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Der kritische Journalismus ist nicht tot

Von Roman Berger, Infosperber, 04.
Jan 2017 – 360 Journalisten sind in Russland seit 1990 ums Leben gekommen.
Sie haben Missstände aufgedeckt oder waren zu kritisch.
Bürgerprotest gegen die Schliessung des unabhängigen Fernsehsenders TV2 in Tomsk
Es
wurde ruhig im Moskauer «Haus der Journalisten», als die Teilnehmer einer
internationalen Medienkonferenz ihrer getöteten russischen KollegInnen
gedachten. An der jedes Jahr abgehaltenen Gedenkfeier anwesend waren auch
zahlreiche Verwandte der ermordeten Journalisten. Deren Portraits sind als
Fotogalerie ausgestellt. Darunter auch die im Ausland bekannte Anna
Polytkowskaya, die für die Zeitung «Novaya Gazeta» über die
Tschetschenienkriege berichtet hatte und am 7. Oktober 2006 in Moskau erschossen
wurde. Polytkowskayas Killer wurden verurteilt, ihre Auftraggeber blieben bis
heute straflos.
Wichtige
Informationsquellen
Im
Ausland kaum bekannt sind zahlreiche JournalistInnen, die in der russischen
Provinz ihr Leben lassen mussten. Sie haben korrupten Bürokraten und Clans auf
die Finger geschaut oder waren einfach unbequem. Davon profitierten auch wir
Auslandskorrespondenten. Bei Reportagenreisen gehörte der Besuch auf der
Redaktion der lokalen Zeitung zum Pflichtprogramm. Wer ist besser informiert
als die ortsansässigen Journalisten?
Es ist
leicht, russische Journalisten wegen Unterwürfigkeit oder Selbstzensur zu
kritisieren. Auslandskorrespondenten kommen und gehen. Russische Journalisten
hingegen bleiben. Sie müssen ihre Familien ernähren, haben Angst, ihren Job
oder gar ihr Leben zu verlieren, wenn sie mit ihren Recherchen zu weit gehen.
Hoffnungen
auf Digital-Journalismus
Solche
Erinnerungen beschäftigten mich an einer Medienkonferenz in Moskau zum Thema:
«Gefahren und Möglichkeiten für regionale Medien im Digitalzeitalter». Auch dem
russischen Journalismus machen sinkende Auflagenzahlen, immer weniger Werbung
und Konkurrenz durch neue Medien zu schaffen. Dazu kommen staatliche Versuche,
das Internet zu kontrollieren.
Aber
die Digitalisierung eröffnet auch Chancen. «Gerade auf Facebook und Twitter
sind kritische Journalisten sehr aktiv», berichtet Galina Arapova, die als
Juristin für Medienrecht ein in ganz Russland beachtetes Beratungszentrum in
der Stadt Woronesch aufgebaut hat. Über die sozialen Medien gebe es auch
Content-Kooperationen. Dank digitalisierten Newsrooms existiere heute die
Möglichkeit, über Ländergrenzen hinweg zusammenzuarbeiten.
Populärer
Fernsehsender TV2 geschlossen…
Vom
Ausland kaum beachtet war bis vor kurzem der regionale Fernsehsender TV2 in der
sibirischen Stadt Tomsk. Während mehr als 20 Jahren galt er als ein Garant für
unabhängigen Journalismus und wurde deswegen manchen Leuten ein Dorn im Auge,
unter anderem dem Gouverneur von Tomsk. Davon berichtete an der Konferenz in
Moskau der Chefredaktor von TV2, Viktor Muchnik. Auch Demonstrationen zur
Unterstützung des populären TV-Senders konnten nicht verhindern, dass TV2 von
der staatlichen Medienaufsicht Roskomnadsor Anfang 2015 geschlossen wurde.
…und
wieder in Betrieb
Muchnik
aber gab nicht auf und klagte vor Gericht für eine neue Lizenz. Ein in Moskau
ansässiges Schiedsgericht befand nach mehreren, von Roskomnadsor erzwungenen
Verschiebungen, die Schliessung des Senders sei illegal. Das Gericht zwang die
Aufsichtsbehörde, die Lizenz zu verlängern. Dieses Urteil erfolgte am 20.
Dezember, wenige Tage nach dem Ende der Konferenz in Moskau. Der Erfolg für TV2
ist zweifellos auch ein Beweis dafür, dass in Russland die Gewaltentrennung in
gewissen Fällen trotz allem funktioniert.
An der
von der Europäischen Föderation der Journalisten (EFJ) und der Russischen
Journalistengewerkschaft (RUJ) organisierten Konferenz in Moskau gab auch eine
kürzlich vom Europaparlament angenommene umstrittene Resolution zu reden. Sie
hat sich auch mit der Mediensituation in Russland befasst. Die Resolution
verurteilte «gegen die EU gerichtete russische Propaganda» und und rief die
EU-Mitgliedstaaten auf, «Projekte der Gegenpropaganda» zu unterstützen.
«Rückfall
in den Kalten Krieg»
Die
EFJ ihrerseits kritisierte den Resolutionstext als «Rückfall in den Kalten
Krieg». Es sei unverantwortlich, russische Medienorganisationen auf die gleiche
Stufe wie Terrorgruppen oder den Islamischen Staat zu stellen. Es sei falsch,
wenn man glaube, auf russische Propaganda könne mit Gegenpropaganda reagiert
werden.
Die
EFJ hielt weiter fest, im Resolutionstext werde erwähnt, dass zur Zeit in
Russland, in der EU und im übrigen Europa insgesamt 127 Journalisten inhaftiert
seien, ohne die Türkei zu nennen. Fakt sei, so die EFJ, dass in Russland zur
Zeit ein Journalist im Gefängnis sitze, während 121 in der Türkei hinter Gitter
seien. Die Verfasser der Resolution, so mahnt die EFJ, hätten es unterlassen,
sich von der wichtigsten Journalisten-Organisation in Europa, beraten zu
lassen.
Klartext
sprach die Vize-Präsidentin der EFJ und Mitglied der Russischen Journalisten
Gewerkschaft, Nadezda Azhgikhina: «Ich bin zur Zeit des Kalten Krieges
aufgewachsen. Damals versuchten Journalisten aus Ost und West
zusammenzuarbeiten für eine Zukunft ohne Zensur, Hass und Stereotypen. Wir
verstanden, wir kommen von verschiedenen Kulturen, aber wir glaubten an den
Journalismus als ein öffentliches Gut. Heute versuchen viele
Entscheidungsträger, die Medien als politische Instrumente zu benützen. Der
einzige Weg, um Hass und Medienmissbrauch zu überwinden, ist die Förderung von
Qualität und verantwortungsvollem Journalismus.»
Wo
sich die EU nicht an Sanktionen hält
Die
Konferenz in Moskau war das vierte Treffen im Rahmen einer Reihe, die von der
EU initiiert und finanziert wurde mit dem Ziel, den Dialog zwischen
Journalisten in der EU und Russland zu fördern. Die erste Tagung fand in London
statt, gefolgt von weiteren Treffen in St.Petersburg und Brüssel. Treibende
Kraft dieser Konferenzen war der in Moskau akkreditierte EU-Botschafter
Vygaudas Usackas. Bekannte des Diplomaten machen auf seine Herkunft aufmerksam.
Vygaudas Usackas stammt aus einer litauischen Familie, die unter Stalin nach
Westsibirien (Altai) verbannt wurde. Trotz dieser leidvollen Erfahrung sei er
ein Freund Russlands geblieben, gibt ein Beobachter zu verstehen. Es sei ihm
ein wichtiges Anliegen, gerade in diesen schwierigen Zeiten, Kontakte in
Russland und dem Westen aufrecht zu erhalten.
Auf
der grossen politischen Bühne in Brüssel oder Washington ist die Rede, die
Sanktionen gegen Russland müssten beibehalten oder gar verschärft werden.
Vielleicht wird man sich einmal an Diplomaten wie Vygaudas Usackas erinnern,
die trotz Sanktionen den Dialog zwischen Journalisten in Ost und West gefördert
und damit einen neuen Kalten Krieg verhindert haben.