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Heimat: Reaktionäre Ideologie oder sozialistische Zukunft

von
Rudolph Bauer, „Unsere
Zeit“
, 16. März 2018. Der marxistische Philosoph Ernst Bloch sprach vom
Kommunismus als vom “Umbau der Welt zur Heimat”.  Ein solch emanzipatorisches Verständnis von
Heimat ist bei einem Minister der deutschen Bundesregierung nicht zu erwarten.
Der Heimatbegriff, der dem künftigen Ressortzuschnitt des Innenministeriums zu
Grunde liegt, dient reaktionären Zwecken. Er knüpft an bei einem
Heimatverständnis, welches einer vaterländisch-nationalistischen Volkstumsideologie
entspricht und ursprünglich von der bürgerlichen Klasse und ihren Ideologen den
Frauen und Männern der Arbeiterklasse gepredigt worden ist.


Im  Verlauf der Industrialisierung und der
Entstehung des Kapitalismus entstand die Klasse der Proletarier. Diese mussten
ihre ursprünglichen Heimatorte verlassen und in die Fremde der Städte
auswandern. Teils angelockt (“Stadtluft macht frei”), teils der Not
gehorchend, mussten sie in den Fabriken, im Transportwesen, im Verkehrswege-
und Bergbau arbeiten, um ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen und nicht zu
verhungern.
“Der
Proletarier ist eigentumslos”, heißt es im Kommunistischen Manifest. Und
weiter: “Die  Arbeiter haben kein
Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.” Die Lohnarbeiter
mussten ihre Heimat, wo sie geboren waren, verlassen. Sie wurden heimatlos und waren
vogelfrei.
An
Stelle der Heimat, welche die Arbeiter und Arbeiterinnen verlassen mussten, bot
ihnen die  Bourgeoisie “Herbergen
zur Heimat”. Die “wandernden 
Brüder von der Landstraße”, wie der Bielefelder Pastor Friedrich
von Bodelschwingh sie nannte, wurden in “Kolonien” aufgenommen, um
sesshaft und zur Arbeit erzogen zu werden. Es wurden “Pilgerhütten”
und “Pilgerstübchen” eingerichtet. Ein Jahr nach der Revolution von
1848 veröffentlichte der Gründer der protestantischen “Inneren
Mission” (heute: Diakonisches Werk), Johann Hinrich Wichern aus Hamburg, seine
“Denkschrift an die deutsche Nation”.
Auf “christlich-germanischem
Fundament”
Darin
hieß es, mit betonter Frontstellung gegen die Arbeiterbewegung: “Die
innere Mission hat sich klar zu machen, wie sie gegenüber diesen
communistischen Instituten und neben den vielfach tief verpesteten Herbergen
die soziale  Aufgabe für die wandernden
Gesellen zu lösen hat. Uns dünkt, sie hat in ihren Anstalten für Gesellen auf
dem großen, umfassenden, ächt-kirchlichen, christlich-germanischen Fundament einen
Ersatz für die in der Fremde entbehrte Häuslichkeit, also die Herberge oder den
‘Verkehr’, und damit zugleich die Mittel zur geistigen und technischen
Fortbildung im Gewerk zu bieten.”
Beraten
durch Wichern, wurde die erste “Herberge zur Heimat” 1854 durch den
Bonner Rechtsprofessor Clemens Perthes gegründet. Bei der
Gründungsveranstaltung anwesend war auch der “Nationalschriftsteller”
Ernst Moritz  Arndt (Titel seiner Werke:
“Was ist des Deutschen Vaterland?” und “Der Gott, der Eisen
wachsen ließ”). Die Herberge, so verkündete Perthes in der
Eröffnungsansprache, werde “alles von sich fernhalten, was den jungen,
ohne  Familienhalt in der Welt
umherstreifenden Mann zur leiblichen und geistigen Verwilderung verführen
könnte”.
Davon,
dass der Kapitalismus in seiner Profitgier die Menschen entwurzelte, war nicht
die Rede. Die Auswirkungen des ökonomisches Zwangs wurden zu einer sozialen
Aufgabe umgedeutet sowie durch Missionierung und Mildtätigkeit erwidert. Auf
die Verelendung des Proletariats antworteten die Ideologen der Bourgeoisie mit Vereinsgründungen,
Almosen und Disziplinierung.
Binnen
sieben Jahren entstanden von da an rund 200 “Herbergen zur Heimat”.
Pastor von Bodelschwingh, als Kind Spielgefährte des preußischen Prinzen,
gründete mehrere “Arbeitskolonien”: 1882 “Wilhelmsdorf”, 1889
die “Moorkolonie Freistatt”, 1905 die “Hoffnungstaler
Anstalten”, bald darauf auch noch “Lobetal” und
“Gnadental”. Insgesamt entstanden damals 33 ländliche und städtische
“Arbeitskolonien”.
Untergang “in Elend
oder Sünde”
Zeitgleich
wurden in den 1890er Jahren die ersten “Bahnhofsmissionen” und der
“Verband evangelischer deutscher Bahnhofsmissionen” gegründet.
Zielgruppe waren vor allem “der Töchter unseres Volkes”, die mit den
Eisenbahnen als Verkehrsmittel vom Land in die großen Städte kamen, um in den
Bürger- und  Beamtenhaushalten eine
Anstellung als Dienstmädchen zu finden. “Wie viele junge Mädchen
sind”, so klagte der Verband, “in den großen Städten oder gar im
Ausland dadurch in Elend oder Sünde untergegangen, dass sie in der Heimat
niemand in sachverständiger Weise beraten hat”.
Abseits
von Industriegebieten und Großstädten entstanden Organisationen der so
genannten “Wohlfahrts- und Heimatpflege”. Diese Vereine sollten “die
schroffen Klassengegensätze mildern, zwischen Arbeitgeber und Arbeiter ein
harmonisches Verhältnis herbeiführen helfen und alles in allem: die Liebe zur Heimat
und dem heimischen Volkstum wecken und pflegen”, so ihr Selbstverständnis.
Das
Wort Heimat wurde zunehmend gleichbedeutend verwendet wie die Wörter
Landschaft, Volkstum und Vergangenheit. Die Kultur der Heimat und der vergangenen
‘guten alten Zeit’ wurde hochstilisiert zur völkischen Traditionspflege. Die Heimat
wurde zur Grundlage von vaterländisch-nationalistischer Volkstumsideologie und
-gesinnung. Letztere überdauerte unbeschadet den Ersten Weltkrieg, die Weimarer
Republik, die Nazidiktatur und den Zweiten Weltkrieg. Sie kehrt gegenwärtig wieder
in der Neonazi-Szene, bei Pegida, den Identitären und der AfD, nicht zuletzt
als das ‘neue’ Heimatressort des Ministeriums für Inneres.
Gegen die
“bolschewistische Gefahr”
Noch
in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs diente der vaterländisch-nationale
Heimatbegriff für Propagandazwecke. Neben der Frontdienst-Werbung entstand die
“Heimatdienst”-Propaganda. Zu diesem Zweck wurde am 1. März 1918 die
“Reichszentrale für Heimatdienst” gegründet. Sie diente laut
Gründungserlass als “amtliches Organ der Reichsregierung für
staatspolitische Aufklärung und Erziehung”.
Im
katholischen “Staatslexikon” von 1927 sind die Geschichte und
antisozialistische Ausrichtung der Reichszentrale kurz umrissen: “Nach dem
Zusammenbruch oblag ihr die Propaganda für die Nationalversammlung und den
demokratischen Gedanken gegenüber der bolschewistischen Gefahr. Eine ähnliche
nationale Aufgabe fiel ihr in der Zeit des Ruhrkampfs zu.”
In
einer Entschließung am 7. Juli 1921 hat der Reichstag die Aufgaben für den
“Heimatdienst” wie folgt umschrieben: “Die Reichszentrale für
Heimatdienst dient der sachlichen Aufklärung über außenpolitische,
wirtschaftspolitische, soziale und kulturelle Aufgaben, und zwar nicht im Geist
einzelner Parteien, sondern vom Standpunkt des Staatsganzen.”
Das “Gesetz des
Führertums”
In
der Jubiläumsschrift zum zehnjährigen Bestehen der Reichszentrale entpuppte
sich die staatspolitische Linie des “Heimatdienstes” als führer-,
volks- und staatspädagogisch im Stil der späteren NS-Propaganda. Der damalige
Reichsinnenminister Karl Severing von der SPD (!) hatte für die Schrift einen
Beitrag verfasst, der mit “Führerauslese und Führerbildung” betitelt
war.
Wörtlich
lesen wir aus der Feder des sozialdemokratischen Innenministerns: “Es
gehört zum Gesetz des Führertums, dass es um einige Pferdelängen voran steht.
Daraus ergibt sich zwangsläufig eine gewisse Distanz zu den übrigen Volksgenossen.
… Der moderne Führer des Volksstaats braucht gleichermaßen Autorität und
Vertrauen. … Das Vertrauen soll er nicht durch seine Nachgiebigkeit erhalten,
sondern durch Festhalten an dem als richtig Erkannten, durch die
Staatsgesinnung und das soziale Selbstbewusstsein der Volksgemeinschaft.”
Auch
der national-konservative Philosoph und Pädagogik-Professor Eduard Spranger war
in der Festschrift von 1931 mit einem Aufsatz vertreten. Darin führte er aus,
“dass Disziplin, Dienst, Einfügung in das Ganze das zentrale Geheimnis der
Staatserziehung ist”. An diese Art von Staatsbürgererziehung durch den
“Heimatdienst” konnte die Nazidiktatur problemlos anknüpfen und
darauf aufbauen.
Eduard
Spranger veröffentlichte nach der Naziniederlage erneut wieder “Gedanken
zur staatsbürgerlichen Erziehung”. Erschienen ist Sprangers Text in Heft
16 einer Schriftenreihe der bundesrepublikanischen Nachfolgeorganisation der
“Reichszentrale”: bei der “Bundeszentrale für Heimatdienst”
(später umbenannt in die heutige “Bundeszentrale für politische
Bildung”).
Ernst Blochs “Umbau
der Welt zur Heimat”
Vor
dem Hintergrund der reaktionären und völkisch-nationalistisch aufgeladenen Bedeutung
des Heimatbegriffs verwundert die Bloch’sche Utopie vom “Umbau der Welt
zur Heimat”. Auch in seinem Werk “Prinzip Hoffnung” von 1959
spricht Ernst Bloch von der Heimat als von etwas Positivem – von einer neuen Gesellschaft
unter den Voraussetzungen des Sozialismus. Bloch hebt hervor, dass “die
Wurzel der Geschichte … der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten
umbildende und überholende Mensch (ist). Hat er sich erfasst und das Seine ohne
Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der
Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war:
Heimat.”
Das
Bloch’sche (linke) Heimatverständnis hat seine Wurzeln im ursprünglichen Sinn
des Heimatbegriffs, wie er im 15. und 16. Jahrhundert existierte und für die
Menschen von lebenswichtig materieller Bedeutung war: Heimat als Ort
existenzieller Sicherheit und Geborgenheit. Mit Heimat verband sich in jener
Zeit ein realer Kern lebensweltlichen Seins der Armen, die nicht durch
Grundbesitz oder die Ausübung eines Amtes oder Handwerks abgesichert waren: die
Gewährung von Unterstützung und Wohnsitz durch diejenige Gemeinde, in der
jemand geboren und aufgewachsen ist.
Heimat
war, in juristischer Sprache, “armenrechtlicher Verweisungsort”.
Darunter wurden sowohl die Pflichten der Gemeinde gegenüber ihren mittellosen
Bewohnern verstanden, als auch entsprechend deren Rechte gegenüber der
Gemeinde. Die Stadt- und Landgemeinden waren verpflichtet, ihre Armen zu
unterstützen und ihnen den Aufenthalt in der Gemeinde zu gestatten, sie nicht
auszuweisen und bei Rückkehr nach Abwesenheit nicht abzuweisen.
Für
die Armen entstand aus der Hilfe-Verpflichtung der Gemeinden das so genannte
Heimatrecht: die Anwartschaft auf Unterstützung und Wohnrecht. Der
Rechtshistoriker Hermann Rehm betont den ursprünglich materiellen Kern von
Heimat: “Die Gemeinde aber, gegen welche der Arme Anwartschaft auf
Unterstützung hatte und aus welcher er wegen Armut und damit zusammenhängender
Sicherheitsgefährlichkeit nicht ausgewiesen werden durfte, war die Heimat der
Armen, in ihr hatte er sein Heimatrecht.”
“Heimat” als
kommunistisches Projekt der Zukunft
So
gesehen verbindet sich mit dem Begriff Heimat nicht nur eine reaktionäre
Bedeutung, wie sie von den Herrschenden und ihren Ideologen im Sinne rechten
Gedankenguts gebraucht wird. Heimat kann auch Teil eines Programms sein, das
fortschrittlich und emanzipatorisch auf die grundlegende Veränderung der
herrschenden kapitalistischen und imperialistischen Verhältnisse abzielt.
Es
liegt an den linken Kräften, der reaktionären, rückwärts gewendeten
Heimatersatz-Ideologie der Herrschenden und ihres völkisch-faschistischen
Fußvolks ein eigenes, fortschrittliches Heimatverständnis dialektisch entgegen
zu setzen: einen Heimatbegriff, der auf eine sozialistische Perspektive hin ausgerichtet
ist. Die kommunistische Zukunft der Freien und Gleichen, auf die der
emanzipatorisch-fortschrittliche Heimatbegriff verweist, muss programmatisch klar
erkennbar sein. Nur so ist es möglich, den spalterischen Querfrontvorwürfen in
den eigenen und gegnerischen Reihen entschieden Paroli zu bieten. Aus Furcht vor
Denunziation den Begriff Heimat ausschließlich und kampflos den Herrschenden und
Reaktionären zu überlassen, ist undialektisch.