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Spitäler nach Corona: «Never waste a good crisis»

Annamaria Müller / 24. Aug 2020
Nach der Covid-19-Krise sollten Spitäler nicht in alte Gewohnheiten verfallen, sondern neue Behandlungswege beschreiten.

Red. Annamaria Müller war jahrelang Leiterin des Spitalamts des Kantons Bern und ist heute Verwaltungsratspräsidentin des Kantonsspitals Freiburg. Sie zeigt sich skeptisch gegenüber Bundes- oder Kantonssubventionen an Spitäler, die während der Covid-Krise Einnahmen verloren.
In vielen Ländern ächzen Spitäler unter der Last der Covid-Erkrankungen, weil sie von Patientinnen und Patienten überschwemmt werden. In der Schweiz jedoch ächzen sie, weil sie während sechs Wochen Nicht-Lebensbedrohliches nicht behandeln und Nicht-Lebensnotwendiges nicht operieren durften. Laut Schätzungen von Spitalbenchmark und Pricewaterhouse Coopers sind 80 Prozent des prognostizierten Dreimilliarden-Lochs in den Spitalkassen dem Ertragsausfall zuzuschreiben. Hauptsächlich, weil sie auf elektive, nicht zwingende Eingriffe – die «Cashcow» der Akutbetriebe – verzichten mussten.
Theoretisch könnten diese Behandlungen in den restlichen Wochen des Jahres nachgeholt werden, doch wie mir gut unterrichtete Kassenkreise berichten, bleibt dieser Effekt weitgehend aus. Folglich werden Bund und Kantone um Geldspritzen angegangen, denn die Krankenkassen weigern sich, Leistungen zu berappen, die ihre Versicherten nicht bezogen haben.
Bundesrat Alain Berset: «Es wäre doch eine gute Nachricht
ry. «Bon, lassen Sie mich also rekapitulieren, um was es geht: Operationen, die nicht unbedingt nötig waren, mussten Anfang März verschoben werden. Seit Ende April, also seit zwei Monaten, können sie nachgeholt werden. Wo also ist das Problem? Könnte es eventuell sein, dass eine Operation, die für Ende März geplant war und bis heute nicht nachgeholt wurde, eine unnötige Operation war? … Wenn ja, wäre das doch eine gute Nachricht.»
So sehr ich, als VR-Präsidentin eines mittelgrossen Kantonsspitals, Verständnis für die betriebsökonomische Sichtweise auf die Corona-Krise habe, so bizarr mutet mich dieses Spektakel doch an. Eine Entschädigung für freigehaltene Intensivpflegeplätze oder für nicht gedeckte Covid-Kosten kann ich ja nachvollziehen. Aber für nicht implantierte Hüftprothesen? Nicht geflickte Kreuzbänder? Dringelassene Gebärmütter? Meine ärztlichen Bekannten argumentieren mit Folge- und Spätschäden verschobener oder nicht durchgeführter Behandlungen. Sie verweisen auf Studien zu «nicht covid-bedingter Übersterblichkeit» und befürchten, dass die bundesrechtlich aufgezwungene Unterversorgung diese auch in der Schweiz begünstigen könnte (Vorsichtige) oder wird (Zweckpessimisten).
Spitalbehandlung als Konsumgut
Selbstverständlich befinden sich unter den nicht durchgeführten Eingriffen auch solche, die zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben werden können. Die vielleicht nicht lebensbedrohlich sind, aber die Lebensqualität signifikant senken. Auf diese kann und soll man nicht verzichten. Es fehlt jedoch eine Studie, die aufzeigt, auf welche Leistungen man im März und April unbeschadet verzichten konnte, weil sie schlicht und ergreifend überflüssig waren.
Ich vermute jedoch, dass ein zweistelliger Prozentsatz aller damals nicht durchgeführten Behandlungen nicht nachgeholt werden müssen. Und ich vermute dazu, dass etliche der unnötigen Eingriffe im oberen Preissegment liegen, was den gesamtwirtschaftlichen Effekt noch verstärkt. Aus der Sicht eines Spitals – ganz zu schweigen vom Operateur – ist dies beklagenswert. Aber wie so oft ist eine einzelwirtschaftlich gute Sache gesamtwirtschaftlich gesehen fatal. Zudem birgt jeder medizinische Eingriff Risiken.
Studien, die auf die Gefahren einer Covid begleitenden Unterversorgung hinweisen, stammen aus Ländern, in denen das Gesundheitswesen über längere Zeit am Anschlag lief, was man von der Schweiz, vor allem der Deutschschweiz, nicht gerade behaupten kann.
Spitalbehandlungen sind keine zu konsumierende Dienstleistungen
Darum habe ich wenig Verständnis für den Aktivismus von Kantonen, die nun versuchen, Patientinnen und Patienten per Reklametafel ins Spital zu locken. Besteht der Verdacht, dass einzelne Personen aus Angst vor einer Ansteckung auf nötige Konsultationen und Behandlungen verzichten, so wäre der Weg über die zuweisende Ärzteschaft der geeignetere. Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, besonders die Grundversorger, sollen ihre Patientinnen und Patienten kennen und wissen, ob es darunter «Unterlassungssünder» hat.
Als «Gruppe der Gesundheitsinstitutionen» hingegen direkt an die Bevölkerung zu gelangen, sendet das falsche Signal. Nämlich, dass die Spitalbehandlung eine (nun wieder sicher) zu konsumierende Dienstleistung sei. Dabei sollte sie die ultima ratio der Behandlungskette sein.
Rettungsaktionen sind nicht nachhaltig
Warum liegt uns das finanzielle Wohl der Spitalbetriebe ebenso am Herzen wie das gesundheitliche Wohl der Bevölkerung? Weil unser leistungsfinanziertes Gesundheitssystem ins Stottern gerät, wenn die Maschinerie nicht läuft. Weil unsere Spitäler als (falsch verstandene) Stützpfeiler des Gesundheitswesens einknicken, wie Tundrahäuschen im schmelzenden Permafrost, wenn ihre Finanzierung aus dem Lot gerät. Und weil dies das Funktionieren des gesamten Gesundheitswesens zu blockieren droht: eine Schreckensvorstellung. Deshalb springen die Kantone eilfertig in die Bresche und sprechen unbürokratisch Millionenbeträge, um diese Einnahmenausfälle zu kompensieren. Doch sind diese steuerfinanzierten Rettungsaktionen auch nachhaltig?
Unser Gesundheitssystem funktioniert im Modus der «dynamischen Stabilisierung», wie es der Sozialwissenschaftler Hartmut Rosa nennt. Es benötigt Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung, um stabil zu bleiben, sich zu erhalten und zu reproduzieren. Man kann sich dies auch als Wettlauf in der Gegenrichtung auf einer Rolltreppe vorstellen, die, von den Läufern angetrieben, immer schneller wird. Der Einzelne muss immer schneller laufen, um seine Position nicht zu verlieren, geschweige denn ganz aus dem Rennen zu fallen. Diese, vom Wettbewerb angefeuerte «Eskalationslogik» führt jedoch früher oder später zum Kollaps des Systems: Geldkrise, Ökokrise, Sozialkrise, kollektives Burnout.
Auch wenn diese Prognose (zu) pessimistisch scheint, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die «Gesundheitskrise Covid-19» die negativen Entwicklungen begünstigt. Und zwar weltweit.
Versorgungsbereichsübergreifende, interprofessionelle Teams
Es ist kein Zufall, dass die seit Langem bestehenden Forderungen des Gesundheitspersonals nach mehr Unterstützung und Anerkennung in diesen Zeiten neuen Auftrieb erhalten. Doch im Gegensatz zum bereitwilligen Stopfen millionenschwerer Finanzlöcher von Spitälern, tut man sich schwer, den Pflegenden nebst Ovationen und Lobliedern die Anerkennung auch in finanzieller Hinsicht auszudrücken.
Und zwar nicht als Einmalprämie, sondern als deutlich spürbare, generelle Lohnerhöhung. «Nicht möglich» so der einhellige Brummton. Selbst wenn die Covid-Krise die Diskussionen um die Anliegen der Pflege belebt, ist zu bezweifeln, dass der Wunsch nach mehr Lohn und fachlicher Gleichstellung auf fruchtbaren Boden fällt. Zu kurz war die Krise, zu rasch kehrt man wieder in den Normalmodus zurück, zu sehr drängt unser Gesellschaftssystem in den «dynamischen Stabilisierungszustand» des Produzierens und Konsumierens, ohne den alles vor die Hunde zu gehen droht. Die Räder drehen sich, und wir uns mit ihnen.
Doch es gibt Hoffnung. Auch in der Krise, oder sogar aufgrund der Krise. Schonungslos zeigt Covid-19 das Aushöhlen unserer Ressourcen auf und belegt, dass unser segmentiertes, auf Spitzenmedizin und Spitzenleistung ausgerichtetes Gesundheitswesen nicht zweckmässig ist. Das Herumschieben von covid-kranken Bewohnerinnen und Bewohnern wie heisse Kartoffeln zwischen Heim und Spital, ist nur ein Beispiel unter vielen. Um zukunftsfähig zu sein, muss unser Gesundheitssystem vermehrt auf interprofessionelle Teams aus verschiedenen Versorgungsbereichen setzen, die am und mit dem (alternden, multimorbiden) Patienten und seinem Umfeld arbeiten, damit einzelbetriebliche Interessen nicht dem Gesamtergebnis schaden.
In diesen Versorgungsstrukturen kann die Behandlung optimiert werden: die «richtige» Person (gemäss Kompetenzprofil) würde die «richtige» (nötige, sinnvolle) Leistung am «richtigen» Ort erbringen,(nämlich am niederschwelligsten). Dadurch würden insgesamt weniger Leistungen «falsch» erbracht, sowohl qualitativ wie quantitativ. Überflüssige Leistungen würden sich auch nicht mehr lohnen, weil niemand damit Geld verdient. Das Personal könnte fachgerechter eingesetzt werden, nämlich dort, wo es zugunsten der versorgten Patientinnen und Patienten am meisten Wirkung erzielt. In den teamorientierten Gesundheitssettings würde es ferner keine «Grabenkriege» zwischen den verschiedenen Berufsgruppen mehr geben, da das Gesamtergebnis zählt, für das alle gemeinsam die Verantwortung tragen, auch die finanzielle.
Solche Modelle gibt es bereits. Sie heissen HMO (Health Maintenance Organization, bzw. Gesundheitserhaltungsorganisation), Gesundheitsregion, integriertes Gesundheitsnetzwerk, Healthplan (Gesundheitsplan), etc. Im Einsatz sind sie allerdings nur in anderen Ländern, in der Schweiz existieren sie primär auf Papier. Denn in der Schweiz fehlt ein wesentliches Element: die setting- und professionsübergreifende, gemeinsame Finanzierung.
Aber was nicht ist, kann noch werden. Nicht von ungefähr nennt Pricewaterhouse Coopers in ihrem jüngst veröffentlichten Bericht zur Zukunft der Versorgungslandschaft die Umgestaltung der Gesundheitsversorgung ein «Generationenprojekt».
Wenn wir das Geld, das wir während des Lockdowns für nicht erbrachte und nicht benötigte Leistungen nicht ausgegeben haben, nachhaltig einsparen würden, könnten wir allen Personen, die am Versorgungsprozess beteiligt sind, einen anständigen Lohn bezahlen. Und hätten erst noch weniger Probleme mit dem Fachkräftemangel. Und wären höchstwahrscheinlich besser gerüstet für die nächste Pandemie.