richtige Zeit für Musik ist.

„Diese Instrumente und die Kunst der Musik im allgemeinen sind ein
Teil des Krieges in Palästina, und sie spielen eine große Rolle, die
nicht geringer als die der K47-Kugeln ist“, erzählt Yelina Lidawi, 28,
eine Musiklehrerin aus Nordossetien. „ Die Musik ist ein Teil des 
historischen Volkserbes und des historischen Kampfes“, fügt Lidawi
hinzu.

Bilder von berühmten westlichen und arabischen Komponisten und Musikern hängen in der Schule

Aber Samy Rabah, 15, gehörte zu denjenigen, die die Schule verließen,
nachdem er von den Freunden gehänselt wurde, als er auf Facebook ein
Foto teilte, auf dem er Gitarre spielte. „Ich wurde mit dieser Hänselei
einfach nicht fertig. Das Ganze erschien mir doof, und so dachte ich,
dass ich mich wegen dieser Gitarre schämen musste“, meinte er.

Nachdem er die Musikschule verließ, schloss sich Rabah einem
Jugendtrainingscamp an, das von der Hamas organisiert wurde. Er gehörte
zu den 30.000 Jugendlichen, die sich diesen Camps anschlossen, um einige
Wochen im Sommer hart zu trainieren. Rabahs Vater, der einen kleinen
Lebensmittelladen führt, meinte: „Die Befreiung Palästinas braucht keine
Musik und keine Trommeln. Denn Israel ist immer gut darin, die
Kriegstrommeln ertönen zu lassen und uns jederzeit anzugreifen.“

Die turbulente Atmosphäre des Krieges und des Elends hat Narben bei
den Kindern von Gaza hinterlassen. Sameer Zaqout, ein Psychologe des
Gaza Community Mental Health Programme, berichtet, dass 73 Prozent der
Kinder in Gaza an Verhaltens- und psychischen Störungen leiden, während
600.000 Menschen verschiedene psychologische Dienste in Anspruch nahmen.

Zaqout fügte hin, dass diese Art von Atmosphäre, die Jugend mit der
Unterstützung der Eltern dazu führt, sich den Trainingscamps
anzuschließen, als handle es sich dabei um eine Art von Rache, um dem
Eindruck von Niederlage zu entgehen und die Gefühle von anhaltendem
Verlust  zu überwinden.

Dagegen verhält sich Haiyfa Abu Shamlah, 13, unter diesen Umständen
anders und geht weiter zur Musikschule. Mit ihrer Geige spielt sie ein
berühmtes Lied über Palästina der legendären libanesischen Sängerin
Fairuz mit dem Titel „Ich werde Palästina nie vergessen“.

Ihre Eltern ermutigen sie, wann immer es für sie möglich ist,  Musik
zu machen, auch anlässlich der Familienfeste. „Musik bedeutet, andere
froh zu stimmen. Ja, ich denke, dass sogar diejenigen, die anderen Leid
zufügen und die  töten und zerstören, nichts dagegen hätten, mit Musik 
Momente der Freude und des Glücks zu erleben“, meint Abu Shamlah.

Die Art des Glücklichseins, die sie wünscht, ist wegen der begrenzten
finanziellen und technischen Möglichkeiten er Musikschule nicht leicht
zu erreichen. Der Mangel an ausreichenden  Musikausbildungsprogrammen an
den Universitäten in Gaza fordert die Zukunft der Musikerziehung schwer
heraus und gefährdet die Ausweitung und das Heranwachsen einer
Generation von Musikliebhabern in Gaza.


Geigenunterricht
Alle Fotos sind von Mohammed Asad