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Corona: «Dummes China-Bashing soll eigene Fehler vertuschen»

Von
Urs P. Gasche
, Infosperber, 13. April 2020
Der Westen sei «arrogant,
ignorant und besserwisserisch», sagt Chinakenner und Herzchirurg Professor Paul
Robert Vogt.


Westliche
Gesundheitspolitiker und Medien müssten aus den Erfahrungen Chinas im Umgang
mit Covid-19 lernen, anstatt die dortigen Versäumnisse zu kritisieren. «Das
fortgesetzte, dümmliche China-Bashing soll vom eigenen Versagen ablenken»,
erklärt Vogt in einem Gastbeitrag der Mittelländischen Zeitung (frühere Grenchner
Zeitung).
Seine
zum Teil polemische Kritik vom 7. April am Umgang mit der Coronakrise
im Westen wurde im Internet schon mehrere Hunderttausend Male aufgerufen und
verbreitet sich in Social Media exponentiell.
Herzchirurg
und China-Kenner
Paul Robert Vogt ist
weder Epidemiologe noch Virologe, sondern Herzchirurg an zwei Zürcher
Hirslanden-Kliniken. Seine Aussagen über die Verbreitung und Gefährlichkeit des
Sars-CoV-2 stützen sich auf einseitig ausgewählte Quellen und sind nicht alle
zum Nennwert zu nehmen. In einem späteren Interview nahm er zu seiner Polemik
wie folgt Stellung: «Mit einem weichgespülten Artikel, der nur von ‹political
correctness› trieft und die Fakten verschleiert, erreicht man heutzutage gar
nichts.» (Bild: Hirslanden)
Allerdings
kennt Vogt die chinesischen Verhältnisse aus erster Hand. Fast ein Jahr lang
arbeitete er in China und lehrte als Gastprofessor auch an einem
Universitätsspital in Wuhan, mit dem er noch heute in Kontakt steht.
Vogt
räumt ein, dass die «Command and Control»-Struktur in China anfänglich zu einer
Unterdrückung relevanter Informationen geführt habe. Der Umgang mit dem
Augenarzt Li Wenliang sei schrecklich gewesen. Aber auch der Westen springe mit
Whistleblowern bekanntlich nicht zimperlich um.
Immerhin
aber habe China die Pandemie später umso effektiver in den Griff bekommen und
begrenzt. Wer ständig verbreite, Zahlen aus China seien sowieso alle
beschönigt, gehe offensichtlich davon aus, dass die Pandemie noch viel
gefährlicher ist als bei uns dargestellt. Umso dramatischer wäre das Versagen
der westlichen Behörden und Medien. Zu Recht habe der «Spiegel» getitelt
«Tödliche Arroganz» und damit das überhebliche Europa gemeint.
Vogts
Fakten zu China
Europa
und die USA haben nach Überzeugung Vogts im Vergleich zu China komplett
versagt. China war mit einem neuen Virus konfrontiert und wollte die Gefahr
anfänglich nicht wahrhaben. Der Westen aber konnte im Januar wissen, was auf
ihn zukam und trotzdem reagiert er nicht. Vogt zählt u.a. folgende Fakten auf:
  1. Nach der
    SARS-Epidemie [von 2002/03] hat China ein Überwachungsprogramm
    installiert, welches eine auffällige Häufung atypischer Lungenentzündungen
    so früh wie möglich melden sollte. Als 4 Patienten in diesem Land mit
    seiner gigantischen Bevölkerung in kurzer Zeit eine atypische
    Lungenentzündung zeigten, hat das Überwachungssystem Alarm ausgelöst.
  2. 2016 erschien eine
    Forschungsarbeit über Corona-Viren. Das «Summary» dieser Publikation war
    eine perfekte Beschreibung dessen, was aktuell abläuft:
“Focusing on SARS-like CoVs, the approach
indicates that viruses using the WIV1-CoV spike protein are capable of
infecting human alveolar endothelium cultures directly without further spike
adaptation. Whereas in vivo data indicate attenuation relative to SARS-CoV, the
augmented replication in the presence of human Angiotensin-Converting-Enzyme
Typ 2 in vivo suggests that the virus has significant pathogenic potential not
captured by current small animal models.”
  1. Im März 2019 stellte
    eine epidemiologische Studie von Peng Zhou aus Wuhan fest, dass u.a.
    aufgrund der Biologie der Corona-Viren in den Fledermäusen („bat“)
    vorausgesagt werden kann, dass es in Kürze eine erneute Corona-Pandemie
    geben werde. Mit Sicherheit! Man könne nur nicht genau sagen wann und wo,
    aber China werde der hot-spot sein.
  2. Nachdem bei 27
    (andere Quellen sagen: 41) Patienten in Wuhan eine atypische Pneumonie
    diagnostiziert worden war, aber noch kein einziger Todesfall vorlag, hat
    die chinesische Regierung am 31. Dezember 2019 die WHO informiert.
  3. Am 07. Januar 2020
    hat dasselbe Team von Peng Zhou, welches im März 2019 vor einer
    Corona-Pandemie gewarnt hatte, das vollständig definierte Genom des
    verursachenden Virus an die Welt weitergegeben, damit so schnell wie
    möglich weltweit Test-Kits entwickelt, eine Impfung erforscht und
    monoklonale Antikörper hergestellt werden können.
  4. Entgegen der
    Empfehlung der WHO haben die Chinesen Wuhan im Januar mit einem «travel
    ban» und einer Ausgangssperre lahmgelegt … Nach Meinung internationaler
    Forschungsteams hat China mit früh und radikal einsetzenden Massnahmen
    Hunderttausenden von Patienten das Leben gerettet.
  5. Bereits am 31.
    Dezember 2019 hat Taiwan alle Flüge aus Wuhan gestoppt. Die weiteren 124
    Massnahmen Taiwans sind im «Journal of American Medical Association»
    publiziert – rechtzeitig. Man hätte sie nur zur Kenntnis nehmen müssen.
Vogt
verweist auf «die vielen exzellenten wissenschaftlichen Arbeiten mit
chinesischen und amerikanisch-chinesischen Autoren», die bis Ende Februar 2020
erschienen sind: «Man hätte wissen können, um was es bei dieser Pandemie geht,
und was man vorkehren sollte.»
Politik
und Medien hätten bei uns eine besonders unrühmliche Rolle gespielt: «Statt
sich auf das eigene Versagen zu konzentrieren, wird die Bevölkerung durch ein
fortgesetztes, dümmliches China-Bashing abgelenkt.»
Sonntags-Zeitung: «Wo das Fälschen System hat»
Zuletzt
doppelte die Sonntags-Zeitung am Ostersonntag nach unter
dem Titel «Wo das Fälschen System hat» und thematisierte die «geschönten»
Zahlen in China. Als Quellen nannte die SoZ nicht spezifizierte
«Regierungsunterlagen», welche eine Zeitung in Hongkong habe einsehen können,
weiter namenlose «Ärzte» und «Virologen» und ebenso namenlose «Experten» des Mercator-Instituts in Berlin. Oder sogar ein
«wurde bekannt» musste als Quelle herhalten.
Vorwürfe an die Schweizer Behörden
Vogt
erinnert daran, dass Uzbekistan
bereits im Dezember 2019 ihre 82 Studenten aus Wuhan zurückbeorderte und alle
in Quarantäne steckte. «Und was hat die Schweiz seit der Meldung China’s an die
WHO am 31. Dezember 2019 gemacht? Unsere Landesregierung, unser BAG, unsere
Experten, unsere Pandemiekommission? Es sieht so aus, dass sie nichts
mitbekommen haben.»
Was
Epidemiologen im Bundesamt für Gesundheit BAG laut Vogt wenigstens hätte tun
können: die exzellenten wissenschaftlichen Arbeiten der chinesischen und
amerikanisch-chinesischen Wissenschaftler studieren, welche die besten
amerikanischen und englischen medizinischen Zeitschriften publiziert hatten.
Und man hätte wenigstens das notwendige medizinische Material auffüllen können.
Das
behördliche Versagen habe sich bis heute fortgesetzt. Keine der von Singapur,
Taiwan, Hongkong oder China erfolgreich eingesetzten Massnahmen wurden
angewendet. Keine Grenzschliessung, keine Grenzkontrollen, jeder konnte und
kann immer noch problemlos in die Schweiz immigrieren, ohne überhaupt
kontrolliert zu werden. Das habe Vogt noch am 15. März selber so erfahren.
Gegen
die Versäumnisse der Schweizer Behörden zieht Vogt weiter vom Leder: Es seien
die Österreicher
gewesen, welche die Grenze zur Schweiz geschlossen haben. Und es sei die italienische Regierung gewesen,
welche Ende März die SBB gestoppt hat. Und noch heute gebe es keine Quarantäne
für Personen, die in die Schweiz einreisen.
«Wie kann es sein,
dass eine gemischt amerikanische-chinesische Autorenschaft am 06. März im
‹Science› publiziert, dass nur eine kombinierte Grenzschliessung und eine
lokale Ausgangssperre effektiv sind, dann aber die Verbreitung des Virus um 90
Prozent einzudämmen vermögen – das BAG und Bundesrat aber mitteilen, dass
Grenzschliessungen nichts bringen, «weil sich die meisten sowieso zu Hause
anstecken» würden.
Das
Maskentragen hätten die Behörden für unnötig gehalten. Aber nicht etwa, weil
dessen Effektivität nicht bewiesen wäre: «Nein, weil man schlicht nicht
genügend Masken zur Verfügung stellen konnte.»
Vogt
weiter:
«Wie kann man
konstant andere Länder kritisieren, wenn man mit dem zweitteuersten
Gesundheitswesen der Welt … weder genügend Masken, noch genügend
Desinfektionsmittel, noch genügend medizinisches Material vorweisen kann? Die
Schweiz wurde von dieser Pandemie nicht überrascht – nach dem 31. Dezember 2019
hat man mindestens zwei Monate Zeit gehabt, die dringendst notwendige
Vorkehrungen zu treffen.»
Vorwürfe an die Medien
Zu
diesem Verhalten hätten die Medien ziemlich viel beigetragen, kritisiert Vogt.
Die mediale Berichterstattung erschöpfe sich weitgehend im Schönreden von dem,
was Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit BAG beschliessen, sowie im
Kritisieren anderer Länder.
«Reicht es nicht,
dass der Westen zu Beginn dieser Pandemie hochnäsig und mit einer gewissen
Schadenfreude nach China geschaut hat? Muss jetzt die Unterstützung der
westlichen Staaten durch China auch noch bösartig diffamiert werden? China hat
bis heute 3,86 Milliarden Masken, 38 Millionen Schutzanzüge, 2,4 Millionen
Infrarot-Temperatur-Messgeräte und 16’000 Beatmungsgeräte geliefert. Nicht
Chinas angeblicher Weltmachtsanspruch, sondern das Versagen der westlichen
Länder hat dazu geführt, dass der Westen buchstäblich am medizinischen Tropf
Chinas hängt.»
Zur
Vergangenheit möchten sie vorläufig nicht Stellung nehmen, erklärten BAG und
Bundesrat den Medien. Man müsse sich jetzt mit der Zukunft beschäftigen. Lehren
aus allfälligen Fehlern müsse man später ziehen.