Mama! Papa! Es gibt keinen Zoo – und keine Affen!
Jürgmeier / 21. Apr 2019 |
Ein Kind, das bloss den eigenen Händchen traut, bekommt Angst. Wer sich nur auf die eigenen Sinne verlässt, lebt in kleinen Welten.
5. April 2019
Ich stelle mir vor, das Kind – das an meinen Enkel erinnert – hätte sich nicht bestechen lassen. Nicht durch Versprechungen, die das Begehrte in die Zukunft verschieben. Die Zukunft, die für so ein drei-, vierjähriges Kind, vermutlich, an einem unbekannten Ort versteckt ist. Es hätte sich nicht ablenken oder beruhigen lassen. Weder durch die Aussicht, ein lebendes Känguru zu sehen und zu riechen. Noch durch die Rakete. Die meisten Eltern und Grosseltern in unseren Breiten- sowie Längengraden wissen, was es mit diesen gefrorenen Dingern auf sich hat. An denen nicht nur Präsidenten und andere Staatschefinnen herumfingern.
Das Kind, schmeichelte mir die Mutter, sei schon ganz aufgeregt. Weil es mit mir in den Zoo dürfe. Mir war nicht ganz klar, wer sich mehr über diesen Ausflug freute – die Mutter oder das Kind. «Kommst du auch mit?» Fragte das Kind die Mutter. «Nein, ich muss arbeiten, aber ich würde auch viel lieber mit euch zu den Affen.» Sie hatte ein halbes Jahr nach der Geburt des Kindes wieder mit der Arbeit begonnen – bezahlter. In ihrem eigenen Grafikatelier. Direkt unter der Wohnung. Sie war vor allem mit der Gestaltung verschiedener Buchreihen eines bekannten Verlags beschäftigt, inklusive E-Book-Ausgaben. Ein Auftrag, den sie nicht nur des Geldes wegen übernommen hatte. Der aber dazu beitrug, dass das Kind sich vor seinen Gspänli nie für seinen Haarschnitt schämen musste. Und das war in diesem Quartier keine Selbstverständlichkeit.
Das Kind war vernünftig. Gab mir die Hand, die noch ein Händchen war, während Äpfel nicht zu Äpfelchen werden, nur weil Kinder sie essen. Wir begleiteten die Mutter in den unteren Stock. Ich nahm die Tasche mit den Windeln, ultrasensitiven Feuchttüchern und Abfallsäckli, mit Wasserfläschchen, Früchtefreund und Darvida. Kinder verhungern ja heutzutage so schnell. Es liess sich in den Wagen setzen und festbinden. Ohne zu reklamieren. Die Unzertrennlichen winkten einander, bis die Bäume sie endgültig auseinanderrissen. Das Kind quietschte vergnügt, als es die Flühgasse hinunterging. Zeigte bei der Garage mit leuchtenden Augen auf den frisch gespritzten Bagger. Aber schon beim Bahnhof Tiefenbrunnen – wir waren noch nicht unter den Gleisen durch – verzerrte sich sein munteres Gesichtchen zu einer jämmerlichen Fratze, und es begann zu weinen. Brüllte eins ums andere Mal sein «Mama!» in den leicht bewölkten Zürcher Himmel hinauf. So dass ich Angst bekam, selbst die Pressierten könnten sich von ihren Notwendigkeiten ablenken, die Finger von FacebookInstagramTwitter lassen, um die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden KESB zu alarmieren.
Früher hatte ich das Weinen von Kindern und anderen Menschen nicht ertragen. Tat alles, um es zu beenden. Schnitt Grimassen. Übte unbeholfen den Kopfstand. Verteilte rissfeste Papiertaschentücher. Jetzt wollte ich gelassen sein und es nicht persönlich nehmen. Schon weil der Trottoirbelag selbst für meinen Kopf zu hart war. Ich pries den Zürcher Zoo an, als wäre ich an den Eintrittsgeldern mit mindestens zehn Prozent beteiligt. Aber das Kind stiess meine tröstende Hand weg. Wiederholte seinen zweisilbigen Refrain. Machte klar – es wollte den Tag nicht mit mir verbringen. Nicht einmal, wenn das Gorillababy uns zu den Pinguinen begleiten würde.
«Hast du Angst, dass die Mama weg ist, wenn wir zurückkommen?» Bemühte ich mich, die Situation empathisch in den Griff zu bekommen. Das Weinen wich einem geschluchzten Nicken. Vorübergehend. Ich versprach, was mich im schlimmsten Fall – Mutter irgendeinem Ruf gefolgt oder tot – meine ganze Glaubwürdigkeit gekostet hätte. «Die Mama ist da, wenn wir nach Hause kommen. Ganz sicher.» Versuchte, das Kind mit der Fütterung der Raubtiere zu locken. Anschliessend könnten wir ja mit der Mutter telefonieren. Über Facetime oder Whatsapp. Dann könne es die Mama sogar sehen und ihr erzählen, was die Löwen zu fressen bekommen. Das Kind traute weder der Zukunft noch der Technik. Wollte die Mutter analog sehen und berühren. Subito. Also zurück. Durch die Seefeldstrasse. Die Flühgasse hinauf. Am Bagger vorbei. Die Mutter sass an ihrem Tisch. Nahm das Kind in die Arme und tröstete es. «Du bekommst sicher ein Glacé.» Das Kind strahlte, liess sich von Affen und Zucker verführen, gab mir das Händchen, und wir machten uns wieder auf den Weg.
Diesmal schrie es schon vor dem Haus nach der Mutter. Ich appellierte an sein Erinnerungsvermögen. «Du hast doch gesehen, dass die Mama an ihrem Tisch sitzt. Da sitzt sie immer noch. Bestimmt.» Gebrüll. Wusste es nicht mehr, wen es vor drei Minuten gesehen? Oder glaubte das Kind mir nicht, dass sich die Welt nicht so schnell ändert? Drei Mal, mindestens, rüttle ich selbst an der Türe, die ich eben gerade geschlossen. (Wer hätte sie in der Zwischenzeit öffnen sollen?) Immer wieder drücke ich die Klinke kräftig nach unten und zweifle, kaum habe ich sie losgelassen. Neuerdings laufe ich nochmals in die Wohnung zurück, um zu kontrollieren, dass mein Zimmerfenster – wenn ich es nach dem morgendlichen Lüften nicht geschlossen hätte, würde ich längst an die Finger frieren – nicht offen steht. Irgendwann werde ich den Zug verpassen, weil ich an der Busstation der Skepsis nachgebe, nach Hause renne, um es mit eigenen Augen zu sehen, mit meinen Händen zu spüren – Computer und Herd sind abgestellt, Fenster und Türen zugesperrt. Aber wo ist der Mond, und der Baum – steht der noch, wenn ich nicht hinsehe?
Die Mutter sass immer noch da, liess sich nochmals mit Kinderhändchen greifen, erneuerte ihre Versprechungen – dann ging’s wieder die Flühgasse hinunter. Das Kind spiegelte sich im Bagger. Aber statt sich im Zürihorn an der Heureka zu begeistern, versuchte das Kind, das QuietschenRatternHämmern von Tinguelys erster «Leerlaufmaschine» mit seinem «Mama!» zu übertönen. Und hörte nicht auf, als die bewegte Kunst nach acht Minuten erstarrte. Glaubte mir nicht, dass die Mutter immer noch vor ihrem Desktop sass. Warum glauben Kinder an den Osterhasen und das Christkind, aber nicht an die grünen Elefanten, von denen ich ihnen auf Ansichtskarten aus den Bergen berichte? Glauben sie nur ihren Eltern? Alles? Wem glauben wir – dem Klimarat oder der Weltwoche? Denen, die behaupten, Männer und Frauen seien erst mit den Wörtern «Mann» und «Frau» in die Welt gekommen? Oder jenen, die auf der naturgegebenen Polarität der Geschlechter bestehen? Weil uns das eine beruhigt, das andere in Panik versetzt? Wie viele Narben, wie viele abgehackte Finger braucht es, damit wir Flüchtenden abnehmen, dass sie an Leib und Leben bedroht waren? Was genügt uns als Beweis für einen Mord? Was für die Unschuld? Wie ängstlich muss der Blick sein, damit uns ein Mensch als Opfer glaubwürdig erscheint?
Der Bagger war weg. Das Kind glaubte mir nichts mehr und schrie das in die Flühgasse hinaus. Aber die Mutter sass da. Wie eine Skulptur. Und wieder lockte der Zitteraal. Wir waren schon am Chinagarten vorbei, rechter Hand liessen Mütter und vereinzelte Grossväter die Kleinen in «Guantanamo» spielen – wie einige den vergitterten Spielplatz am Rand der Blatterwiese nennen –, da erinnerte sich das Kind daran, dass es einen Vater hatte. Im Zehn-Sekunden-Takt schrie es nach «Papa!» Liess sich nicht durch den Hinweis beruhigen, der sei in der Schule und dürfe nicht gestört werden. Ob es Angst habe, es könnte auch den Papa nie mehr sehen, wollte ich wissen. Etwas ungeduldig geworden. Es fühlte sich verstanden – und glaubte mir nicht. Die Vorstellung, dass ein Vater, den es nicht sah, einfach nur an einem anderen Ort war und am Abend (wann ist das in Kinderköpfen?) wieder nach Hause kommen würde, war ihm zu abstrakt.
Welchen Berichten wird das Kind, erwachsen geworden, vertrauen? Welche Statistiken wird es selbst durchrechnen? In welche Länder reisen, um sich vor Ort zu vergewissern, dass da Menschen gefoltert, Giftgas eingesetzt und Bomben abgeworfen werden? Wohin fliegen, um das arktische Eis schmelzen, Kinder verhungern zu sehen? Oder auch nicht? In welcher Welt wird es leben, wenn es nur den eigenen fünf Sinnen vertraut, allenfalls noch ausgewählten Erzählungen von Freunden oder Kolleginnen? «Papa!» Riss mich das Kind aus meinen Gedanken. Der Papa wirkte etwas verlegen, als ich in seine Mathematikstunde im Rämibühl platzte und ihm sein Kind an die Brust drückte. Die Schüler*innen freuten sich über die willkommene Abwechslung. Schmunzelten, als der Mann – der ihnen sonst schwerstverständliche Berechnungen von Integralen zumutete – in einfachen Hauptsätzen zu reden und seinem Kind Dinge zu versprechen begann, die ihnen auch lustvoller erschienen, als das, was ihnen bevorstand. Er hatte Erfolg. Das Kind gab mir das Händchen, und wir marschierten wieder einmal los.
Bei der Haltestelle Kantonsschule stellte ich fest – wir würden frühestens zehn Minuten vor Türschliessung im Zoo ankommen. «Jetzt ist es zu spät», beschied ich dem Kind, «jetzt fahren wir wieder nach Hause – zu Mama und Papa.» Das Kind brüllte los: «Du hast es mir versprochen, dass wir in den Zoo gehen!» Begann Kängurus, Affen, Löwen, Pinguine, Popcorns und Zitteraal einzufordern. Immerhin hatte ich ihm bei der Badi Utoquai eine Rakete gekauft. Aber daran schien es sich nicht mehr zu erinnern. Es wälzte sich mit rotem Kopf am Boden, als hätte ich sein ganzes Spielzeug im Brockenhaus abgegeben, den Nuggi in den Mistkübel geworfen und das hippe Biosäftlein in den See fallen lassen. Jetzt wollte es nicht nach Hause. Wollte in den Zoo. Interessierte sich weder für Papa noch für Mama. Sah mich an, als wäre ich die Hexe aus «Hänsel und Gretel» und schien nur darauf zu warten, mich in irgendeinen Ofen schubsen zu können. «Du hast mich angelogen!» Schrie es. «Dir glaube ich nichts mehr!» Lenkte missbilligende Blicke von Passant*innen auf mich. «Es gibt keinen Zoo – und keine Affen!»