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«Es gibt keinen Planet B» oder An die Nochgeborenen

Jürgmeier / 25. Jun 2019
Die Klimajugend sagt es laut: Nicht mehr reden – handeln! Was bedeutet das für die Demokratie? Ein Einwurf von der Seitenlinie.


15. Juni 2019
Liebe P., lieber S.
Ich habe gezögert, ob ich euch schreiben oder schweigen soll. In eurem «Brief an Eltern» habt ihr im April festgestellt: «So, wie ihr heute lebt, werden wir nicht mehr leben können. Warum tut ihr nichts?» Nach vielen Jahren ging ich in diesem Frühling wieder einmal in Zürich auf die Strasse. Folgte dem Aufruf zu eurer Klimastreik-Demo vom 24. Mai. Auch wenn das «Mitmarschiere – solidarisiere» mir immer noch wie ein Marschbefehl in die Ohren sticht. Wie in alten Zeiten bewegte ich mich an den Rändern der bunten Menge, die auch einen kleinen «Klimawald» durch die Strassen schob. (Ganz vorne traf ich zwei, drei von denen, die sich schon Anfang der Achtzigerjahre in diesem Niemandsland zwischen Zugspitze und Polizei aufhielten.) Ich blieb an der einen oder anderen Strassenecke stehen, schaute euch, wie damals euren Vorfahren, aus Angst vor dem Absehbaren, mit traurigen Augen nach oder entgegen. Ich hab’s nicht so mit dem Gleichschritt. Nicht einmal aus Protest. In jenen autonomen Jahren habe ich mich dank dieser individualistischen Bewegungstechnik dem Eingeschlossenwerden durch die «Trachtengruppe Urania» – die auch euch, zwar mit kugelsicherer Weste und Dienstpistole, aber in leichtem Tenue, ohne Helm und Schild, begleitete – regelmässig und erfolgreich entziehen können.
Die Nachgeborenen stapfen allealle durch Neuschnee
Ich machte auch fast vierzig Jahre später nicht mit, als ihr das «Ufe mit de Klimazyl, abe mitem CO2» vorturntet. Wollte mich nicht lächerlich machen. Schliesslich könnte ich euer Grossvater sein. Da droht selbst die Freude über euer «Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut» zur Belehrung zu verkommen. Was wäre meinem Alter angemessen? Rote Sneakers oder schwarzes Sakko? Einmischen oder verstummen? Wenn ihr wirklich meine Enkel wärt, ich würde, bestimmt, allen erzählen, die P. und der S. seien jetzt auch bei der «Klimajugend». Wäre solcher Stolz schon Vereinnahmung? Jedes «Aber» eine faule Ausrede? Der kleinste Hinweis auf vergangene Erfahrungen ein unerwünschter, weil entmutigender Rat-Schlag? In welchem Alter muss sich eine oder einer aus dem öffentlichen Leben verabschieden? Ausgenommen, er oder sogar sie will mit (fast) achtzig unbedingt noch US-Präsident*in oder Papst werden? Während ihr – obwohl euch fast alle nach dem Mund zu reden scheinen – noch nicht wirklich in den Sphären von Einfluss und Macht angekommen seid, habe ich das Gefühl zu verschwinden. Die Spuren dessen, was wir, was ich getan – sie sind längst zugeschneit. Kurt Tucholsky, kennt ihr Tucholsky?, der kleine dicke Berliner, der mit der Schreibmaschine eine Katastrophe [den Nationalsozialismus, Jm] aufhalten wollte1, irrte mit seinem Text «Es gibt keinen Neuschnee». «..so hat schon einer geglaubt, gezweifelt, gelacht, geweint und sich nachdenklich in der Nase gebohrt, genau so.» Schreibt Tucholsky. «Es ist immer schon einer dagewesen.» Trotzdem – die Nachgeborenen stapfen allealle durch Neuschnee.
Ihr wollt uns in Panik versetzen. Lese ich. Verlangt das grosse Ganze. «System Change, not Climate Change.» Fordert ein Leben. Noch. Und alles jetzt. Subito. Wie eure Vorgeborenen. Uns werft ihr vor, wir hätten und hätten nicht. Zu Recht. Womöglich. Hätten eure Zukunft verspielt. Dem Wachstum von allem nur zugeschaut. Statt geschrien und getan, was getan werden musste und muss. Unser Leben – verlorene Jahre. Unseren Nachlass, eure Erbschaft konntet ihr nicht ausschlagen. Nur, fragt der Schreiber, fragt es trotzig: Wer ist «wir»? Und wer seid «ihr»? Blieben nicht die meisten von «euch» in den Schulzimmern sitzen? Gab es unter den vielen «Wir» nicht auch das eine oder andere, das, lange vor eurer Geburt, die Zeichen erkannt? Nicht wenige, die verzweifelt sind? Der Kränkbare erinnert sich an Aussagen – tief aus dem letzten Jahrhundert, als wären sie für heute geschrieben. Wenn es so weitergeht, geht es nicht weiter. Zum Beispiel. Wenn er in seinen alten Texten und Büchern blättert, findet er Sätze, die an eure Zukunft erinnern. «Fünf nach zwölf – na und?»2 Titel eines Buches, herausgegeben 1983. In Zeiten der Angst vor dem «Big Bang» (als Folge des befürchteten Dritten Weltkriegs und/oder der Umweltzerstörung). Oder die Zeilen, die er, 1986, für die «Waldhandschrift» verfasst:
An Nachgeborene3 oder In den Wind geschrieben
…Ihr Nachgeborenen,
Habt Nachsicht,
Unsere Arme waren zu schwach,
Unser Aufschrei zu halbherzig;
Wir, geboren in den Häusern kleiner Leute,
Hatten nichts zu sagen, denn wir waren
Die Herren nicht, die Knechte nur unsrer Zeit,
Und nur Helden hätten die Bäume schützen können,
Aber die Helden starben mit den Märchen,
Die Märchen mit dem Wald.
Ihr Nachgeborenen,
Habt Nachsicht,
Dass wir den grossen Herren nicht ins Wort,
Ihren Schergen nicht in die Arme fielen,
Nicht «Nein!» sagten,
Als sie uns den Preis
Für unsern Lohn abverlangten;
Die Bäume unserer unsicheren Existenz opfernd,
Konnten, mussten wir wissen,
Dass es euer Untergang sein würde… 
Gescheitert an Realitäten, die auf ökonomischen
und politischen Sand gebaut sind
Aber die Bäume, sie starben nicht. Nicht alle. Und wir, wir leben ja noch. Die meisten. Ihr wurdet, obwohl den ökologischen Fussabdruck eurer Eltern vergrössernd, trotz allem noch geboren. Das schlagen sie euch (und uns) um die Ohren. «Wie damals das sogenannte Waldsterben wird heute der Klimawandel missbraucht für Verunsicherung, für Panikmacherei und für das Herunterreissen aller bewährten Werte unserer bürgerlichen Gesellschaft.»4 «Auf die schrille Panikmache soll der sozialistische Umbau unserer Gesellschaft folgen.»5 «Wer spricht denn noch davon? [dem Waldsterben und dem Ozonloch, Jm] Die Welt wird auch dieses Mal nicht untergehen… Das Modethema Klima geht wieder vorbei. Man muss einfach warten.»6 Alle, fast alle machten weiter. Damals. Irgendwie. Obwohl auch den Tüchtigsten längst klar war, dass die nutzlose Musse euer Leben besser schützen würde als die effiziente Produktion von (überflüssigen und tödlichen) Mehrwerten. Die Trommeln von Marschmusik und Techno vertrieben bei den meisten die aufkommende Panik.
Wir standen, in den Siebzigern, auf den Zufahrtswegen zum projektierten «Kernkraftwerk» Gösgen, zu Tausenden – gegen das Atom. Als viele noch die saubere Energie beschworen. Vor HarrisburgTschernobylFukushima. Auf den Bahnhöfen riefen sie uns nach: «Schaffe statt demonstriere.» Das aktuelle Echo: Lernen statt schwänzen. Heute kündet die Wolke über dem Kühlturm schweizweit von unserer Niederlage. Wir waren zu wenige. Wie viele seid ihr? Was wäre euch lieber – dass wir nichts getan und das kurze Leben genossen? Oder dass wir alles getan und verloren hätten? Wir, die wir schrieben «Utopisch Anmutendes wird diesen Planeten retten»7 und fragten «Was halten Sie für realistischer? Realpolitische Massnahmen oder Utopien?»8, wir sind gescheitert. An Realitäten, die auf ökonomischen und politischen Sand gebaut sind.
Keine Zeit mehr für Demokratie
Auch ihr werdet auf Realitäten verwiesen. «Ihr könnt alles fordern, was ihr für richtig haltet.» Erlaubt euch der Zürcher FDP-Stadtrat Filippo Leutenegger grosszügig9. «Das habe ich auch gemacht als Junger. Das ist auch richtig. Aber wenn man ein bisschen älter wird, kommt man auf den Boden der Realität.» Heisst – alles halb so schlimm. Der Weltuntergang wird noch ein wenig verschoben. Nur, Realitäten haben meist einen doppelten Boden. Mindestens. Das musste auch Roger Schawinski zur Kenntnis nehmen. Nach der Klimademo vom 2. Februar 2019 lud er ein paar von euch ins Studio seines Radio 1 ein. Wollte wissen: «Wie gross schätzt ihr die Chancen ein, dass das passiert?» Meinte: Netto Null CO2 bis 2030. Die Gegenfrage «Wie gross schätzt du die Chancen ein, dass wir überleben?» irritierte den Sprachgewaltigen10. Gegenfragen sind in harten Interviews nicht vorgesehen.
Die Szene enthüllt beklemmende Wirklichkeiten: Zum einen bleibt uns nicht mehr viel Zeit zu handeln. «Point of no return» hiess das in den Siebzigern. Zum anderen brauchen demokratische Entscheidungsprozesse Zeit, viel Zeit. In eurem «Brief an Eltern» schreibt ihr: «Wir müssen nicht mehr diskutieren, wir müssen handeln.» Gilt das nur fürs Klima? Müssen sich die Opfer von KriegHungerGewalt gedulden, weil es sie ohne Klimawende nicht mehr gibt? Oder gilt es fürs grosse Ganze? «Die Klimastreikbewegung hat kein geringeres Ziel als das Schaffen einer neuen Gesellschaft.»11 Schreibt ihr. Den alten Mann freuts, und sein basisdemokratisches Herz jubelt, als er in der ersten Nummer von netto.null12 liest: «Wenn Kooperation zur Pflicht wird: Es herrscht* Konsens… Die vorherrschenden Machtkonzentrationen und Funktionsweisen der Entscheidungsfindung haben die missliche Lage unseres Planeten zu einem grossen Teil zu verantworten. Der Konsens zielt darauf ab, allen Menschen das Recht zur Gestaltung ihrer gemeinsamen Zukunft zuzusprechen» (Seite 14ff). Sind «alle» nur jene, die eure Gebärden verstehen, «an eine andere Welt glauben und bereit sind, dafür zu kämpfen»? (Seite 1) Oder wirklichwirklich alle? Und wenn, fragt mein verzweifelter Kopf, wie lange braucht ihr, brauchen wir, um uns auf eine andere Welt und darauf zu einigen, was, jetzt, zu tun ist? Mit Köppel-Anhänger*innen, Wachtumsoptimist*innen sowie jenen, die Menschen nur noch als ökologische Fussabdrücke sehen und längst begonnen haben, sich eine radikal geschützte Natur, eine Welt ohne Menschen vorzustellen. Oder würdet ihr all denen das Stimmrecht entziehen? Weil keine Zeit mehr ist – für Demokratie, lange Reden und zähe Verhandlungen? Und wer, denkt ihr, hat mehr Erfahrung in erfolgreicher Machtergreifung und der Errichtung schneller Diktaturen?
Fragt ein besorgter Grossvater, der schon lange nicht mehr weiterweiss, der eure Hoffnungen teilt und, vermutlich, gerne in eurer Welt gelebt hätte
Jürgmeier
1 Erich Kästner über Tucholsky, https://tucholsky-gesellschaft.de/kurt-tucholsky/
2 Jürgmeier (Hrsg.): Fünf nach zwölf – na und? Sind wir die Endzeit-Generation?, Basel: Nachtmaschine, 1983
3 Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen, aus dem Zyklus der Svendborger Gedichte, am 15.6.1939 in Die neue Weltbühne, in Paris, veröffentlicht.
4 Roger Köppel, www.rogerköppel.ch/blog/eine-freie-schweiz-gibt-es-nur-ohne-rahmenabkommen/, 30.3.2019
5 Albert Rösti, Extrablatt der Schweizerischen Volkspartei, Ausgabe Juni 2019
6 Christoph Blocher, Medienkonferenz in Zürich, www.telebasel.ch/2019/04/16/christoph-blocher-das-modethema-klima-geht-wieder-vorbei, 16.4.2019
7 WWF Schweiz/Jürgmeier (Hrsg.): Menschereien – Unsere Umwelt fordert 52 Autoren heraus, Zürich: WWF Schweiz, 1973, Seite 285
8 Jürgmeier (Hrsg.): Fünf nach zwölf – na und?, Seite 9, siehe Fussnote 2
9 Tagesanzeiger: Leutenegger tappt in die Klimafalle, 6.6.2019 (kostenpflichtig)
10 SRF-DOK: Wenn die Jungen aufbegehren, 14.3.2019
11 netto.null, Nummer 1, Seite 1
12 do. Verlag Jugend fürs Klima Zürich, Ausstellungsstrasse 21, 8048 Zürich