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Der Philosoph Harald Seubert zu MITEINANDER NEU-DENKEN

ProMosaik: Vor wenigen Tagen haben wir LaBGC
und Harald Haarmann zu ihrem ersten gemeinsam veröffentlichten Buch MITEINANDER
NEU-DENKEN interviewt. Heute geht unser Interview mit Harald Seubert zu diesem
Buch online.

> Harald
Seubert, Philosoph und Ideenhistoriker mit Lehrstuhl in Basel.
In
MITEINANDER NEU-DENKEN finden sich an drei markanten Stellen Zitate aus einem
Artikel von Ihnen, Herr Seubert, der mit dem Titel Panik als Signal praktischer Vernunft in der Frankfurter Rundschau
erschienen ist. Deute ich das richtig, dass Sie mit diesem Artikel gleichfalls
dafür plädieren, unser gegenwärtiges Miteinander kritisch zu überdenken?

Harald Seubert: Das deuten Sie völlig richtig. Ich
sehe das Miteinander-Leben von verschiedenen Epiphänomenen unserer
hochdifferenzierten Gesellschaften überlagert: von verschiedensten Sachzwängen,
einer Überbürokratisierung, einer Dominanz der Shareholder Value Ökonomie seit
den 2000er Jahren über die politische Sphäre und einem entfesselten nahezu
religiösen Geld-Kapitalismus. Übrigens zeigt sich dies auch in Bereichen, die
anderen Logiken folgen sollten, der Bildung etwa, bzw. der Gesundheit. Die
digital gewonnene Eine Welt, die viele Freiheiten ermöglichen würde, bringt
gerade nicht den kreativen, lebendigen Friedenszustand hervor, den Kant sich
Ende des 18. Jahrhunderts vom weltbürgerlichen Kosmopolitismus erwartet hatte.
Jedenfalls nicht notwendigerweise und nicht durch Algorithmenlogik. Dazu bedarf
es einer wirklichen Umkehrung unserer Denkart, Lebensformen und -vorstellungen.
Die eingeschliffenen, alt und teilweise auch richtig gehend böse gewordenen
Ideologien der Vergangenheit werden nicht weiterhelfen. Bürokratie und
Technokratie drohen das gemeinsame Leben und Denken zu versteinern. Vieles
scheint in diesen alten Mechanismen, in Selbst- und Fremdbildern, hoffnungslos
fixiert. Ich bleibe jedoch mit dem griechischen Urphilosophen Heraklit
überzeugt, dass alles im Fluss ist in Strom und Bewegung, in Lebendigkeit. Ein
unerwartetes Ereignis wie die gegenwärtige, buchstäblich die Welt betreffende
Corona-Krisis, in dem unsere Zivilisation und jeder, jede einzelne jäh mit dem
Aussetzen des Selbstverständlichen konfrontiert ist, könnte wirklich Krisis
sein: eine Epoche machende Zäsur.
ProMosaik: Das Buch von LaBGC und Harald
Haarmann MITEINANDER NEU-DENKEN spiegelt das, was die Wissenschaft bis heute
über die Lebenswelt der Gesellschaften Alteuropas herausgefunden hat, ins
Heute. Das geschieht komprimiert anhand von Begriffen wie Gemeinwohl,
Demokratie, Gleichberechtigung, Besitz, Autorität und vielen weiteren wie z. B.
auch Liebe und Religion, wobei das Gemeinwohl alle Bereiche zu durchdringen
scheint. Stellen Sie sich vor, Sie würden zum ersten Mal von der Realität der
Gesellschaften Alteuropas hören. Was würde Sie überraschen, weil Sie es
vielleicht bislang für undenkbar gehalten hätten?
Harald Seubert: Auf Harald Haarmanns faszinierende
Forschungen stieß ich übrigens erst vor gut zwei Jahren, durch eine Empfehlung
eines Freundes, meines langjährigen Hausarztes. Dann begegnete mir auch im
realen Leben, durch Zufall oder Fügung, LaBGC. Und nun sitzen wir drei in einem
gemeinsamen Boot. Überraschend und faszinierend ist, welche Formen des
Ausgleichens, des Gemeinsinns und einer egoismus- und
evolutionstranszendierenden Lebenskunst in den alteuropäischen Donaukulturen
greifbar sind. Die Forschungen von Haarmann elektrisieren mich geradezu. Da ich
in meiner eigenen intensiven, mehr als zwanzigjährigen Beschäftigung mit Platon
und dem Platonismus, überhaupt dem antiken griechischen Denken, das zu großen
Teilen erstaunlich jung ist, dieses Denken immer als große Summe und bleibendes
Erbe verstanden habe, und eben keineswegs als ins Leere entworfene Utopie,
haben mir Haarmanns Forschungen auch philosophisch nochmals neue Horizonte
eröffnet. Es ist nicht zufällig, dass er und ich an Platons Sophia sehr
interessiert sind. Für den Platoniker ist das Ideal nie ein utopischer Entwurf,
sondern eine atopische, zum jeweiligen Mainstream kontrafaktische Erinnerung an
das, was war, ist und bleibt.
ProMosaik: Unter dem Eindruck des aus vielen
Richtungen tönenden Rufes nach Veränderung unserer Gesellschaften – siehe z. B.
das erste Urteil im Cum- und Ex-Skandal – was ist bei der Fülle des Möglichen
aus Ihrer Sicht essentiell für eine Neuorientierung?
Harald Seubert: Zunächst sage ich es mit Karl
Popper als Falsifizierung. Diese Erneuerung kann nicht von den linearen Welt-,
Menschen- und Geschichtsbildern des 20. Jahrhunderts ausgehen, denen
intellektuell neue Facetten angefügt würden. Sie kann nicht einfach sozialistisch-marxistisch,
konservativ-traditionsverhaftet, und nicht liberalistisch sein. Das heißt
nicht, dass nicht all jene Traditionen, neben Verfehltem, Keime der Zukunft in
sich enthalten und insofern in einzelnen Momenten erinnernswert sein können. Dazu
bedarf es aber, mit Walter Benjamin gesagt, einer „rettenden Kritik“. Maximen
für ein anderes Gemeinsames-Leben können überdies aus dem Schatz der großen
Weltreligionen gewonnen werden, gewiss. Doch essentiell ist, dass ein ‚Wir‘,
ein Sensus communis aus Freiheit entsteht, dass neue ungebahnte Wege entstehen,
also eine Weltgesellschaft aus Verschiedenen, ein dichtes Netz aus Alten und
Jungen, Männern, Frauen, Diversen, die nicht nur zeitweise, sondern dauerhaft
dieses Wir denken und leben, ohne die schillernde Vielheit preiszugeben.
Dies setzt
voraus, dass Individualität und Gemeinschaft, wie Platon sagt – die kleine
Schrift der Seele und die große der Polis -, in einer engen Verschränkung, in
einem humanen Gewebe, miteinander verknüpft werden. Dieses Humanum ist Aufgabe
und offenes Feld. Vorausgesetzt ist, die Andersheit des Anderen, auch die
totale, in ihrer Ambiguität zu tolerieren, und sich selbst kreativ zu
verändern. All dies ist mit dem sehr schönen Motiv Los Altros gesagt: wir
Anderen.
ProMosaik: Gibt es einen interdisziplinären
Ansatz, mit Hilfe dessen ein Prozess des Neu-Denkens in Gang gebracht werden
könnte?
Harald Seubert: Für mich ist dieser Ansatz
tatsächlich eine Art Phänomenologie und eine Hermeneutik des Gesprächs.
Phänomenologie, weil es darum geht, das Andere, wie es sich gibt und zeigt,
möglichst frei von ideologischen Vorurteilen oder gar Ressentiments
wahrzunehmen und damit tiefer zu verstehen. Edmund Husserl, der geniale
Begründer der Phänomenologie, der als Jude in seinen letzten Lebensjahren
verfemt und verschwiegen wurde, nannte dies die Epoché: Einklammerung, die
Phänomene so sehen, wie sie sich uns jeweils geben,
wie auch des Gesprächs, als des
Hörens auf die herausfordernde Stimme des Anderen, die mir mein eigenes Denken
verändert zurückspiegelt.
Interdisziplinarität,
aus verschiedenen Wissenschaften, aber auch aus den weit ausdifferenzierten
Welten von Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Politik, braucht diese beiden
Grundmaximen. Dann ist sie Haltung und Kreativität, eine Verbindung aus Tun und
Sein-lassen, Aktivität und Passivität, wie wir sie dringend benötigen.
ProMosaik: Haben Sie eine Vorstellung davon,
wie ein Prozess des Neu-Denkens in Gang gebracht werden könnte – oder gibt es
vielleicht sogar einen interdisziplinären Ansatz für gemeinsames Neu-Denken?
Harald Seubert: Ich sehe als Keimzelle eine Art
Akademie von Personen und Kräften, die aus ihrem Blickfokus dieses Neubeginnen
schon entwickelt haben oder dabei sind, dies zu tun: Akademie nicht als
Meritokratie (Austragsstube der Alten), sondern als loser, aber
leidenschaftlicher Lebens- und Forschungszusammenhang. Kunst, Paideia
(Bildung), Lebensformen sollen darin mindestens so viel Gewicht haben wie
Denkformen. Es wäre eine Akademie der strittigen Freundschaft, der Transparenz,
die Ableger, Ausstrahlungen in verschiedenen Gegenden der Welt einrichtet und
die eben gute, weitsichtige Theorie mit der Praxis verbindet: so wie übrigens
Leibniz dies für die klassischen europäischen Akademien im 18. Jahrhundert
erträumte: Theoria cum praxi – damals revolutionär, weil er auch die
angewandten Disziplinen, Baukunst, Wagentechnik mit einbezog. Ich meine
tatsächlich, dass die Phänomenologie und die Hermeneutik des Gesprächs dafür
einen guten Grundriss bieten können. Aber eben nicht mehr: Was dann entstehen
kann, das sollte sich selbst gestalten und umgestalten, wobei Bildung und Kunst
dabei gewiss eine sehr wesentliche Rolle spielen. Um es mit Hölderlin zu sagen:
„ein Gespräch wir sind und hören voneinander“. Übrigens sehe ich in meinem
Umkreis, bei wunderbaren Künstlern, Meditierenden, Denkern, Schreibern Fäden zu
einem solchen Neuanfang geknüpft, generationenübergreifend: Diese Fäden wollen
verknüpft und verbunden werden, in bleibende Dynamik versetzt.
ProMosaik: Sehen Sie Schnittmengen zwischen
Geschichte, Philosophie und Politik?
Harald Seubert: Sehr große. Diese Schnittmengen
begleiten ja meinen eigenen intellektuellen und existenziellen Weg seit mehr
als drei Jahrzehnten. Ich bin als Philosoph seit meiner Studienzeit hoch
interessiert an Geschichte, die mein Zweitfach war und blieb, an Geschichte der
Ideen primär, aber auch der Menschen, Mächte, des vielschichtigen Erbes und der
kollektiven und individuellen Erinnerung, und an Politik, die mehr und anderes
ist als ein Beruf (Max Weber): sie ist Teil unseres freien Lebens, unserer –
mit Aristoteles – politike koinonia. Sie geht jedermann und jedefrau notwendig
an. Diese drei Grunddisziplinen, die ja in sich auch den Spannungsbogen von
Theorie und Praxis beschreiben, sind vielfach aufeinander bezogen. Auch dort
übrigens, wo man nicht von Schnittmengen sprechen kann, sondern wo jeder der
drei Bereiche aus ihrer eigenen Logik und Tiefe auf die anderen bezogen sind.
Leibniz sprach ja von den Monaden, die keine Fenster haben und doch miteinander
kommunizieren. Dies ist auch zwischen den drei von Ihnen genannten großen
Bereichen ähnlich.
Überdies
ist m.E. zu dieser Trias die Erforschung der Sprache, ihrer Strukturen und
ihres konkreten Gebrauchs zu ergänzen.
ProMosaik: Gerne würde ich noch eine
persönliche Sorge ansprechen: Mein Eindruck ist, dass die Mehrzahl der
Jugendlichen heute weniger an Politik interessiert ist als in früheren Jahren.
Was ist Ihre Wahrnehmung?
Harald Seubert: Ja, lange war das mein Eindruck.
Auch meine Studentinnen und Studenten scheinen mir teilweise vordergründig sehr
wenig politisiert, zumal wenn man das mit früheren Genrationen, den 68ern, oder
selbst meiner Generation vergleicht. Wo es aber um das fragile Ganze geht, das
Klima als umfassende Conditio sine qua non des gemeinsamen Lebens, dort wurde
plötzlich die politische Leidenschaft dieser jungen Generation deutlich, vor
allem in der Fridays for Future Bewegung. Sehr eindrucksvoll, klug, mit größter
Wirkung. Das muss und wird sich thematisch erweitern, es wird andere
Problemfelder, frei von alten müden Schlagworten aufnehmen und zu einem
Gespräch über mehrere Generation werden. Ich bin überzeugt, dass das neue
politeuein auch viele junge Menschen in Bann zieht, die weit mehr sind als nur
Konsumenten.
ProMosaik: Die englische Übersetzung von
MITEINANDER NEU-DENKEN wird unter dem Titel RE-THINKING TOGETHERNESS noch in
diesem Jahr erscheinen. Sie haben ein Essay dazu verfasst, das als Nachwort in
der englischen Ausgabe zu lesen sein wird. Lässt sich die Botschaft Ihres
Essays in ein paar Sätzen zusammenfassen?
Harald Seubert: Mir geht es in diesem Essay darum,
die neue und inspirierende Kraft der Demokratie aus den europäischen Quellen
herauszuarbeiten und zugleich für sie zu plädieren. Ich gehe davon aus, dass
wir heute in einer Situation leben, die gleichermaßen Krise (Entscheidung,
Unterscheidung) und Kairos (glücklicher Augenblick und Beginn dieses Neuen)
ist. Geschrieben habe ich den Text allerdings kurz vor der jüngsten Krise.
Krisenhaft war allerdings schon lange das Zerbrechen des Gemeinsinns, die
Konstellation einer müde gewordenen ritualisierten Politik einerseits und der
destruktiv ressentimentbehafteten Populisten andererseits. Die neue Politik
wird den gesamten Planeten im Blick haben müssen, eben im Bewusstsein von „uns
selbst als den Anderen“, und nicht in erdrückender Normativität, sondern in gemeinsamer
Kreativität, einem Wir, das das Ich und Du nicht aufgibt, das Leidenschaft mit
Rationalität verbindet. Dies ist eine Perspektive, für die ich mich gerne
weiter begeistere.
ProMosaik: Ich danke Ihnen für die
vielschichtigen Reflexionen zu unseren Fragen.
Links:
https://www.fr.de/kultur/panik-signal-praktischer-vernunft-11974613.html
https://www.lit-verlag.de/publikationen/kulturwissenschaft/73223/miteinander-neu-denken