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Wie Russland den 75. Jahrestag des Kriegsendes feiert

Ein Artikel von Ulrich Heyden 

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Der Sieg über Hitler-Deutschland am 9. Mai 1945 ist immer noch einer der wichtigsten russischen Feiertage. Er wird traditionell im Kreis der Familie und in diesem Jahr wegen der Corona-Epidemie auf Wohnungsbalkons und im Fernsehen gefeiert. Von Ulrich Heyden, Moskau.


Wie wird in Russland in Corona-Zeiten der 9. Mai – der Siegestag – gefeiert? Es ist der größte politische Feier- und Gedenktag in Russland. Die traditionelle Militärparade auf dem Roten Platz sagte der russische Präsident Wladimir Putin schon am 16. April wegen der Corona-Epidemie ab. Die Parade soll später stattfinden. Doch am 9. Mai nicht zu feiern, ist für die Russen einfach unmöglich. Und so fand man Auswege.

Am 9. Mai um 10 Uhr morgens – zu der Zeit also, wenn auf dem Roten Platz gewöhnlich die große Siegesparade stattfindet – wird Wladimir Putin – so teilte es sein Sprecher Dmitri Peskow mit – das Grab des Unbekannten Soldaten an der Kreml-Mauer besuchen und dort Blumen niederlegen.
Warum in Russland nicht am 8. Mai gefeiert wird? Weil die Kapitulationsurkunde in Berlin-Karlshorst erst von dem Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht, den Oberkommandierenden der deutschen Teilstreitkräfte und dem sowjetischen Marschall Georgi Schukow unterschrieben wurde, als man in Moskau wegen der Zeitverschiebung schon den 9. Mai schrieb.
Flug-Shows in 47 russischen Städten
Die russischen Streitkräfte werden am 9. Mai – trotz Corona – Präsenz zeigen. Verteidigungsminister Sergej Schojgu kündigte an, dass am 9. Mai 75 Flugzeuge und Hubschrauber über den Roten Platz fliegen werden. Shows der russischen Luftwaffe soll es am 9. Mai in 47 russischen Städten und auf Militärbasen im Ausland geben.
Am 9. Mai abends um 19 Uhr gibt es traditionell eine Schweigeminute, die per Fernsehen übertragen wird. Danach soll es dann auf den Balkons der russischen Wohnhäuser einen großen Flashmob geben. Der 86 Jahre alte, bekannte Schauspieler Wasili Lаnowoi hat seine Mitbürger aufgerufen, am Abend des 9. Mai auf die Wohnungsbalkons zu gehen und das populäre Lied „Tag des Sieges“ zu singen.
Mit der Babuschka zum Grab des Unbekannten Soldaten
Nicht wenige Menschen in Deutschland denken, am 9. Mai in Russland gäbe es nur eine große Militärparade. Doch der Siegestag – wie er in Russland heißt – wurde und wird immer auch in den Familien gefeiert.
Ich fragte Lena, eine 58 Jahre alte, gute Bekannte, wie sie den 9. Mai in ihrer Familie feierte. Lena erzählt, dass sie die Feiern zum 9. Mai noch aus ihrer Kindheit kennt. Am 9. Mai gäbe es für sie zwei wichtige Rituale: die Schweigeminute, die abends im Fernsehen übertragen wird und ein Besuch am Grabmal des Unbekannten Soldaten an der Kreml-Mauer. „Bis heute versuche ich am 9. Mai um sieben Uhr abends zuhause zu sein. Das ist für mich sehr wichtig.“ Sie schalte dann den Fernseher ein und stehe schweigend in ihrer Wohnung.
Außerdem besucht Lena um das Datum des 9. Mai herum das Grabmal des Unbekannten Soldaten an der Kreml-Mauer. Dort erinnert sie sich an ihren Großvater, Sergej Schewtschenko, der als junger Soldat im Oktober 1941 südwestlich von Moskau gefangen genommen wurde und im Januar 1942 im deutschen Kriegsgefangenenlager bei dem Dorf Oerbke in Niedersachsen starb. Die sowjetischen Gefangenen hausten dort in selbstgegrabenen Erdhöhlen. Baracken hatte man für sie nicht gebaut. 33.000 sowjetische Kriegsgefangene starben bei Oerbke an Hunger und Krankheiten.
Bis zum Jahr 2000 ist Lena immer noch mit Maria, der Frau von Sergej Schewtschenko, zum Grabmal des Unbekannten Soldaten gegangen. „Am Grabmal des Unbekannten Soldaten kniete Maria vor dem ewigen Feuer nieder und stellte sich vor, dass in dieser Gedenkstätte ihr Mann liegt. Sie weinte still.“
Maria wusste damals noch nicht, dass ihr Mann Sergej in einem deutschen Kriegsgefangenenlager starb. Sie hoffte immer noch auf seine Rückkehr. Bis zu ihrem Tod im Jahre 2000 hat Maria nicht wieder geheiratet.
„Die besondere Stimmung spürte ich schon als Fünfjährige“
Als Kind lebte Lena, meine Bekannte, mit ihren Eltern im Dorf Sinkowo, nördlich von Moskau. „In meiner Kindheit – bevor ich zur Schule ging – war der 9. Mai ein Feiertag. Ich war fünf Jahre alt. Ich habe noch nicht verstanden, worum es bei diesem Tag ging, um was für einen Sieg es ging, aber ich spürte, dass es bei den Mitgliedern meiner Familie eine Stimmung gab, die ich an keinem anderen Feiertag spürte.“
Der 81 Jahre alte Leonid Schewtschenko – er ist der Sohn des im Oktober 1941 verschollenen sowjetischen Soldaten Sergej Schewtschenko – kann mit dem allgemeinen Trubel am 9. Mai wenig anfangen. „Für mich war die Militärparade nur interessant, weil ich wissen wollte, welche neuen Fahrzeuge und Waffen gezeigt wurden,“ erzählt Leonid. „Der 9. Mai hatte für mich keine große Bedeutung. Ich war nicht im Krieg. Ich war weit weg von all dem. Dass mein Vater im Krieg vermisst wurde, habe ich erst erfahren, als ich schon erwachsen war. Als ich klein war, habe ich nicht getrauert, dass er gestorben war. Als ich 15 Jahre alt war, habe ich verstanden, dass wir ganz anders gelebt hätten, wenn der Vater noch dagewesen wäre. Unser Leben wäre besser gewesen. Meine Mutter Maria – sie war Buchhalterin – musste sich sehr abrackern, um uns zu ernähren, einzukleiden und auszubilden. Für meine Mutter war der Krieg wie eine Walze, die alles zerstört hat. Sie war 22 Jahre alt, als keine Nachrichten mehr von ihrem Mann kamen.“ Erst 2017 erfuhr Leonid, dass sein Vater Sergej in einem deutschen Kriegsgefangenenlager gestorben war.
Zwanzig Jahre lang war der 9. Mai kein arbeitsfreier Feiertag
Die erste Siegesparade auf dem Roten Platz fand am 24. Juni 1945 statt. Marschall Georgi Schukow, der Befreier von Berlin, nahm die Parade auf einem Schimmel ab. Die von der Wehrmacht erbeuteten Standarten wurde von Soldaten vor der Kreml-Mauer aufs Pflaster geworfen. Die sowjetische Führung entschloss sich 1947, den 9. Mai nicht zum arbeitsfreien Feiertag zu machen und keine Paraden mehr abzuhalten. Man wollte die Bevölkerung auf den Wiederaufbau des Landes orientieren. Im europäischen Teil Russlands lagen viele Städte und Dörfer in Trümmern. Den Sieg vor Ruinen zu feiern, das könne auf die Dauer nicht gut gehen. So dachte man vermutlich in der sowjetischen Führung.
Zwölf Millionen sowjetische Soldaten waren an der Front und in Gefangenschaft gestorben. Nach dem Sieg über Hitler-Deutschland fehlten männliche Arbeitskräfte. Millionen Soldaten kamen verwundet und vom Krieg traumatisiert in die Heimat zurück. Viele ertränkten ihre Erinnerungen an die schrecklichen Kriegserlebnisse mit Wodka.
Schenja, eine 66 Jahre alte Geschichtslehrerin aus Moskau, erzählte mir, dass die sowjetische Regierung es nach dem Krieg nicht gerne sah, wenn traurige Soldatenlieder gesungen wurden.
Eines dieser traurigen Lieder, das „wegen Verbreitung pessimistischer Stimmungen“ nicht auf öffentlichen Veranstaltungen gesungen wurde, war das Lied von „der heimischen Hütte, die der Feind abgebrannt hat.“ Das Lied handelt von einem sowjetischen Soldaten, der nach dem Krieg nach Hause kommt, aber nur noch die verkohlten Balken seines Hauses vorfindet. Praskowja, seine geliebte Frau, lebt nicht mehr. Der Rückkehrer setzt sich auf die Erde und führt einen Dialog mit im Krieg Getöteten. „Entschuldige, dass ich so zu Dir gekommen bin. Ich wollte mit dir auf die Gesundheit anstoßen, aber nun muss ich auf deine ewige Ruhe trinken.“
In der letzten Strophe steigert sich das Drama. Während dem Rückkehrer „die Tränen unerfüllter Hoffnung“ über die Wangen laufen, „leuchtet auf seiner Brust ein Orden für Budapest“, die Stadt weit im Westen, an deren Befreiung der Soldat beteiligt war.
In diesem Widerspruch lebten die Menschen nach dem Krieg. Sie hatten unter größten Opfern einen beispiellosen Sieg errungen. Gleichzeitig kamen sie verwundet und von den Kriegserlebnissen traumatisiert in ihre zerstörte Heimat zurück und waren gezwungen, unter großen Entbehrungen zu leben.
Erst 1960, nach dem Tod von Stalin, in der „Tauwetterperiode“, wagte der bekannte Sänger Mark Bernes, das Lied „von der abgebrannten Hütte“ auf einem seiner Konzerte zu singen. Es eroberte sofort die Herzen der Zuhörer und gehörte von nun an zum Standardrepertoire der öffentlichen Feiern am „Siegestag“.
Die Geschichtslehrerin Schenja erinnert sich, dass in den 1960er Jahren in Moskau die Kriegsveteranen begannen, sich im Gorki-Park und vor dem Bolschoi-Theater zu treffen. Die Tradition wird bis heute fortgeführt. Allerdings trifft man im Gorki-Park kaum noch Kriegsveteranen. Es sind nun die Kinder und Enkel der Veteranen, welche die Tradition der Väter und Großväter im Gorki-Park fortführen (siehe mein Bericht aus dem Jahr 2019).
Erst 1965 wurde der 9. Mai ein Feiertag
Erst am 9. Mai 1965, zum zwanzigsten Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland, gab es in Moskau wieder eine Militärparade. Gleichzeitig wurde der 9. Mai zum arbeitsfreien Feiertag. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre fanden auf dem Roten Platz keine Paraden mehr statt. Russland hatte sich dem Westen geöffnet und verzichtete auf Paraden.
Nur die russischen Kommunisten zogen in den 1990er Jahren jedes Jahr am 9. Mai durch Moskau. Auf den Demonstrationen waren Plakate mit Karikaturen über Boris Jelzin und Michail Gorbatschow zu sehen. Man warf ihnen „Verrat“ vor. In den großen U-Bahn-Stationen hörte ich damals Rentner und Rentnerinnen trotzige Soldatenlieder singen, wie das Lied von Wasili Lebedew-Kumatsch und Aleksandr Aleksandrow, „Steh auf, du großes Land, heraus zur tödlichen Schlacht“.
Der Marsch des „Unsterblichen Regiments“ diesmal im Internet
Seit 2013 hat die Militärparade auf dem Roten Platz eine Schwester bekommen. Hunderttausende ziehen nach der Militärparade mit den Porträts ihrer Angehörigen, die am Krieg teilgenommen haben, durch Moskau. Diese Aktion findet auch in anderen russischen Städten statt und heißt „Unsterbliches Regiment“. Mit dem Marsch der Angehörigen, der sich zunehmender Beliebtheit erfreut, will Russland auch ein Signal setzen gegen den Versuch, Hitler und Stalin gleichzusetzen.
In diesem Jahr wird es nur eine virtuelle Gedenkaktion geben. Auf der Website des „Unsterblichen Regiments“ können die Menschen mit Texten, Fotos und Videos über ihre Angehörigen erzählen, die im Zweiten Weltkrieg an der Front kämpften oder im Hinterland für den Nachschub sorgten. Wie Jelena Zunajewa, eine der Organisatorinnen von der „Allrussischen Volksfront“, bekannt gab, haben sich bereits 700.000 Menschen an der virtuellen Gedenkaktion des „Unsterblichen Regiments“ beteiligt. Die Gedenkaktion soll auf Fernseh- und Internetkanälen übertragen werden.

Lesetipp: Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes erschien von Ulrich Heyden im Hamburger Verlag tredition das Buch „Wer hat uns 1945 befreit. Interviews mit Kriegsveteranen und Analysen zu Geschichtsfälschung und neuer Kriegsgefahr“ (hier der Kurzlink zum Buch).

Wer einen virtuellen Rundgang durch russische Museen zum Zweiten Weltkrieg machen will, wird hier fündig: