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Rückkehr zum Materialismus – Materializing Feminism.

Von Mailin Stangenberg, Untergrundblättl,
13. April 2020. Über ein Plädoyer, den heutigen Feminismus wieder auf den Boden
des Kapitalismus zurück zu holen.


Spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 2008 gibt es in den
Gender Studies wieder vermehrtes Interesse an den materiellen Grundlagen der
Gesellschaft, ganz nach dem Motto „In der Krise liest man Marx“. Damit einhergehend
stehen postmoderne Ansätze wie die Diskurstheorie und die
Performativitätstheorie von Judith Butler in der Kritik. Mit ihrer
Sprachfixierung sollen sie die ökonomischen Verhältnisse aus den Augen verloren
haben. Worauf marxistische Feministinnen wie Roswitha Scholz oder Frigga Haug
schon seit 30 Jahren hinweisen, erfährt in der feministischen Bewegung derzeit
wieder eine breite Rezeption. Vermehrt werden Rückbezüge geschaffen zu
Feminismen der zweiten Frauenbewegung.

In die Debatte schaltet sich nun der Sammelband
„materializing feminism“ ein. Die Herausgeberinnen Friederike Beier, Lisa
Yashodhara Haller und Lea Haneberg appellieren daran, den Fokus wieder mehr auf
die „Bedingtheit der historischen und gesellschaftlichen Materialitäten“ (S.
11) zu setzen und versammeln dazu elf Beiträge, die sich mit der Verbindung von
Geschlecht zu Staat, Kapital und Kolonialismus befassen. Sie schaffen es dabei,
nicht in öde Gegenüberstellungen von poststrukturalistischen und marxistischen
Theorien oder Klassen- und Identitätspolitik zu verfallen. Vielmehr werden die
theoretischen Differenzen produktiv gemacht.

Soziale Reproduktionsarbeit
Auch wenn der Band unterschiedliche Ansätze versammelt und
Widersprüche nebeneinander stehen, gibt es wiederkehrende Themen. Ein Fokus des
Bandes lässt sich deutlich in der un- oder schlecht bezahlten sozialen
Reproduktionsarbeit ausmachen. Hier bietet der Band eine kurze, aber prägnante
Analyse des patriarchalen Kapitalismus, der auf der Auslagerung von Sorge- und
Hausarbeit in das Private basiert. Einen wichtigen Beitrag dazu bildet der
Artikel von Juliana Moreira Streva zu Identitätspolitik in Lateinamerika. Sie
macht deutlich, „dass das patriarchalisch-kapitalistische System und die
koloniale Expansion primär nicht nur auf unterbezahlter, sondern auch auf
versklavter und gänzlich unbezahlter Arbeit basieren.“ (S. 142) Strevas
Argumentation unterstreicht, dass eine leidenschaftliche Identitätspolitik
keineswegs Klassenpolitik gegenübersteht, sondern eng mit ihr verwoben ist.
Differenz wagen
Besonders erhellend ist der Beitrag „anders zusammen
zusammen anders – vom Differenzfeminismus lernen“ von Verena Letsch und Isabell
Merkle. Denn darin räumen die Autorinnen mit Vorurteilen um den
Differenzfeminismus auf und schaffen eine neue Perspektive, indem sie Differenz
nicht nur im Bezug auf Geschlechterunterschiede denken, sondern die
Verschiedenheiten von Frauen miteinbeziehen. Ihre Thesen entwickeln sie entlang
des Buches „Wie weibliche Freiheit entsteht“, das Ende der 1980er Jahre von
italienischen Autorinnen des Mailänder Frauenbuchladens verfasst wurde. Sie
nutzen die Vorüberlegungen aus Mailand dazu, einen Differenzfeminismus zu
entwickeln, der „keine einheitliche Identität Frau mit einer vermeintlich
geteilten gesellschaftlichen Position, die Ausschlüsse produziert“ (S. 225)
proklamiert, sondern die Ungleichheiten zwischen Frauen als Potential der
Frauenbewegung begreift.

Der sozio-erotische Körper
Anna Stiedes Beitrag zum sozio-erotischen Körper ist eine
Streitschrift voller Liebe für eine andere Welt. Es gelingt ihr, durchaus
abstrakte Ideen praktisch zu denken und dadurch das Narrativ von einem Ende der
Geschichte aufzubrechen. Eine andere Gesellschaft denkt sie durch den Körper,
genauer: den sozio-erotischen Körper nach Franco Berardi, einem italienischen
Postoperaisten. In Zeiten der digitalen Revolution ist es der Körper, in dem
Raum und Zeit aufeinandertreffen. Die „Ideologie der Unendlichkeit“ (S. 201)
des digitalen Kapitalismus zerfleischt uns. Unsere Körper kommen nicht mehr
mit. Das führt zu Unwohlsein, Depressionen und Burn-outs bis hin zum Suizid.
Eine leidenschaftliche Klassenpolitik, so Stiede, „muss daher die Raum- und
Zeitachse in Einklang bringen.“ (S. 202) Dazu müssen wir einerseits erkennen,
dass wir auf andere angewiesen sind, und andererseits lernen, die
verinnerlichte Dichotomie von Geist versus Körper zu überwinden. Stiede
plädiert dafür, unsere Gefühle nicht länger unseren Gedanken gegenüber zu
stellen und „Musse, Lust, Begehren sowie die schwierigen Emotionen als politische
Felder“ (S. 205) zu begreifen.

Eine dekonstruktivistische Brille
Gudrun-Axeli Knapp fordert in ihrem Beitrag „Mut zur
Kontroverse“ mehr Widerstreit in der feministischen Bewegung, speziell in den
akademischen Kreisen. Sie fragt, wie es dazu kommen konnte, dass es heute
selten noch artikulierten Widerspruch gibt, obwohl es doch eigentlich so viel
zu besprechen gäbe. Aus der festgefahrenen Lage, die sie als das klassisch
feministische und queerfeministische identifiziert, weist, so Knapp, nur der
„zugewandte Widerstreit“ (S. 31) hinaus. Sonst gelange man in einen
Teufelskreis, wenn man sich jeweils nur als neue „Avantgarden der Kritik“
(S.29) darstelle. Erst indem man sich gleichermassen nicht als Weisheit letzter
Schluss begreife, könne man sich gegenseitig bereichern.
Analog dazu fordert Bini Adamczak, deren Interview den
Abschluss des Bandes bildet, Vereinfachungen des Poststrukturalismus und
Marxismus zu überwinden und stattdessen mit einer dekonstruktivistischen Brille
auf marxistisch-feministische Theorien zu blicken. Diesen Ansatz führt sie im
Begriff des materialistischen Queerfeminismus zusammen. Ob dieser allerdings
eine Antwort auf die derzeitige Kontroverse sein kann oder soll, wird offen
gelassen. Durch die Vielzahl der Stimmen scheint es auch nicht die eine Lösung
zu sein, nach der die Herausgeberinnen streben, sondern vielmehr der Anstoss zu
einer neuen „Suchbewegung“ (Stiede, S. 195), die Unterschiede benennt und
Gemeinsames sucht.
Allen, die sich also näher mit einem theoretischen Fundament
und neuen Konzepten des materialistischen Feminismus befassen wollen, ist der
Kauf dieses Bandes ans Herz gelegt. Zu beklagen ist lediglich, dass, obwohl die
grundlegenden Theorien den Leser_innen zumeist erklärt werden, viele Beiträge
durch die hohe Dichte an Fachbegriffen schwer zugänglich sind und dadurch ein
eher akademisches Publikum angesprochen wird.

Friederike Beier Lisa Yashodhara Haller Lea Haneberg (Hg.):
Materializing Feminism. Positionierungen zu Ökonomie, Staat und Identität.
Unrast Verlag, Münster 2018. 248 Seiten. ca. SFr 23.00. ISBN 978-3-89771-319-2