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Sprachgeschwurbel in Sachen Antisemitismus – Zur Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)

Von
Rudolph Bauer, 4. Januar 2018. Bundesinnenminister de Maizière hat sich nach den
Dezember-Demonstrationen 2017 in Berlin, ausgelöst durch die Entscheidung des
US-Präsidenten, Jerusalem als Hauptstadt von Israel anzuerkennen, für einen
Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung ausgesprochen. Drei Monate zuvor,
am 20. September 2017, hatte das Bundeskabinett beschlossen, sich die
Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)
zu Eigen zu machen (siehe Kasten). Die als “Arbeitsdefinition”
bezeichnete regierungsamtliche Begriffserklärung soll in Zukunft der Polizei
und auch den Gerichten Orientierung bei ihrer Arbeit geben.


Die
Bundesregierung folgte mit ihrem Beschluss einer am 31. Mai 2017 verabschiedeten
Empfehlung des Europaparlaments an die europäischen Staaten, die IHRA-Definition,
welche in Großbritannien und Österreich bereits Gültigkeit besaß, ebenfalls zu
übernehmen. Vorarbeiten für den Beschluss des Europaparlaments hatte eine
“European Parliament Working Group in Antisemitism” geleistet. Als
Sekretariat dieser Arbeitsgruppe fungierte der European Jewish Congress mit Berliner
Büro und Hauptsitz in Paris, gegründet vom europäischen Zweig des Jüdischen
Weltkongresses.
Die
IHRA ist eine 1998 gegründete zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Berlin.
Die englischsprachige Wikipedia hält deren Arbeitsdefinition für die weltweit am
meisten verbreitete Auslegung des Begriffs Antisemitismus. Es sind also mehrere
gewichtige Gründe, weswegen es angebracht ist, die IHRA-Definition kritisch
unter die Lupe zu nehmen.
Die englische Fassung der IHRA-Definition lautet: “Antisemitism is a certain perception of Jews,
which may be expressed as hatred toward Jews. Rhetorical and physical
manifestations of antisemitism are directed toward Jewish or non-Jewish
individuals and/or their property, toward Jewish community institutions and
religious facilities.”
Ins Deutsche
übersetzt (und die deutsche Übersetzung ist hier Gegenstand kritischer Anmerkungen)
lautet die „Definition“:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass
gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder
Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum
sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

In erweiterter Form umfasst die
Definition einen dritten Satz des folgenden Wortlauts: „
Darüber hinaus kann auch
der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel
solcher Angriffe sein.“

1. Wahrnehmung statt
Vorurteil
Die
Erklärung eines Begriffs dient zur genauen Erläuterung und klaren Bestimmung
seiner Bedeutung. Davon kann im Fall der von der IHRA vorgeschlagenen
Arbeitsdefinition („working definition“) des Antisemitismus keine Rede sein.
Als Definition – von lat. definitio, ursprünglich Umgrenzung – gilt im
weitesten Sinne jede Art der Feststellung oder Festsetzung einer
Zeichenverwendung: hier der Kennzeichnung „Antisemitismus“. Von einer
Definition ist zu erwarten, dass sie bestimmten Maßstäben genügt und
methodische Regeln befolgt, die je nach Zusammenhang unterschiedlich sein
können. Sie soll vor allem verständlich sein, zweckmäßig, adäquat und
begründet. Sie darf nicht unbestimmt oder gar irreführend und manipulierend
sein. Eine eindeutige, bereits getroffene Definition später weiter auszudehnen,
wie es am Beispiel der “erweiterten Antisemitismusdefinition” der
IHRA der Fall ist, verunsichert und führt zur Verwirrung statt zu mehr
Klarheit.
Die
IHRA-Definition besagt, Antisemitismus sei eine bestimmte Wahrnehmung. Antisemitismus ist
jedoch keine Wahrnehmung, sondern ein Vorurteil, gleichbedeutend mit einer
Falsch- oder Unwahrnehmung. Der Antisemitismus als Vorurteil pflegt Feindbilder,
die sich einer vernünftigen Argumentation verweigern und welche die
menschlichen Denk- und Handlungsmöglichkeiten einengen. Kern der gefühlsmäßigen
Voreingenommenheit ist das Feindbild „Jude“, gepaart mit dem sinnlosen Hass
gegen „die Juden“ aus dem einzigen Grund, weil sie „Juden“ sind. Selbst dieses „Jude“-Sein
unterliegt aus antisemitischer Blindheit keiner begrifflichen Bestimmung und entspricht
schon gar nicht dem Selbstbild der Betroffenen. Das antisemitische Vorurteil wird
aus weltanschaulich angereicherten Begründungen – etwa der “Rassenzugehörigkeit”,
der “Geschäftstüchtigkeit”, dem “Schmarotzertum” oder unterstellten
“Weltherrschaftsplänen” – abgeleitet, um die Entrechtung, Gettoisierung,
Verfolgung oder Ermordung “der Juden” rechtmäßig erscheinen zu
lassen.
Als
Wahrnehmung wird beim Menschen der Vorgang bezeichnet, sinnliche Reize aufzunehmen
und zu verarbeiten. (In der englischen Fassung der IHRA-Definition ist die
Formulierung „perception“ nicht auf die Wahrnehmung sinnlicher Reize
beschränkt; das Wort kann auch eine Idee, eine Vorstellung oder Auffassung
meinen.) Der in der deutschen Übersetzung verwendete Begriff “Wahrnehmung”
beschreibt ein Mit-den-Sinnen-Erfassen. Sinnlich erfasst wird z. B. ein
Geräusch, ein Geruch, ein Geschmack, etwas Tast- oder Sichtbares. Die deutsche IHRA-Definition
legt nahe, dass Juden wahrgenommen werden, d. h. dass man sie mit Hilfe der
Sinneswahrnehmungen erkennt. Hier wabert womöglich ein rassistisches Vorurteil.
Auch die Nazi-„Rassenlehre“ hat “Juden” an äußerlichen Merkmalen
festgemacht. Eine Definition des Antisemitismus, die sich aus sinnlicher
Wahrnehmung speist, ist also im Kern selbst vorurteilsbehaftet. Es scheint hier,
als wolle man den Teufel durch Beelzebub austreiben: den Antisemitismus durch
Rassismus.
Wenn,
wie im vorliegenden Fall, definitorisch nicht nur von Wahrnehmung die Rede ist,
sondern zusätzlich von einer bestimmten (!) Wahrnehmung, dann stellt sich die
Zusatzfrage, wodurch die Wahrnehmung bestimmt ist, d. h. genau festgelegt,
entschieden und gewiss. Darauf gibt die IHRA-Definition keine Antwort. Sie
lässt offen, von welcher bestimmten Wahrnehmung die Rede ist. Insoweit ist sie ungenau
und beliebig – also keine zweckmäßig brauchbare Definition mit verstandesmäßig
verbindlichem Anspruch.
2. Juden und Nichtjuden
Die
Definition seitens der IHRA besagt, Antisemitismus sei eine bestimmte
Wahrnehmung von Juden.
Allein schon der Gebrauch des Zweiten Falls ist uneindeutig und ambivalent. Es
bleibt zunächst unklar, ob es sich um einen Genitivus objectivus handelt („Juden
werden als etwas wahrgenommen“) oder um einen Genitivus subjectivus („Juden
nehmen etwas wahr“).
Angesichts
dessen, was heute auf hartnäckige Weise als „erweiterter Antisemitismusbegriff“
ins Feld geführt wird (davon ist später noch die Rede), könnte es sich um einen
Genitivus subjectivus handeln: um die Auffassung eines Antisemitismus, wie er
etwa durch den Publizisten Henryk M. Broder oder den Vorsitzenden des
Zentralrats der Juden verbreitet wird. Aus dem Nachsatz geht allerdings hervor,
was gemeint sein soll: nämlich das Wahrgenommen-Werden von Juden (Genitivus
objectivus) – wobei die Bezeichnung „Juden“ nicht näher erläutert wird. Es bleibt
den Lesenden überlassen zu deuten, ob „Juden“ sich auf die bekennenden
Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft bezieht (orthoxe oder ultraorthodoxe
Juden) oder auf liberale, nichtorthodoxe Personen jüdischen Glaubens oder
jüdischer Herkunft, Abstammung, Familienzugehörigkeit bzw. ob es sich um
israelische Staatsbürger/innen handelt, jüdische und nicht-jüdische, darunter
auch muslimische Israeli, oder ob von den Getöteten des Genozids die Rede ist,
denen von den Nazis rassistische Judenmerkmale zugeschrieben wurden.
Sinnvoll
wäre es, in der Definition deutlich zu machen, dass „den Juden“ im Rahmen des rassistischen
Antisemitismus eine Sündenbock-Rolle aufgeladen wurde und wird. Sie werden
unter Anklage gestellt und schuldig erklärt für all das, was wirtschaftlich und
gesellschaftlich aus dem Ruder und schief läuft. Vergleichbares widerfährt „den
Moslems“ im Rahmen des Antiislamismus oder „den Christgläubigen“ in Ländern mit
Christenverfolgung. Der rassistische Antisemitismus lenkt in unangemessen
weltfremder Weise ab von den tatsächlichen Widersprüchen der politischen
Ökonomie, indem er deren Ursachen individualisiert („der Jude ist schuld“) oder
gruppenbezogen personalisiert („die Juden sind schuld“).
Umgekehrt
verhindert der Antisemitismusvorwurf nach Maßgabe der IHRA-Definition aber auch
einen sozialwissenschaftlichen Zugang zur tatsächlichen Rolle und zum
wirklichen Einfluss von Anhängern religiöser oder gesellschaftlicher Gruppen.
Zu ihnen gehören nicht nur diejenigen, die Mitglieder jüdischer Gemeinschaften
sind oder diesen nahe stehen. Eine empirische Untersuchung etwa des
katholischen Opus Dei ist kein antikatholischer Akt, eine Studie über die Mafia
in den USA kein antiitalienisches oder antiamerikanisches Projekt. Es muss
möglich und erlaubt sein, Macht- und Einflussstrukturen von Gruppen mit
gesellschaftlichem oder religiösem Hintergrund vorurteilsfrei zu erforschen.
3. Antisemitismus ohne
Antisemiten
Die
IHRA-Definition besagt, es handle sich um eine Wahrnehmung, die sich gegenüber Juden ausdrücken kann. Kann sich eine Wahrnehmung überhaupt ausdrücken? Ein
wahrgenommenes Geräusch beispielsweise drückt sich nicht aus. Es ist vielmehr
selbst ‘Ausdruck’ und Ergebnis von etwas – beispielsweise einer Explosion. Es
bedarf vielmehr einer Person (eines Subjekts), die etwas wahrnimmt und das
Wahrgenommene dann wiedergibt: ausdrückt, formuliert, in Worte fasst.
Eine
Wahrnehmung, die sich gegenüber einer jüdischen Einzelperson oder der Personengruppe
„Juden“ ausdrückt, bedarf also einer Vermittlung (z. B. mit Hilfe von Medien
oder der Propaganda) bzw. eines die Wahrnehmung mitteilenden Subjekts, also des
bzw. der Antisemiten. Würde sie unmittelbar erfolgen, ohne eine vermittelnde
Instanz oder Person, wäre das ein absonderlicher Vorgang. Einen gedanklichen
Vorgang auf dieselbe Weise wie einen wirklich Handelnden als aktiv bzw.
vermittelnd einzuführen, ist sprachschwurbelige Taschenspielerei.
4. Das Phänomen
beschwören, aber die Ursachen vernachlässigen
Die
an dieser Stelle in der Definition verwendete Kann-Formulierung, dass
Wahrnehmung sich ausdrücken kann, impliziert
verschiedene Bedeutungen. “Können” meint so Unterschiedliches wie:
(a) fähig und in der Lage sein („laufen können“); (b) eine Sprache beherrschen
(„Hebräisch können“); (c) die Möglichkeit haben („ein Studium aufnehmen können“);
(d) die Erlaubnis haben, etwas zu dürfen („mit Billigung der Eltern einen
Freund besuchen können“); (e) möglich oder denkbar sein („etwas kann sich ereignen“).
Gesetzt
den Fall, dass – wie anzunehmen ist – Letzteres gemeint ist, stellt sich die
Frage, unter welchen Bedingungen oder Voraussetzungen die Möglichkeit eines
Ereignisses oder einer Entwicklung in Realität umschlägt, zur Wirklichkeit wird.
Darüber gibt die IHRA-Definition keine Auskunft. Die sonstigen Bedeutungen
lassen – falls sie denn gemeint sind – offen, wie die entsprechenden Fähigkeiten
oder Möglichkeiten entstanden sind (und wie man ihr Entstehen oder Ausbreitung verhindern
kann).
Das
Fehlen einer Ursachenuntersuchung und die Ungenauigkeit der definitorisch
unzweckmäßigen Ausdrucksweise haben zur Folge, dass der Gedanke einer
Bekämpfung oder Vermeidung des Antisemitismus gar nicht erst aufkommt. Antisemitismus
erscheint als eine Art Naturereignis oder naturgegebene gesellschaftliche Erscheinung,
deren Entstehung im Dunkeln bleibt, aber auch nicht weiter interessiert. Dieser
Mangel – man könnte fast meinen, dass die Vernachlässigung der
Ursachenforschung ein Zeichen dafür ist, am weiteren Fortbestehen des
Antisemitismus interessiert zu sein, nicht an seiner wirklichen Bekämpfung – bestätigt
sich auch im Folgenden.
5. Abscheu statt Untersuchung
Antisemitismus,
so heißt es gemäß IHRA-Definition, sei eine Wahrnehmung, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken
kann. Gemeint ist offenbar eine Einstellung gegenüber „den Juden“, die sich nicht
zuletzt als Hass zeigt. Hass wird in der Definition auf widersinnige Weise zum
Ausdruck einer Wahrnehmung erklärt. Hass ist jedoch eine irrationale, nicht
verstandesmäßig gesteuerte Emotion, die sich
in Form von grundsätzlicher Abneigung auswirken kann. Allerdings gilt auch
hier, dass sich nicht jede Form einer radikalen Demonstration von Protest und
Widerspruch zurückführen lässt auf Hass. Auch an dieser Stelle bleibt die Definition
unbestimmt.
Die starken negativen Gefühle des Hasses
lösen bei den Hassenden Abneigung und Verachtung aus. Sie zeigen sich
in der Praxis als
feindselige und aggressive Haltung. Diese Einstellung hat jedoch nichts mit
angeblichen Wahrnehmungen zu tun. Es handelt sich um eine gefühlsmäßige
Einstellung bzw. einen Gefühlszustand, dessen Entstehung nicht auf Wahrnehmungen
zurückgeht, sondern auf wirtschaftlich verursachte, gesellschaftlich ausgelöste
und gefühlsmäßig bearbeitete Beweggründe, die zu benennen (und zu bekämpfen) wären.
Bei
der obenflächenbezogenen Art von Definition, wie sie von der International
Holocaust Remembrance Alliance vertreten wird, geht es nicht um die
Antisemitismus-Ursachen und deren Bekämpfung. Das Anliegen der Definition ist
es vielmehr, Abscheu zu erzeugen, der seinerseits auch wiederum Hass hervorzurufen
vermag. Die tieferen Wurzeln des Antisemitismus bleiben im Dunkeln – und das
sollen sie wohl auch, und zwar sowohl bei seinen Befürwortern als auch bei den Antisemitismus-Gegnern.
Für die Antisemiten sind “die Juden” der Feind, für die Anti-Antisemiten
“die Antisemiten”.
Die
antisemitischen Judenhasser und Rassisten begreifen ebenso wenig wie die philosemitischen
Anti-Antisemiten, dass es sich beim Antisemitismus um etwas grundlegend Gesellschaftliches
handelt. Der Antisemitismus ist, wie jede Form der gruppenbezogen menschenfeindlicher
Vorurteile, ein Merkmal von Gesellschaften, welche ihren Verfall und Untergang
befürchten müssen, weil sie – wie heute die kapitalistische Gesellschaftsformation
– von Klassenwidersprüchen erschüttert werden. Diese Widersprüche wirken sich
im globalen Maßstab besonders wirtschaftlich aus (Produktions-, Handels- und
Finanzkrisen), aber auch sozial (Armut und Migration), klimatisch und
ökologisch sowie in Form von Kriegen.
Um
im Kapitalismus von der Notwendigkeit einer revolutionären Aufhebung der
Klassenwidersprüche abzulenken und das bestehende System der Entfremdung,
Ausbeutung, Unterdrückung und Friedlosigkeit zu erhalten, werden andere Kampf-
und Widerspruchslinien – wie etwa der Antisemitismus – gesellschaftlich in den
Mittelpunkt gerückt. Der rassistische Antisemitismus der Nationalsozialisten
hat genau in dieser widersinnigen Weise funktioniert: Er hat “die
Juden” bekämpft, um ein Wirtschaftssystem zu erhalten, dessen negative
Folgen “den Juden” angelastet worden sind. 
6. Wogegen richtet sich
der IHRA-Antisemitismus?
Der
Antisemitismus gemäß IHRA-Definition richtet
sich gegen … .
Diese Aussage ist in ihrer Allgemeinheit zutreffend – von
der irrigen Personifizierung des Generalsbegriffs einmal abgesehen („der Antisemitismus
richtet sich …“). Gemäß der griechischen Vorsilbe „anti“ (d. h. gegen) besagt
die Worterklärung, dass das antisemitische Vorurteil gegen etwas gerichtet ist,
nämlich (und hier wird die Definition in gefährlicher Weise unübersichtlich
sowie erschreckend beliebig und manipulativ) …

gegen … Einzelpersonen … und/oder (gegen)
deren Eigentum … sowie gegen … Gemeindeinstitutionen und … Einrichtungen
. Die
Definition des Antisemitismus-Begriffs benennt Verschiedenes, auf das die antisemitische
Gegnerschaft abzielt, nämlich (a.) Personen, (b.) deren Eigentum (d. h. einen
Rechtstitel) sowie (c.) Institutionen und (d.) Organisationen.
(a.)         
Die personenbezogene Gegnerschaft richtet
sich gegen jüdische oder nichtjüdische
Einzelpersonen
. Diese Definition liefert keinen Anhaltspunkt zur
Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Einzelpersonen. Es bleibt
ungeklärt und daher unbegreiflich, warum und auf welche Weise einzelne
Nicht-Juden zur Angriffsfläche antisemitischen Hasses werden.
(b.)        
Die sachbezogene Gegnerschaft gegen den Eigentumstitel, auf den sich „jüdische und nichtjüdische
Einzelpersonen“ berufen können, bleibt ebenfalls unklar. Handelt es sich dabei um
Sachbeschädigung, Zerstörung, Diebstahl, Raub oder die staatliche Konfiszierung
von Eigentum? Ist angesichts der Beliebigkeit, die in der ungenauen
Formulierung der Definition angelegt ist, nicht auch die Kritik am Eigentum und
an seiner Verwendung (Luxus; problematische Investitionen, z. B. in den Bau von
Atomkraftwerken, in die Rüstungsindustrie oder ethisch fragwürdige
Forschungsprojekte) bereits ein mögliches Anzeichen von antisemitischer Gegnerschaft?
Die Definition unterscheidet auch nicht hinsichtlich der Schwere sachbezogener
Gegnerschaft, und sie macht gleichfalls keinen Unterschied, ob die Gegnerschaft
von Individuen ausgeht, von einer Gruppe oder vom Staat.
(c.)         
Die erwähnte Gegnerschaft gegen jüdische Gemeindeinstitutionen
oder religiöse Einrichtungen
lässt erstens offen, ob sie von Privaten oder
vom Staat ausgeübt wird, und zweitens, ob hierbei jegliche Gegnerschaft gemeint
sein soll (z. B. die Beschwerde von Nachbarn gegen den Kinderlärm einer Kita in
jüdischer Trägerschaft).
7. „Wort oder Tat“ statt „Wort
und Tat“
Die
antisemitische Gegnerschaft äußert sich nach Maßgabe der IHRA-Definition in Wort oder Tat. Hier fällt ein
schwerwiegender Unterschied zwischen der englischen Fassung und der deutschen
Übersetzung ins Auge. Im Englischen ist von „rhetorical and physical manifestations“ die Rede, im Deutschen hingegen von
einer Gegnerschaft in Wort oder Tat.
Die
englische Version kann in der Weise verstanden werden, dass sich die
antisemitische Gegnerschaft in doppelter Weise zeigt, sowohl rhetorisch (“in
Worten”) als auch handelnd (“in Taten”). Die deutsche Übersetzung
legt nahe, dass eine mündliche oder schriftliche Äußerung, die sich gegen die
in der IHRA-Definition genannten Personen oder Institutionen richtet, in
derselben Weise zu ahnden ist wie eine gegen sie gerichtete Handlung. Eine antisemitische
(oder angeblich antisemitische) Aussage, Gesinnungsäußerung oder Forderung wird
mit einem antisemitischen (bzw. angeblich antisemitischen) Akt gleichgesetzt.
Das
ist der entscheidende Grund, um den Versuch zu rechtfertigen, die
grundrechtlich verbürgte Meinungsfreiheit zu beschneiden, und warum man
entsprechende Meinungsäußerungen oder Parteinahmen dadurch zu unterbinden
versucht, dass man ihren Vertretern den Zugang zu öffentlichen oder öffentlich
geförderten Räumen verwehrt (vgl. Johannes Feest: Israelkritik und
Antisemitismusvorwurf. Veranstaltungsverbote als Problem der Meinungsfreiheit;
in: Vorgänge 220, 56. Jg., 4/2017, S. 117-126). Auf diese Weise wird einer
vordemokratischen Gesinnungsprüfung der Weg gebahnt, statt am Grundsatz der
Meinungsfreiheit und ggfs. der Rechtsprechung durch eine unabhängige Justiz festzuhalten.
8. Fazit
Brandmarkung statt
Forschung, Maulkorb statt Aufklärung und Prävention
Die
Arbeitsdefinition der IHRA ist mangelhaft und daher unbrauchbar, ja sogar
gefährlich. Ihr zufolge speist sich der Antisemitismus aus sinnlicher
Wahrnehmung. Eine solche Erklärung ist strukturell selbst antisemitisch. Die
IHRA ergeht sich „per definitionem“ in sprachschwurbeliger Unbestimmtheit. Sie
benennt weder die Träger, Vermittler und handelnden Akteure des Antisemitismus,
noch erwähnt sie seine gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Entstehungszusammenhänge.
Der Antisemitismus wird feindbildartig zu etwas Schrecklichem (v)erklärt, aber
weder werden seine besonderen Erscheinungsformen auseinander gehalten, noch
wird die Frage nach seinen Wurzeln und seiner Ausbreitung gestellt, um sodann
auf dieser Grundlage pädagogisch aufzuklären und vorzubeugen.
Der
Adressatenkreis antisemitischer Gegnerschaft wird nicht definitorisch
eingegrenzt, sondern definitiv ausgeweitet, so dass heute in irreführender
Weise auch der Staat Israel als Zielscheibe und Opfer des Antisemitismus
figuriert: „als jüdisches Kollektiv“ (siehe den dritten Satz der
IHRA-Definition: “Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches
Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“). Da der israelische
Staat sich als „jüdischer Staat“ versteht, kann jeder Einwand gegen dieses
Konzept zugleich als antisemitische Fundamentalkritik am Staat Israel verstanden
und angeprangert werden.
Während
das antisemitische Vorurteil rassistischer Prägung sowohl jüdische Individuen
als auch die gesellschaftliche Minderheit der “Juden” betraf und betrifft,
wird mit Hilfe der IHRA-Definition die Regierung der jüdischen
Mehrheitsgesellschaft Israels in Schutz genommen und zum unantastbaren Tabu
erklärt, welches über jede Kritik erhaben ist. Damit wird der auf solche Weise
erweiterte Antisemitismusbegriff zu einem Instrument der Beeinflussung und
Lenkung der öffentlichen Meinung im Interesse derjenigen, denen an der
Immunität israelischer Regierungs-, Militär- und Besatzungspolitik gelegen ist.
Das betrifft sowohl den israelischen Staat und seine gegenwärtige Regierung als
auch all diejenigen Staaten, welche der israelischen Regierungspolitik nichts
entgegen setzen und sie vielmehr durch Waffenlieferungen militärisch unterstützen,
wie etwa die Bundesrepublik Deutschland.
Die
staatliche (bzw. “religionsstaatliche”) Erweiterung des
Antisemitismusbegriffs wird nicht sachlich begründet, sondern behauptet und –
mit Verweis auf die rund sechs Millionen gemeuchelter Juden – in moralisierender
Weise beschworen. Moral, vernunftloser Irrationalismus und Waffengewalt ergeben
eine explosive Mischung, und das in tückischer Berufung auf die Getöteten in
den Konzentrationslagern. Somit erlangen Antisemitismusvorwurf und -anschuldigung
einen gefährlichen Stellenwert in der politischen Auseinandersetzung. Es entsteht
ein neues Schmäh- und Feindbild: der „Antisemitismus“.
Eine
in der Regel unterschätze Folge des Vorwurfs des „Antisemitismus“ erweiterter
Art ist die normalisierende Verniedlichung des antisemitischen Rassismus zu
einer alltäglichen Erscheinung. Die erweiterte
IHRA-“Arbeitsdefinition” verdrängt einerseits die wahren Ursachen, zu
denen auch der Klassenwiderspruch zählt, und dient andererseits als widersinnige
Verdächtigung zur Brandmarkung und Ächtung, als einschränkender Maulkorb. Sie gilt
zwar als unübertreffliche Begriffsbestimmung des Antisemitismus, blendet in
Wirklichkeit aber weitgehend die Notwendigkeit von wissenschaftlicher Forschung,
gesellschaftlicher Prävention, historischer Aufklärung und humanistischer Pädagogik
im Hinblick auf den rassistischen Antisemitismus aus. Aber wem nützt das?
Antisemitismus
verschleiert Widersprüche der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
Der
Gebrauch des Terminus Antisemitismus dient heute, wie die Erfahrung zeigt,
vornehmlich der Entstellung und Brandmarkung linker Kritik. In den Hintergrund
gerät dabei die entschiedene Verurteilung sowohl der rassistischen
Instrumentalisierung des Antisemitismus in den Zwangsarbeitslagern und der
Vernichtungsindustrie der NS-Diktatur als auch der Wiederkehr faschistischer
Regierungsmehrheiten in Europa. Der auf dem erweiterten Begriffsverständnis fußende
Antisemitismusvorwurf vernebelt – wie auch schon der klassische Rasse-Antisemitismus
– die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung,
wie sie im gegenwärtigen Stadium des globalen Imperialismus besonders krisenhaft
hervortreten.
Die
Ablenkungs- und Vertuschungsfunktion des rassistischen Antisemitismus auf der
einen Seite und des ganz anders gearteten, “antideutsch”
argumentierenden Antisemitismusvorwurfs gegen Kritik an Netanjahu und den
Bankstern der Wallstreet andererseits erklärt, warum sich sowohl das Europaparlament
als auch die Bundesregierung die irreführende IHRA-Definition zu Eigen gemacht
haben. Die Krisenerscheinungen und Konflikte in der Europäischen Union (mit
Deutschland als dessen derzeit führender Macht) haben mit der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung zu tun. Um der massenhaften Erkenntnis und Bewusstwerdung der
Widersprüche und Krisen des Kapitalismus vorzubeugen, soll auch in der
Bundesrepublik ein mit manipulativer Begriffsdefinition ausgestatteter
Antisemitismusbeauftragter berufen werden.
Antisemitismus als
Instrument von Schuldabwehr und gesellschaftlicher Spaltung
Ein
weiterer Grund ist zu benennen: Beide Formen des Antisemitismus – der
rassistische, welcher „die Juden“ irrational angreift, ebenso wie der
erweiterte, welcher zum Zweck der Verdrängung, Verdächtigung und
stillschweigender Komplizenschaft instrumentalisiert wird – dienen der
gesellschaftlichen Spaltung. Der rassistische Antisemitismus spaltete und spaltet
die Gesellschaft in eine jüdische Minderheit und eine nicht-jüdische (“arisch-reinrassige”)
Mehrheit.
Der
erweiterte Begriff des Antisemitismus spaltet die Gesellschaft ebenfalls: in
die Minderheit derjenigen, welche sich der im scheinbaren Staatsinteresse (Merkels
“Staatsraison”) erklärten Unantastbarkeit israelischer Politik nicht
beugt, und die große Mehrheit jener Deutschen, welche sich im kollektiven
Unterbewusstsein Versöhnung und Entlastung versprechen von den seit Kriegsende
verdrängten und nicht betrauerten Schuldgefühlen. Indem sie Israel als
„jüdisches Kollektiv“ in der Tradition der Verfolgungsgeschichte von Juden im
Dritten Reich zu verstehen meinen, entheben sie den israelischen Staat und die
Politik der israelischen Regierung jeder Kritik und der Verantwortung für ihr
Handeln gegenüber den entrechteten Palästinensern. Reflexartig, wie durch einen
äußeren Reiz bedingt, entledigen sie sich damit der bis heute lastenden schweren
Schuld der industriell durchgeführten Abschlachtung der europäischen Juden
sowie der Verantwortung gegenüber deren Nachkommen sowie gegenüber den von diesen
entrechteten, vertriebenen und getöteten Bewohnern Palästinas.
So,
wie ihre Väter und Großväter behaupteten, von den Naziverbrechen nichts gewusst
zu haben, so wollen sie von der politischen Realität im Nahen Osten nichts
wissen und die dort herrschende Politik nicht zur Kenntnis nehmen. (Nicht
unähnlich dem Verhalten der westdeutschen Bevölkerungsmehrheit beim KPD-Verbot
1956 und beim Radikalenerlass 1972.) Was sich in Israel und Palästina täglich
ereignet, entpflichtet sie von der Verantwortung deutscher historischer Schuld.
Deshalb wird auch jeder Vergleich bereits im Ansatz als “antisemitisch”
abgeblockt, und zwar sowohl aus deutscher als auch mehrheitlich aus israelischer
und jüdischer Sicht.
Ein
solcher Vergleich, der durchaus keine Gleichsetzung bedeutet, gilt als schwerer
Regelverstoß, weil er die verbrecherische Politik der Nazi-Vergangenheit und
ihrer Folgen vor Augen führen würde. Die Sprachregelung und Begriffsakrobatik
in Sachen Antisemitismus hilft den angeblichen Freunden Israels darüber hinweg,
aus “Unfähigkeit zu trauern” (Alexander und Margarete Mitscherlich) nicht
in der Lage zu sein, sich der historischen Erfahrung des Faschismus zu stellen und
den deutlichen Anzeichen seiner Wiederkehr zu widerstehen.
Ein
Letztes noch: Die vom Europaparlament und der Bundesregierung beschlossene Anwendung
des erweiterten Antisemitismusbegriffs in der wissenschaftlichen, politischen,
polizeilichen, juristischen, publizistischen und pädagogischen Praxis birgt erkennbar
die Gefahr, dass der ‘”wahre” Antisemitismus der Rassisten hoffähig
gemacht wird. Die rassistischen Antisemiten erfahren ebenso wie ihre fremdenfeindlichen
Gesinnungsgenossen im reaktionär-nationalistischen, islamophoben und
antimuslimischen Lager eine soziale Aufwertung. Sie mit ihren dumpfen
Vorurteilen und ihrem wahnhaften Hass werden auf dieselbe Stufe gehoben wie
jene Kritiker/innen der Nahostpolitik, welche mit kritischen Bedenken,
vernünftigen Argumenten und in sachlichem Bemühen um Frieden jene Politik
anprangern, die auf keine Verständigung und keinen Ausgleich abzielt, sondern –
in Missachtung aller Grundsätze des Völkerrechts und guter Nachbarschaft – die
religiös unterfütterte Macht des militärisch Stärkeren zur Schau stellt.