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„Wir engagieren uns für den Aufbau einer großen, bewussten, kritischen und mobilisierten Basisbewegung“: Jérôme Duval von CADTM


von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Jérôme Duval ist
ein Militant des CADTM, des Komitees für die Aufhebung der Schulden der Dritten
Welt. Das Komitee wurde 1990 in Lüttich in Belgien gegründet und ist heute zu
einem internationalen Netzwerk herangewachsen. Der CADTM hat im Besonderen am
Audit der öffentlichen Schulden in Ecuador und an der parlamentarischen
Kommission für die Wahrheit über die griechischen Staatsschulden teilgenommen.
CADTM gehört auch zu den Bewegungen gegen die verhassten Schulden in
zahlreichen Ländern. Ich möchte mich bei Herrn Duval herzlichst für seine
Antworten bedanken. Ende April diesen Jahres findet in Tunis die internationale
Konferenz des CADTM statt.

Welche sind die wichtigsten
Zielsetzungen des CADTM?

Wie in unseren
Gründungstexten festgelegt, verpflichtet sich das CADTM, sich für eine
gerechtere Welt einzusetzen, in der die Souveränität der Völker, die soziale
Gerechtigkeit und die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern geachtet
werden. Die Arbeit des CADTM fokussiert auf die Hauptarbeit hinsichtlich des
Schuldenproblems und setzt Initiativen um und erarbeitet radikale Initiativen,
die darauf abzielen,
eine
Welt im Sinne der Souveränität, Solidarität und Kooperation zwischen den
Völkern, des Naturschutzes, der Gleichberechtigung, sozialen Gerechtigkeit und
des Friedens zu gestalten. Dem CADTM geht es darum, die dämonische Spirale der
untragbaren Verschuldung sei es im Norden als auch im Süden der Welt zu beenden
und sozial gerechte und umwelttechnisch tragbare Modelle zu entwickeln.   

Die Schulden sind Teil eines
Systems, das man als Ganzes bekämpfen muss. Aber für das CADTM ist die
Aufhebung der unrechtmäßigen Schulden aber kein Selbstzweck. Es handelt sich um
eine notwendige, wenn auch unzureichende Voraussetzung, um den menschlichen
Bedürfnissen und Menschenrechten zu entsprechen. Man muss somit diesen Schritt
notwendigerweise überschreiten, indem man radikale Alternativen umsetzt, um die
Menschheit von allen Formen der sozialen, patriarchalen, neokolonialistischen,
ethnischen, Kasten-, kulturellen, sexuellen und religiösen Unterdrückung zu
befreien.

Können Sie unseren Leserinnen und
Lesern den Begriff der „unrechtmäßigen Schulden“ erklären?

Die unrechtmäßigen Schulden sind kein
technischer, sondern ein politischer Begriff. Unrechtmäßige Schulden sind
Schulden, die den Interessen der Bevölkerung widersprechen und die diese somit
nicht tilgen muss. Die Kommission
über die Wahrheit über die griechische Schulden,
die vom Präsidenten des griechischen Parlaments Zoé Konstantopoulou gegründet wurde, um die widerwärtigen,
illegalen, unrechtmäßigen und untragbaren Aspekte der griechischen Staatsschulden
zu erklären, definiert diesen Begriff wie folgt:
 

„Unrechtmäßige
Schulden sind Schulden, zu deren Tilgung der Schuldner nicht gezwungen werden
kann, weil das Darlehen, die finanziellen Titel, die Garantie oder die Fristen
und Bedingungen (sei es auf nationaler als auch auf internationale Ebene)
unrechtmäßig sind oder dem allgemeinen Interesse widersprechen; oder weil diese
Fristen und Bedingungen offensichtlich auf irgendwelche Weise ungerecht,
übertrieben, missbräuchlich oder unakzeptabel sind
; oder weil die Bedingungen des Darlehens oder
seiner Garantie politische Maßnahmen beinhalten, die gegen die staatlichen
Gesetze oder Menschrechtsstandards widersprechen; oder schließlich, weil das
Darlehen oder seine Garantie nicht zu Gunsten der Bevölkerung verwendet wird
oder, aufgrund des Gläubigerdrucks, das Produkt einer Verwandlung eines privaten
(oder gewerblichen) in ein staatliches Darlehen ist.“

Es sei darauf hingewiesen, dass diese
Definition auf den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechtes basiert. Auf
diesem Begriff basieren zahlreiche soziale Bewegungen, die die Nichtzahlung
jeglicher unrechtmäßiger Schulden fordern. Diese Schulden stellen einen
Großteil der Schulden unserer Staaten dar, im Namen derer die öffentliche
Gewalt antisoziale Sparmaßnahmen ergreift.

Welche sind die Hauptaspekte der
kollektiven Unterdrückung?

Wir leben in einer Welt voller Kriege für
die Aneignung natürlicher Ressourcen und Land, in der die Jagd nach Profit für
wenige zu Ungunsten aller anderen vorherrscht. Diese Welt verursacht zunehmende
Ungleichheiten und Ausschlüsse, Kriege und Hungersnöte. Diese Welt basiert auf
der systematischen Ausbeutung unserer Arbeitskraft, auf der Manipulierung des
Denkens durch unser Erziehungs- und Mediensystem und auf einer physischen Unterdrückung
des Widerstandes. Diese Unterdrückung mischt sich verdeckt in unser
Alltagsleben und wird zur Norm. Beispielsweise taucht der wahre Algerienkrieg
gar nicht mehr in den französischen Geschichtsbüchern auf. Oder man spricht von
einem „Rettungsplan“ für ein Land, meint aber in Wirklichkeit die Rettung der
Privatbanken. Man beschuldigt den Bürger, der zu einem einfachen Verbraucher
geworden ist, damit er seine Energieausgaben mit Hilfe von Sparlampen
reduziert, während Videobildschirme mit übermäßigem Energieverbrauch in der
U-Bahn installiert werden, um uns mit Werbung zu überschütten. In einer Welt,
in der man die Menschen dazu anspornt, viel zu viele überverpackte Waren zu
verbrauchen, verlangt man gleichzeitig von uns, dass wir unseren Abfall recyceln,
während die Industrienationen ihre toxischen Abfälle in die armen Länder
exportieren und man weiterhin Atomkraft, Waffen und chemische Industrie
fördert, die die Welt in eine riesige Deponie verwandeln.

Wie können sich die Völker
emanzipieren und gegen die Unterdrückung jeglicher Art kämpfen?

Ich glaube nicht an Zauberrezepte, aber
alles hängt vom sozialen und politischen Kontext und am Ende vom
Kräfteverhältnis ab, aber die Solidarität unter den Völkern und die
selbstemanzipatorische Aktion sind zwei wesentliche Faktoren. In der
kapitalistischen Welt, in der wir leben, werden die privaten Interessen durch
einen größeren Wettbewerb zwischen den Gesellschaften und den Menschen verschlimmert.
Man muss den Kapitalismus als ein destruktives und tödliches System ansehen,
das dem Leben vollständig widerspricht. In diesem System entmenschlicht und
privatisiert man alles. Vom Wasser, das unseren Durst löscht, bis zu unserer
zukünftigen Rente: alles wird zur Ware. Daher ist es wesentlich, unsere
Alltagsbeziehungen menschlich zu gestalten, das Wissen in der Gesellschaft zu
verbreiten und Erfahrungen und Widerstände zu verstärken, die sich außerhalb
der großen Mediendebatten abspielen. Man muss selbst Medien sein, um über die
zahlreichen Siege der örtlichen Kämpfe zu berichten, die von den großen
privaten Mediengruppen nicht weitergegeben oder vertuscht werden. Diese schönen,
wenn auch kleinen, Nachrichten (vergleiche beispielsweise die Webseite Bonnes nouvelles auf Französisch), stellen wir jeden Tag unter
Beweis, dass es sehr wohl Alternativen gibt. Sie arbeiten aber an der
Zerstörung des kapitalistischen Dogmas, als gäbe es keine Alternativen, ganz
nach dem bekannten Motto TINA („There is no alternative“ von Margaret Thatcher). Diesem Motto muss
ein Ende gesetzt werden. Diese vitale und subversive Information kann uns
anspornen und zusammenführen, um die Kreise der Gegner der unterdrückenden
Ordnung des Kapitalismus
zu erweitern. Natürlich ist das nicht
offensichtlich, aber wie Antonio Gramsci so schön sagte: „Man muss den Pessimismus der Intelligenz mit dem Optimismus
des Willens verbinden“.
Man muss die dauernd missbrauchten Worte erneut aufnehmen, um sich an
das System anzupassen, das wir bekämpfen, um zu sprechen, zu gestalten,
gemeinsam Widerstand zu leisten und letzten Endes, um in der Gegenwart zu
leben. Die Emanzipation der Völker verläuft über ihre Bewusstseinsbildung als
Klasse, über ihre Vereinigung als „Klassenvolk“ der 99% gegen die 1%, die es
ausbeuten. Aber die Bewusstseinsbildung kann nicht erfolgen, ohne das Wort auch
in die Tat umzusetzen.
 

Erzählen
Sie uns vom CADTM-Netzwerk.
 

1989 wurde in
Paris der „Appel de la Bastille“ ins Leben gerufen. Dieser geht von der
Prämisse aus, dass „nur die Solidarität der Völker die Macht des
wirtschaftlichen Imperialismus erschüttern kann“.
Dieser Appell fordert die
Zusammenführung aller Basiskräfte weltweit, um sich für die sofortige und
bedingungslose Aufhebung der Schulden der sogenannten „Entwicklungsländer“ einzusetzen.
Als Reaktion auf diesen Appell wurde am 15. März 1990 in Belgien das Komitee Comité
pour l’Annulation de la Dette du Tiers Monde (CADTM) gegründet. Heute ist CADTM
International ein Netzwerk, das aus dreißig Organisationen besteht, die in mehr
als 25 Ländern, verteilt auf 4 Kontinente, tätig sind. Jede drei Jahre hält das
CADTM, um seine internationale und kontinentale Arbeit koordinieren zu können,
seine internationale Versammlung ab. Die nächste
Versammlung findet vom 26. bis 30. April 2016 in Tunis statt. RAID ATTAC
Tunisie, ein Mitglied des Netzwerkes, hat vorgeschlagen, die Weltversammlung
des CADTM in Tunesien aufzunehmen, da sich die marokkanischen Behörden
geweigert hatten, ihre Genehmigung, wie ursprünglich geplant, für die
Organisation dieser internationalen Tätigkeiten in Marokko zu erteilen.1
Durch die Verweigerung Marokkos, die Anträge in den Städten von Ait Melloul und
Bouznika entgegenzunehmen, hat sich das Land für den antidemokratischen Weg entschieden.
Zu diesem Verbot, das für ein totalitäres Regime steht, kommen die dauernden
Einschränkungen der Tätigkeiten des Vereins ATTAC CADTM Maroc und die
Verweigerung, die gesetzliche Bescheinigung zu erneuern, damit der Verein seine
Tätigkeit auch rechtmäßig fortsetzen kann.

Die
internationale Tagung des Netzwerkes ist ein wichtiger Moment des Komitees, an
dem man gemeinsam über den Beitritt neuer Mitgliedorganisationen entscheidet.
Wir werden zweifelsohne auch eine Änderung des Namens der Organisation
vorschlagen, da „Dritte Welt“ nicht mehr nur den entfernten Süden umfasst,
sondern überall auf dem Planeten verbreitet ist, angefangen von Griechenland
und der Ukraine in Europa. Wir arbeiten auch intensiv in den Ländern des
Nordens und achten beispielsweise im Besonderen auf die neuen sozialen
Bewegungen, die diese Schulden überprüfen möchten, um die Zahlung wie in
Spanien zu verweigern. Wir werden auch unsere Arbeit an der Prüfung der
griechischen Schulden fortsetzen. Denn es gibt keine entwickelte Welt und auch
keine unterentwickelte Welt, aber eine einzige schlecht entwickelte Welt, so CETIM.2

Für das CADTM
gilt die Verstärkung der sozialen Bewegungen als prioritär. Es nimmt in einer
internationalen Perspektive am Aufbau einer breiten Basisbewegung teil, die
bewusst, kritisch und mobilisiert ist. In der Überzeugung der Notwendigkeit der
Zusammenführung der emanzipatorischen Kämpfe, unterstützt das CADTM
International alle Organisationen und Koalitionen, die sich für die
Gleichberechtigung, soziale Gerechtigkeit, den Naturschutz und den Frieden
einsetzen.  

Es sieht so aus, als würden sie von
den weltweit größten Schulden, den US-Schulden in Höhe von 18.000 Milliarden,
nie sprechen. Wie kommt das?

Die Schulden der USA wurden erhöht, um
die Banken mit einem sogenannten „Rettungsplan“ aus einer Schuldenfalle von
mehr als 3.300 Milliarden Dollar zwischen 2008 und 2013 zu retten. Dieselben
Banken haben seit 2005 mehr als 14 Millionen Familien aus ihren Häusern
vertrieben. Dies bedeutet, dass sich die Schulden der USA sehr stark von den
Schulden der anderen Länder unterscheiden. Obwohl die USA mit mehr als 19.000
Milliarden Schulden seit Anfang März 2016 (d.h. 103% des BIP) die weltweit
verschuldetste Nation sind, sind aber die Herausforderungen nicht dieselben wie
die der anderen Länder, die durch das „Schuldensystem“ verarmen. Und dies ist
aus verschiedenen Gründen so.

Hierzu möchte ich einen kurzen Rückblick
anführen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges drängten sich die USA als der
erste Gläubiger der Welt auf. Als die wichtigste Wirtschaftsmacht des
internationalen kapitalistischen Systems kontrollieren die USA die großen
internationalen Finanzinstitutionen, die den gesamten Planeten verschulden, wie
der internationale Währungsfond und die Weltbank mit Sitz in Washington, in
denen die USA ein Vetorecht besitzen. Des Weiteren brauchen die USA keine
großen Währungsreserven, da der Rest der Welt den Dollar als internationales
Zahlungsmittel akzeptiert. Darin besteht ein anderes wichtiges Privileg der
USA.  

Außerdem gelten die Titel der
Staatsschulden bestimmter entwickelter Länder wie die US-Staatsanleihen als
Aktiva mit weniger Risiko, für die man somit leichter Abnehmer findet. Das ist
der Fall von China mit 1.240 Milliarden Dollar oder von Japan. Ein Aspekt, der
auch unzureichend bekannt ist, ist auch die große Anzahl afrikanischer Länder
und Russlands. Russland hat 2015 seine Investments erhört und ist nun der 15.
Inhaber von US-Staatsanleihen in Höhe von 92 Milliarden Dollar. Die USA sind
nur in der Lage, dieses Verschuldungsniveau von mehr als 19.000 Milliarden
Dollar, d.h. fast mehr als 10 Mal mehr als die gesamten Staatsschulden der
Entwicklungsländer (1.800 Milliarden Dollar), zu halten,  weil alle anderen Länder des Planeten den USA
Geld leihen. Solange die Staatsanleihen eine gute Bewertung von Seiten der
privaten Rating-Agenturen (Fitch Ratings, Standard & Poor’s und Moody’s3) haben, die die USA vergüten und kontrollieren, können die USA sich
weiterhin verschulden und auch ihr Defizit finanzieren.

Außerdem steht den USA die Möglichkeit
zu, von der Bundesreserve (EEF, die einer Zentralbank gleicht) Geld zu leihen. Im
Rahmen des Gesamtbetrages der Staatsschulden (in Höhe von 19.000 Milliarden)
machen 5.300 Milliarden die Staatsschulden der Regierung gegenüber der EEF aus.
Es sei darauf hingewiesen, dass diese Option innerhalb der Europäischen Union
verboten ist. In der EU wird den Mitgliedstaaten nämlich nicht gestattet, sich
Geld von ihrer nationalen Zentralbank oder von der EZB zu leihen. Somit haben
sie keine andere Möglichkeit, als das Geld zu einem hohen Zinssatz von den
Privatbanken zu leihen, die wiederum das Geld sehr günstig von der EZB
erhalten. Ein lukratives Geschäft für die Banken…

Letztendlich darf man auch nicht die
privaten Schulden der Studenten außer Acht lassen, die auf einem unbezahlbaren,
privaten Erziehungssystem. Die Schulden der US-Studenten betragen inzwischen
1.200 Milliarden Dollar. Dieser Betrag liegt weit höher als der Gesamtbetrag
der externen Staatsschulden, die sich in Lateinamerika und Afrika angehäuft
haben. Nach Studienabschluss finden sich viele arbeitslose Studenten in einer
würgenden Schuldenfalle von durchschnittliche 35.000 Dollar im Jahre 2015. Es
handelt sich um eine Schuld, die sie oft bis zum Rentenalter tilgen müssen. Die
Basisinitiative Strike Debt bringt die verschuldeten Studenten zusammen
und unterstützt sie in ihrem Kampf gegen die Banken. 

Anmerkungen

1ATTAC/CADTM Maroc, „Die marokkanischen Behörden
weigern sich, dem Verein ATTAC Maroc die Genehmigung zu erteilen, um die
internationale Versammlung des CADTM-Netzwerkes zu organisieren“, 22. März
2016. http://cadtm.org/Les-autorites-marocaines-refusent

3Diese Agenturen sind damit beauftragt, das Risiko
der fehlenden Tilgung der Schulden eines Staates, einer Region, einer Stadt
oder eines Unternehmens zu bewerten, um die Investoren zu beraten. Ein
wichtiger Hinweis: 4 Tage vor der Enron-Pleite im Jahre 2001 hatten diese
Agenturen dem Unternehmen die beste Bewertung gegeben. Dasselbe gilt für das
Unternehmen Lehman Brothers gleich vor der Krise…