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Von der Bildung

von Fariss Wogatzki, 01. Januar 2018. Lesen bildet, wird
gesagt, ist vielerorts als Sinnspruch niedergeschrieben. Das mag richtig sein.
Und sagt nichts über den Bildungsinhalt von zu lesendem aus. Sei die
Tagespresse grundwegs abgelegt, über die Charles Baudelaire schrieb:
textquotedblleft Es ist unmöglich, irgendeine Zeitung, gleichviel von welchem
Tage, aus welchem Monat oder Jahr, zu durchblättern, ohne in jeder Zeile die
Zeichen der grauenerregensten menschlichen Perversität und gleichzeitig die
erstaunlichsten
Großsprechereien über die Rechtschaffenheit, Güte,
Nächstenliebe und die schamlosesten Beteuerungen hinsichtlich des Fortschritts
und der Zivilisation zu finden.

(Ch. Baudelaire –
Sämtl. Werke Bd. 6, C. Hanser Verlag)
Voltaire und Rousseau
starben beide 1778. Voltaire liebte den Hof, den Glanz und das schillernde
Europa, war befreundet mit Friedrich dem Großen.
Rousseau war alle
Hoffart, aller Glanz und Pomp zuwider. Jede Ansammlung von Schmeichlern,
Literaten, Künstler und Anhang war ihm eine Last, suchte die Abgeschiedenheit,
fernab jeder spitzenbeseideten Blässe.
Beide Herren,
großartige Denker. Derjenige, der sich zu bilden bestrebt ist, hat mit
Gewissheit Voltaires >>Candide<<, Rousseaus
>>Confessions<< gelesen. 
(…)
Candide suchte, weil
auf Treue geschworen, seine Kunigunde, bereiste nach die Welt. Und als er sie
fand… Nun ja, er gab sein Wort. Sein Philosophus Panglos hat ihm sonderbar
Grillen eingetrichtert, dass die Welt aufs Beste bestellt und sonach die beste
aller möglichen Welten sei. Sagte ein predigender Bundespräsident: „Dieses
Deutschland ist ein gutes Deutschland. Das Beste, das wir jemals hatten.“ s.n.
Rousseau wurde ob
seiner Schriften, er verbrachte einige Jahre im ländlichen, folgend in einem
Waldhäusschen,  dann dörflichen, dann,
nicht einmal auf der einsamen Insel vom Genfer See, nicht in Ruhe gelassen.
Simplicio
Simplicissimus, die von Grimmelshausen erschaffene Figur in selbigen
Schelmenroman, der im Wald mit seinem Einsiedel ein wahrhaft simples aber
unbeschwertes Leben führt, zurück in das Treiben der zivilisierten Welt
in Teutschland des 30jährigen Krieges, machte sich auf, zu Meucheln,
Brandschatzen, zu fouragieren.
Das Werk >>Die
Abenteuer des Simplicissimus<< ist berechtigt als ein Großwerk der
Bildung anzusehen. Dass eben der Menschen Treiben ein ewiges Jagen, Rauben,
Töten und getötet werden ist. Stets auf Übervorteilung und Missgunst
ausgerichtet, alles durch einen Leerbegriff ummantelt; heutzutage als
„Zivilisation“ betitelt.
Im 21. Jahrhundert hat
Bildung, wie es scheint, die dem Menschlichen, der Vernunft, die Hinwendung zur
Einsicht dienlich ist, eine düstere Morphose angenommen. Als wäre Bildung
(Werden, der Prozess des Bildens) vom Menschsein abgelöst, gleichwohl dem
Menschen einem Etikett gleich zu tragen am Kragen und bei netten
Tischgesprächen die Realität von Scheinwissen angenommen.
Vielleicht heißt es
gerade deswegen im Grundgesetz der BRD: „Die Parteien wirken bei der
politischen Willensbildung des Volkes mit.“, wobei der Wille des Herrschers als
Meinung des „Volkes“ verscherbelt wird. Die Bundeskanzlerin erhob im Jahr 2015
Deutschland zur Bildungsrepublik, wurden jedoch Bildungsangebote wie in der
HAWK im August 2016 unterbunden, idem das Verbot der Ausstellung von
Kinderzeichnungen zum Alltag in Palästina. Oder Auftrittsverbote gegen Ilan
Pappe und Moshe Zuckermann. Wer erinnert sich nicht an die  absurde Stellage ob der Lesung von Norman
Finkelstein. Grotesk? Darüber hinaus! Wie zur Zeit von Simplicius fanden und
finden sich heute Verbote zum Erkennen was Menschsein ausmacht. Simplicius ging
mit seinen Reutern auf Partei, raubte und mordete wie es ging. …bis er dann
im Mummelsee im Schwarzwald…
Heutzutage lautet es,
da eine „Stadt zur Neutralität verpflichtet ist, war die Durchführung einer
Ausstellung mit derart hochpolitischen Inhalten in städtischen Räumlichkeiten
nicht möglich.“ Desmond Tutu sagte: 
„Wenn du dich in einer Situation der Unterdrückung neutral verhältst,
hast du dich an die Seite der Unterdrücker gestellt.“
Da erst durch Menschen
Stadt zu Stadt wird, kein Mensch Neutrum ist, und sich also auch nicht neutral
verhalten kann, außer durch Behauptung, wird, wie vor hunderten Jahren der
Dummheit mehr Lehre als der Erkenntnis Raum gegeben. Es passte die [Bildungs-]
Ausstellung nicht in das Ambiente der Stadt Heidelberg.
Heidelberg, in der u.a.
H. Arendt, E. Fromm, M. Weber, H. v. Helmholtz, Eichendorff, Habermas, Hegel,
Jasper, A. Seegers, Gadamer uvm. studierten, lehrten, wirkten. Wie es scheint,
ist´s mit der Bildung so eine Sache… 
…gleich ein 1999er Buchtitel aufstellte: „Bildung. Alles, was man
wissen muß.“
Bildung sei ein Wissen
was man muss
, sonach entledigt von Freiheit, gleichwohl die Buchhandlungen
voll von Bücher, die Ausstellungen voll mit darstellende Kunst, und so [reines]
Wissen zu einer Abspeicherung und ggf. Wiedergabe von Daten degradiert ist.
Reine Bildung als Entwicklung, als geistiger Prozess und Werden ist durch
Müssen und Verbote schier unmöglich.
Was das Verbot der
Ausstellung der Zeichnungen von Kinder in Palästina betrifft, so komme ich auf
Baudelaire zurück und jeder möge sich der Aussage tieferen Sinn überlegen: Wie
Ch. B. selber schreibt, war er einmal mit einer Dirne im Luvre. Diese war, ob
der dargestellten Exponate derart konsterniert, hielt sich die Augen zu, kniff
den Literaten und Boheme immerzu am Arm, sagte: Oh, wie so etwas nur
ausgestellt werden kann.
Es ist ist gleich, ob
Bücher von triftigem Inhalt nicht ausgestellt werden, Bücher verbrannt oder
Ausstellung verboten werden. In Summa trifft sich die Gemeinsamkeit: Bildung
wird unterbunden. Bildung, Einsicht, ethisches Verhalten und Vernunft können
nie gefordert, gleichwohl nur immerwährend unterdrückt werden.
Eine besondere
Buchempfehlung möchte ich geben, und zwar:
Wehrmachts-Oberst
Rudolf Petershagen, wird im Krieg gegen die Sowjetunion 1943 verwundet und nach
Greifswald zurück beordert. Dort übernimmt der Anfang 40jährige im Januar 1945
die Kommandantur der Stadt. Im Verlauf des Frühjahrs 1945, die Rote Armee steht
bereits weiter östlich vor Anklam, das OKW gab den Befehl, jede deutsche Stadt
werde bis zum letzten Blutstropfen verteidigt, denn, wenn die Deutschen nicht
siegen, hat das deutsche Volk es nicht verdient zu existieren.
Im Kommandanten
Petershagen bildet sich, unter Besprechungen mit Professoren der Ernst
Arndt-Universität Greifswald, eine Entwicklung seines Denkens, welche
folgenreich für ihn, alle Einwohner der Stadt Greifswald beschützt. In
Petershagen entwickelte sich das >>Das Gewissen in Aufruhr<<.
Dieser Mann erkannte die Sinnlosigkeit seiner Handlungen, die Sinnlosigkeit des
deutschen Faschismus, erkannte die Verbrechen der deutschen Regierung.
Bei nächtlichem Treffen
mit dem Kommandanten der Roten Armee, die die Stadt Anklam einnahm, und also
folgerichtig hohe Verluste in der Bevölkerung erlitt, vereinbarten beide
Männer, die kampflose Übergabe der Stadt Greifswald an die Rote Armee. Rudolf
Petershagen widersetzte sich dem Korpsgeist und dem Kadavergehorsam von Armee
und Militarismus. Er entschied nach Vernunft, kein Bürger von Greifswald sollte
zu Schaden kommen, und übergab die Stadt Greifswald der Roten Armee.
Nach den Jahren des
Krieges übernahm Rudolf Petershagen als Oberst der Wehrmacht die Konsequenz für
seine Handlungen und ging auf eigenen Entschluss in ein sowjetisches
Gefangenenlager. 5 Jahre verbrachte er in Gefangenschaft, erkannte durch
Vernunftgebrauch Ursache, Wirkung und Folgen des Faschismus, befreite sich von
Herrenrasse- und Oberstgerede. Er schloss sich der Antifa an. (Anm.: nicht zu
verwechseln mit der Neoantifa d. 21. Jh.)
Nach dieser Zeit kehrte
er nach Greifswald zurück, wurde von den Bürgern der Stadt gefeiert. Das war um
1950. Er nahm Kontakt zu ehemaligen Kameraden auf, die sich in der
US-amerikanischen Zone niedergelassen hatten. Ein Besuch in München war
geplant, er fuhr nach Bayern. Sein Leben erfuhr eine drastische Wendung. Rudolf
Petershagen musste erleben, wie Massenmörder und KZ-Henker, Waffen-SS-Schergen
durch US-Alliierte und Adenauers Clique hofiert 
wurden. Sie wurden gebraucht. – – – Er erfuhr, wie es Erich Weinert im
Gedicht „Genauso hat es damals angefangen!“ 
beschreibt, in der Strophe:
Sieg-Heil! Der erste
Schock ist überwunden.
Die Amnestie begießt
man auf Banketts.
Und man entschädigt
sich für Schrecksekunden
und sucht und findet
Löcher im Gesetz.
Die Lebensgeschichte
von Rudolf Petershagen wurde 1962 im DDR-Fernsehfilm Mehrteiler  „Gewissen in Aufruhr“ mit dem großartigen
Erwin Geschonneck hervorragend verfilmt. Erwin Geschonneck war selber
KZ-Häftling in Buchenwald, Dachau, Neuengamme und Arkona.
Das Buch von Rudolf
Petershagen ist deutliche Bildungsliteratur! Der Roman erzählt die
Lebensgeschichte eines Menschen, der sich von Militarismus, von Hass und
geistigem Strammsteheren, die Insignien der faschistischen Ideologie, durch
allein freies Denken loslöst, und dadurch im tatsächlichen Sinn ein besserer
Mensch wurde. Dieser Roman ist Aufklärung. Dort, im Praktischen, zeigt sich die
reale Lehre aus dem deutschen Faschismus.
Wer aber Bildung
ausruft oder redet, diese indes per Dekrete verbietet, behindert und
unterdrückt, sagt aus dem Wissen um des Ursache-Wirkung-Folgen-Prinzips, dass
der Ungebildete besser ungebildet bleiben möge, denn: Es gibt kein Schaf das
leichter zur Schlachtbank zu bringen ist, als das es den Heimweg nicht kennt.
Bildung ist Menschsein,
ist Freiheit im Denken wie im Handeln.
Ein Kommentar von
Fariss Wogatzki
Autor von >>Möge
keiner sagen, er hätte es nicht gewusst! << (Zambon Verlag 2017)