General

Islam und Coronavirus

Von Milena
Rampoldi, ProMosaik, 29.03.2020. Der Islam sieht sich nicht als Religion im Sinne von “religio”,
sondern als Unterwerfung des Menschen. Der Mensch unterwirft sich dem Willen
und dem Gesetz Allahs. Allah ist der barmherzige Sc
höpfer und Erhalter
allen Lebens. Und der Statthalter der Schöpfung ist der Mensch, den Allah
eingesetzt hat, um die Welt harmonisch und friedlich zu gestalten, indem er
sozio-politisch handelt und lebt.
Als die Engel Allah fragten, warum er diesen Menschen
denn erschaffen hatte, der nur Blut vergießen wird, antwortete Allah mit den
Worten: „Ich weiß, was ihr nicht wisst“.


Der Mensch ist etwas Gutes und wurde in seiner besten Form
erschaffen. Was nicht gut ist, stammt von der Freiheit des Menschen, sich gegen
Allah zu erheben, gegen sein Gesetz zu verstoßen und somit Blut zu vergießen.
Der Islam ist eine Weltanschauung, die sehr stark auf die
Einheit zwischen Körper und Seele, auf die Verbindung zwischen dem Diesseits
und dem Jenseits und auf die fließenden Übergänge zwischen dem Leben und dem
Tod fokussiert. Somit gehört das Coronavirus für den gläubigen Muslim einfach zum
Leben, als Prüfung und nicht als Strafe.
Die körperliche Reinheit gehört im Islam nicht nur zur
Religion, sondern zum Glauben im weitesten Sinne. Der Muslim hat die Aufgabe,
sich Gutes zu tun, seinen Körper und seine Gesundheit zu pflegen, für Hygiene
und Sauberkeit zu sorgen. Dies bezeugen schon die Gebetswaschungen und die
historische Entwicklung von Disziplinen wie Hygiene, Pharmazie und Medizin in
den muslimischen  Gesellschaften. Der
Islam ist eine Religion der persönlichen und sozialen Achtsamkeit.
Somit ist es Aufgabe des Muslims, in der Zeit des
Coronavirus ein Beispiel zu sein für das, was den Islam ausmacht: Reinheit,
Sauberkeit, Hygiene, Pflege des Körpers, fließender Übergang zwischen Leben und
Tod. Der Islam ist eine zutiefst soziale, anti-rassistische und
anti-faschistische Lebensanschauung, in der Menschen Barmherzigkeit und Frieden
in der Gemeinschaft und in der Gesellschaft walten lassen.
Die islamische Gemeinschaft ist eine internationale Gemeinschaft,
die über die nationalen und ethnischen Grenzen hinausgeht, die Güte als Maßstab
zugrunde legt und die Verteilung von Reichtum vorschreibt, um kranke und
schwache Menschen in der Gesellschaft zu unterstützen. Krankenbesuche und
Krankenpflege in der Familie und Gemeinschaft gelten als wesentlicher
Bestandteil des Umgangs der Muslime mit Krankheit und Tod.
In dieser Coronavirus-Phase der durch die Staaten
aufgezwungenen horizontalen Segregationsmaßnahmen gegen alle Schichten und
Altersgruppen ist es die Grundaufgabe des Muslims, sich gegen eine totalitäre
Einschränkung der persönlichen Freiheiten, gegen eine nicht vertretbare
Einschränkung der religiösen und sozialen Aufgaben stellen, um das soziale
Gewebe der Ummah nicht zu schwächen.
Die Gefahr, dass die Viruskrise genutzt wird, um die
muslimische Gemeinschaft vor allem im Westen zu schwächen, aus den Moscheen zu
holen und zu ent-politisieren, ist nicht zu unterschätzen, da der Umgang mit
der Coronakrise vielfach an faschistische Methoden aus der Vergangenheit
erinnert und dies vor allem in europäischen Staaten der Fall ist, die auf eine
faschistische Vergangenheit zurückblicken.
Die Befürchtung der nationalen und nationalistischen
Umdeutung des Guts der Gesundheit und der Achtsamkeit ist nicht unbegründet,
wie es auf ersten Blick aussehen mag. Denn die Nationalisierung des Problems
wird von den Medien nur noch betont. Man spricht ja kaum davon, wie man als
Mensch mit dem Coronavirus umgeht, sondern es geht nur um Nationen, Völker,
Staaten, die sich abschotten und ihre eigenen Corona-Totenzahl auf nationaler
Ebene eindämmen.
Ein globales Viren-Problem, das es immer schon gab, wird
2020 mit nationalen und mediatischen Mitteln gelöst, die ins Totalitäre
entarten. Und ich finde, dass eine multikulturelle, multiethnische und
egalitäre Gemeinschaft wie die der Muslime im Westen vielleicht dagegen steuern
kann.   
Der Mensch heilt nicht den Menschen. Denn „Wenn ich krank
bin, so heilt Allah mich“ (Sura 26/80). Und Krise ist nicht nur etwas
Negatives. Wie Max Frisch so schön sagte: „Krise ist ein produktiver Zustand.
Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“