„Kuba schafft sich seine eigene Moderne, zum Trotz aller von außen herangetragenen Wunschvorstellungen“: Forscher und Journalist Marcel Kunzmann
von Milena Rampoldi, ProMosaik, 18. April 2020. Marcel Kunzmann, Jahrgang 1992, absolviert derzeit sein Masterstudium der interdisziplinären Lateinamerikastudien an der Freien Universität Berlin. Er hat einen Forschungsaufenthalt in Havanna hinter sich und ist seit Februar 2020 wieder in Berlin. Er schreibt über Kuba auf seinem Blog Cuba heute und unter anderem für das Nachrichtenportal „Amerika 21″, den Berliner „Tagesspiegel“, sowie für diverse Fachzeitschriften zu Lateinamerika, u.a. „ila“ und „Matices“.
Zum ersten Mal war er 2009 in Kuba und unternahm 2012 eine knapp einmonatige Reise durch das Land. Zwischen 2015 und 2016 hat er ein Jahr in Havanna gelebt und studiert. Seither hat er sich ausgiebig mit den Entwicklungen auf Kuba befasst und interessiert sich dabei für die jüngste Geschichte ebenso wie auch für die Kolonialepoche des Landes. Er fühlt sich aufs herzlichste mit den Einwohnern der Insel verbunden und unterhält zahlreiche Freundschaften im Land. Wir haben ein Gespräch über die aktuelle Situation in der Insel mit ihm geführt.
Welche Hauptziele verfolgen Sie als Journalist und Autor über Themen rund um Kuba?
Kuba ist ein schwieriges Feld für Journalisten, denn die Insel dient aus der Außenperspektive häufig als Projektionsfläche und wird dabei mit Klischees überfrachtet. Auf der einen Seite wird Kuba gerne als egalitäres Paradies, in dem es keine Widersprüche gibt und jeder unentwegt für die Revolution kämpft, romantisch verklärt. Auf der anderen Seite steht die Dämonisierung: Kuba als totalitäre Hölle, die von einer machiavellistischen Bande willentlich in den Abgrund regiert wird. Solche festgezurrten Schablonen helfen allerdings wenig bei der Erklärung der vielschichtigen Realität des Landes. Das merkt man leider auch in der Berichterstattung hierzulande, die häufig in eines der vielen Klischeebilder abdriftet. Ein gutes Beispiel ist der Fall des ehemaligen SPIEGEL-Journalisten Claas Relotius, der 2013 über ein Stipendium nach Kuba reiste und von dort mehrere Texte über den Privatsektor ablieferte, die genau in die damalige Erwartungshaltung der europäischen Redaktionen passten, sich im Nachhinein jedoch als voller Fehler und Widersprüche herausstellten – bemerkt hatte das lange Zeit niemand, denn es passte viel zu gut in das Bild, welches wir von Kuba haben.
Zugegeben: es ist nicht einfach, alles richtig einzuordnen was auf Kuba passiert. Viele Dinge funktionieren in dem sozialistischen Land nun einmal komplett anders als in den meisten anderen Ländern der Welt. Die seit mehr als 60 Jahren bestehende Wirtschaftsblockade der USA hat dazu geführt, dass sich auf der Insel stellenweise eine Wagenburgmentalität etabliert hat, was aufgrund der Geschichte nachvollziehbar ist. Informationen muss man sich manchmal erst mühsam zusammensuchen und immer wieder prüfen. Vieles stellt sich dann bei näherer Betrachtung als nicht ganz so monokausal heraus, wie es noch auf den ersten Blick erschien. Doch die Zeit, solche Dinge transparent zu machen, können oder wollen sich offenbar nur die wenigsten Journalisten nehmen. Man merkt einem Text schnell an, ob sich jemand bereits vorher mit dem Land beschäftigt und sich womöglich längere Zeit dort aufgehalten hat – oder eben nicht.
Mit meinem 2012 begonnenen Blog „Cuba heute“ versuche ich in sachlicher, analytischer Weise die „großen Linien“ der Politik und Wirtschaftsentwicklung nachzuzeichnen und damit vor allem verlässliche Informationen für das deutschsprachige Publikum zu liefern. Meine Studienaufenthalte 2015/16 und 2019 sowie die dort geknüpften Freundschaften helfen mir maßgeblich, auch aus der Ferne Dinge besser einordnen und prüfen zu können. Die mittlerweile umfangreiche Verbreitung des Internets auf Kuba ist dabei eine große Erleichterung.
Welche sind die Hauptvorurteile der Menschen im Westen gegenüber Kuba?
Das mit Abstand größte Fehlinterpretation ist mit Sicherheit die Vorstellung, dass die Insel kurz vor einem radikalen Umbruch stünde der die politische Vorherrschaft der USA wiederherstellt und einzig und allein durch das Fortbestehen des US-Embargos die typischen Elemente der kubanischen Gesellschaft „gesichert“ würden. „Jetzt noch schnell nach Kuba, bevor die Amis kommen“, habe ich während der Zeit der Annäherung zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten ab Dezember 2014 immer wieder gehört. „Noch mal schnell den Sozialismus anschauen, bevor sich McDonalds und Starbucks breit machen“, war damals das Motto mancher Besucher. Tatsächlich reicht der Mythos bis in die 1990er Jahre zurück, als sich Kuba erstmals für den Massentourismus öffnete – er ist also alles andere als neu. Spätestens mit der Erkrankung Fidel Castros 2006 wurde dieser Narrativ jedoch immer dominanter. Tatsächlich hat die kubanische Revolution mittlerweile mehr Zeit in der sogenannten „Sonderperiode“ in Folge des Wegfalls der sowjetischen Unterstützung verbracht, als in den Jahren davor.
Was mich stört ist vor allem die dem zu Grunde liegende Haltung: Kuba soll möglichst so bleiben wie es unseren verklärten Klischeebildern entspricht: „keine Konsumgesellschaft“, „frei von Einflüssen des 21. Jahrhunderts“, „Arm aber glücklich“. Da machen sich dann Leute auf einmal sorgen darüber, dass „die tollen Oldtimer durch hässliche chinesische Kleinwagen verdrängt“ werden, ohne zu ahnen, dass die meisten kubanischen PKW-Besitzer keine Sekunde zögern würden, ihre mühsam in Schuss gehaltene US-Rostlaube für ein modernes Fahrzeug einzutauschen, das zudem billiger im Unterhalt ist. Die Verbreitung von mobilem Internet und Smartphones ist ein ebensolches Phänomen, welches von Reisenden manchmal übertrieben kritisch beäugt wird. „Dann starren die jungen Kubaner nur noch auf ihre Handys, genauso wie bei uns“, lautet der Vorwurf. Während man selbst nicht einmal für ein paar Wochen im Urlaub ohne Internet sein möchte, ist dies für viele Kubaner oft die beste Möglichkeit, in Kontakt mit der Familie im Ausland zu bleiben. Dass moderne Technik und die Digitalisierung von den meisten Kubanern nicht nur stürmisch begrüßt wird, sondern auch zur Entwicklung der Wirtschaft und damit der Steigerung des Lebensstandards beiträgt, wird gerne übersehen oder als unwesentlich abgetan: Hauptsache das Straßenbild entspricht den Erwartungen aus dem aus dem Reiseführer.
Zu meinem Erstaunen stelle ich dann immer wieder fest, wie wenig sich eigentlich – entgegen all dieser Befürchtungen – auf Kuba dann doch ändert. Sicher, in den letzten 10 Jahren gab es viele Reformen in deren Folge sich die Straßen Havannas mit mehr Restaurants, Kiosken, Internetnutzern und moderneren Fahrzeugen bevölkert haben. Doch hat dies nicht dazu geführt, dass Dinge, die man als typische Merkmale der kubanischen Kultur bezeichnen würde, auf einmal verschwunden sind. Schauen Sie sich doch nur einmal die Souks in den Altstädten von Marokko an: dort wird nach jahrtausendealter Tradition Kunsthandwerk und Handel praktiziert. Keiner käme jedoch auf die Idee, den Teppichhändlern in der Sahara die Nutzung eines Handys oder eines modernen Geländewagens abzusprechen. Kuba schafft sich seine eigene Moderne, zum Trotz aller von außen herangetragenen Wunschvorstellungen.
Wie geht mit Kuba mit der Coronakrise um? Was ist positiv daran? Was kann der Westen von Kuba lernen?
Im Umgang mit der Corona-Pandemie kann Kuba die Stärken seines Gesundheitssystems ausspielen. Dazu gehört vor allem das dichte Netz aus 13.000 Familienärzten und 450 Polikliniken, die vor Ort den Hauptbeitrag bei der Prävention und Behandlung von Patienten leisten. Die Familienärzte sind nach britischem Vorbild als Hausärzte für ein bestimmtes Wohngebiet verantwortlich und spielen jetzt die entscheidende Rolle bei der Rückverfolgung von Infektionsketten und der Aufdeckung von Verdachtsfällen. Anders als in Deutschland mangelt es Kubas Gesundheitswesen neben Ausrüstung und Medikamenten vor allem an modernem Equipment wie Beatmungsgeräten, jedoch nicht an Personal. Mehrere tausend Medizinstudenten wurden mobilisiert, um von Haus zu Haus zu gehen und eventuelle Verdachtsfälle sofort zu melden und falls nötig zu isolieren. 6,2 der 11 Millionen Kubaner hatten seit der ersten gemeldeten Infektion am 11. März schon einmal solchen Besuch. Die ersten Fälle kamen naturgemäß über den Tourismus ins Land, doch die ersten inländischen Übertragungsketten ließen nicht lange auf sich warten. Inzwischen gehen nationale Modellierungen davon aus, dass der Höhepunkt des Infektionsgeschehens in der ersten Maihälfte stattfinden wird. Insgesamt wird mit bis zu 4.000 Fällen gerechnet – womit die Epidemie die Leistungsfähigkeit der Intensivversorgung nicht voll ausreizen würde und ein Kollaps des Systems ähnlich wie in New York oder Italien verhindert werden könnte. Bisher deutet vieles darauf hin, dass dies gelingen kann.
Kubanische Ärztinnen gehen auf der Suche nach möglichen Fällen des neuen Coronavirus von Tür zu Tür. Foto Adalberto Roque/AFP
Entscheidend zur Eindämmung beigetragen hat die Tatsache, dass Kuba sehr frühzeitig Maßnahmen ergriffen hat: so wurde das Land bereits nach der 21. erfassten Infektion, am 24. März, für den Fremdenverkehr geschlossen. Mit dem zeitgleich veranlassten „Shutdown“ des öffentlichen Lebens – vom ÖPNV bis zu den großen Supermärkten – konnte bisher die ungebremste Ausbreitung der Krankheit gestoppt werden. Einzelne Gebiete in verschiedenen Städten wurden als Infektionshotspots ausgemacht und stehen unter Quarantäne, allgemein gelten Maßnahmen sozialer Distanzierung wie eine Abstandsregel von 1,5 Meter im öffentlichen Raum. Darüber hinaus ist man auf Kuba sehr früh zur Verwendung von Schutzmasken übergegangen. Da von Anfang an klar war, dass die vorhandenen Bestände nicht ausreichen würden, stellte die Textilindustrie rasch auf die Fertigung solcher Masken um. Außerdem wurden ganz pragmatisch Anleitungen zur privaten Fertigung veröffentlicht, was die krisenerprobten Kubaner nicht lange zögern ließ, für genügend Nachschub zu sorgen.
Die kubanischen Behörden verlangen die Verwendung von Masken für alle Personen außerhalb ihres Hauses. Foto Ramón Espinosa/AFP
Kuba orientiert sich bei der Bekämpfung des Virus stark an den Leitlinien der WHO, auf die sich das Gesundheitsministerium explizit beruft. Alle Fälle werden akribisch nachverfolgt und öffentlich dokumentiert. Der Zivilschutz profitiert dabei von einem eingespielten institutionellen Gefüge aus Gesundheitseinrichtungen, lokalen und nationalen Behörden, welches bereits seit Jahrzehnten Erfahrungen im Umgang mit Krankheiten wie Dengue und Zika sowie bei Evakuierungen und Hilfsaktionen nach Hurrikanen gesammelt hat. Auch waren kubanische Ärzte bei der Bekämpfung der Ebola-Epidemie 2014 in Westafrika und beim Ausbruch der Cholera in Haiti in Folge des Erdbebens 2010 beteiligt, nahmen ihre Erfahrungen mit nach Hause. Ich denke diese Aspekte sollte man nicht unterschätzen.
Ärzte und Krankenschwestern der kubanischen Henry Reeve International Medical Brigade verabschieden sich, bevor sie nach dem hart getroffenen Italien reisen, um bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie zu helfen. Zur Zeit nehmen 800 kubanische GesundheitsarbeiterInnen an Hilfsmissionen gegen die Pandemie in 15 Lândern teil. Foto Yamil Lage/AFP
Die Tatsache, dass Kubas steuerfinanziertes Gesundheitssystem – bei allen vorhandenen Engpässen – in der Lage ist, praktisch jeden Bürger zu erreichen und dabei trotz der seit Jahren angespannten Wirtschaftslage über genügend Personal verfügt um Infektionsketten effektiv nachzuverfolgen und Kapazitäten während der Krise aufzustocken, ist für ein Entwicklungsland bemerkenswert und auch für Europa und die USA relevant. Mit der frühzeitigen Entsendung von Ärzten nach Italien und in viele andere Länder hat Kuba darüber hinaus ein Positivbeispiel für internationale Kooperation gegeben, während nicht wenige westliche Regierungen nach dem Motto „Wir zuerst, dann alle anderen“ handelten.
Wie wichtig sind Übersetzungen heute für den Journalismus und warum?
Gute Übersetzungen sind essenziell für journalistische Arbeit. Sprache erlaubt uns, Dinge auszudrücken und zu denken, die ihre Entsprechung nicht immer eins zu eins in einem anderen kulturellen Kontext finden können. Die Aufgabe von Übersetzern ist es, genau hier als kultureller und sprachlicher Mittler zu fungieren. Manche Begriffe sind z.B. im deutschen negativen Vorbelastet, die in anderen Sprachen nicht diese Konnotation haben und etwas anderes suggerieren würden. Hier muss man dann entsprechend kreativ werden. Ich habe größten Respekt vor der schwierigen Aufgabe eines Übersetzers oder Dolmetschers. Für mich ist es nicht immer einfach, die nach dem für das spanische eher untypischen Schachtelprinzip angeordneten Sätze der offiziellen kubanischen Medien in gutes Deutsch zu verwandeln, aber ich gebe mir Mühe.
Was halten Sie vom Begriff „alternativer Journalismus“?
Mit dem Begriff des „alternativen Journalismus“ verbinde ich zivilgesellschaftliche Presse- und Medienarbeit, die eben eine Alternative zu den etablierten Medien bilden soll. Hierzu zählen neben Weblogs und Nachrichtenportalen auch Podcast- und Videoformate auf YouTube, wie sie in jüngster Zeit immer populärer wurden. Ich denke der Begriff ist an sich unproblematisch, es ist jedoch bedauerlich zu sehen, dass immer mehr verschwörungstheoretische, rechtspopulistische und esoterische Medien diesen Begriff für sich in Anspruch nehmen.
Welche Hauptthemen behandeln Sie auf Ihrem Blog „Cuba heute“?
Ursprünglich wurde der Blog einmal ins Leben gerufen, um den 2011 gestarteten Reformprozess (auf Kuba: „Aktualisierung des Wirtschafts- und Sozialmodells“) zu dokumentieren. Inzwischen hat sich das Themenspektrum erweitert und auch Touristen finden manche Hilfe für ihre Reisevorbereitung. Während Hurrikanen oder wie jetzt während der Corona-Pandemie versuche ich, so gut es geht möglichst aktuelle und zugleich verlässliche Informationen über die Lage vor Ort zu vermitteln. Schwerpunkt meines Blogs werden jedoch immer die großen Themen der politischen und wirtschaftlichen Veränderungsprozesse auf Kuba sein.