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„Liberaler Islam“ – Eine Worthülse ohne Inhalt

von Islamiq, 26. November 2017. Liberale und konservative Muslime stehen sich kritisch
gegenüber. Kann man eine Diskussionsbasis finden und weshalb und wie entstand
der Liberalismus im Islam? Auf diese Fragen geht der Islamwissenschaftler und
Philosoph Muhammad Sameer Murtaza im IslamiQ-Interview ein. 

Der Islam-
und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza im IslamiQ-Interview. ©
privat

IslamiQ: Wie
bewerten Sie die Debatte um den sog. „liberalen Islam“? Gibt es überhaupt einen
„konservativen“ oder „liberalen“ Islam?
Dr. Muhammad
Sameer Murtaza: Vor fünf
Jahren hat der Verein „Liberal-Islamischer Bund e. V.“ zum einen versucht,
diese ursprünglich politischen Kampfbegriffe der muslimische Community Deutschlands
überzustülpen und zum anderen, den in der nichtmuslimischen
Mehrheitsgesellschaft positiv konnotierten Begriff „liberal“ für sich zu
vereinnahmen. Fünf Jahre später wissen wir eigentlich immer noch nicht, was
„liberaler Kalam“, was „liberaler Fikh“, was „liberaler Tasawwuf“ oder was
„liberale Falsafa“ ist. Auch stellt sich die Frage: War der Prophet Muhammad
ein „liberaler“ oder ein „konservativer“ Muslim? Waren die Prophetengefährten
allesamt „liberale“ oder „konservative“ Muslime oder ein Mischmasch aus beidem?
Was ist also überhaupt mit dem Wort „liberal“ gemeint?
Muhammad
Sameer Murtaza, 1981 in Oberwesel geboren, ist ein pakistanisch-deutscher
Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor.
Ebenso wenig
hat in dieser Zeit irgendein Teil der muslimischen Community den Begriff
„konservativ“ angenommen und erklärt, was ein „konservativer Islam“ ist.
Folglich sind beide Begriffe Worthülsen ohne Inhalt. Daher muss zum
gegenwärtigen Zeitpunkt gesagt werden, dass es keinen „konservativen“ und auch
keinen „liberalen Islam“ gibt.
IslamiQ: Wie
sind die liberalen Ansätze innerhalb der muslimischen Community entstanden? Was
war die historische Grundlage dafür?
Murtaza: Historisch knüpfen sogenannte
„liberale“ Muslime an ein Bündel abendländischer Entwicklungen an: 
    1. Der platonische Dualismus: In den Kreisen „liberaler“
      Muslime gibt es eine starke Tendenz zur Relativierung der Werkseite des
      Islams. „Liberale“ Muslime weisen oftmals den ganzheitlichen Anspruch
      Gottes an den Menschen zurück und sprechen sich für eine Zweiteilung des
      Islams aus. Ein Islam des Glaubens und ein Islam der Werke, wobei erst
      genannter eine höhere Stufe des Islams sei. Wir haben es hier mit einem
      philosophischen Dualismus zu tun, wie er der platonischen Philosophie zu
      Eigen ist.
    2. Paulinismus: Dieser Dualismus wurde durch
      den Apostel Paulus christianisiert. Der ursprünglich hellenisierte Jude
      Paulus litt nämlich unter einem inneren Konflikt. Im Judentum soll der
      Gläubige durch das Handeln, also durch die Ausübung des jüdischen
      Religionsgesetzes, der Halacha, Gott erkennen. Doch bei Paulus stellte
      sich dieses Erkennen nicht ein. Seine Werke erfüllten ihn nicht
      spirituell, sodass er sich wiederholt die Frage gestellt haben muss, was
      mit ihm als Gläubiger nicht stimmt. Diesen Konflikt trug er auch nach
      seiner Bekehrung zu Christus in das Christentum hinein. In Christus
      erblickte Paulus seinen Befreier und Erlöser von der Halacha und schuf
      damit theologisch einen Dualismus zwischen Glauben und Handeln. Jesus
      Lehre vom Handeln wird nun bei ihm umgewandelt in eine reine Theologie.
      Im Grunde hatte der Apostel seine eigene Schwäche, die Halacha zu
      befolgen, ganz zu schweigen von der anspruchsvollen Lebensweise Jesu,
      hierdurch kaschiert.
Diese
„liberale“ Muslime erkennen zwar rational die Wahrheit des Islams an, aber sie
sind nicht bereit, sich mit ihrem ganzen Menschsein, ihrer Personenmitte, auf
den Glauben einzulassen.
Ähnliches
lese ich aus den Diskussionen mancher – nicht aller – sogenannter „liberaler“
Muslime in den sozialen Netzwerken heraus. Auch sie quält die Frage: Was haben
die Gebote und Verbote des Islams mit der Gott-Mensch-Beziehung auf sich? Diese
„liberale“ Muslime erkennen zwar rational die Wahrheit des Islams an, aber sie
sind nicht bereit, sich mit ihrem ganzen Menschsein, ihrer Personenmitte, auf
den Glauben einzulassen. Es ist der Dienst an Gott, mit dem sie hadern. Es
kommt ihnen quer, wenn Gott konkret und fordernd wird. Wenn Er verlangt, dass
man heute sein Leben verändern soll. Deshalb wird der Islam auf einen
Glauben ohne Werk reduziert. Es ist die Vorstellung, “Abd“ (Diener) Gottes zu
sein, an der sie sich stoßen. Sie wollen stattdessen freie und emanzipierte
Menschen sein. Ihre Selbstbestätigung, mündige Menschen zu sein, die auch vor
Gott nicht halt macht, finden sie darin, nicht nach Geboten und Verboten leben
zu müssen. Dies erklärt auch, weshalb der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim
Ourghi so sehr darauf drängt, den zweiten Satz des Glaubensbekenntnisses zu streichen,
weil er den Muslim mit der ganz konkreten Lebensweise des Gesandten Gottes
Muhammad verbindet.
  1. Protestantismus: Der Reformator Martin Luther
    knüpfte an die Gedanken Paulus an und betonte, dass im Protestantismus der
    Glaube über den Werken stehe. Allein durch den Glauben (sola fide)
    erlange der Christ das ewige Leben. Eine ähnliche Abwertung der Werkseite
    des Islams findet sich auch oft bei den „liberalen“ Muslimen mit der
    gleichen Folge wie für den Protestantismus: eine Zweiteilung der Religion
    durch die Atomisierung von Glaube und Werk, durch die Auflösung des “und“,
    das sie im Islam verbindet. Hierdurch wird der Islam aber zur Theorie,
    ganz im buchstäblichen Sinne von “theoria“, also „“Schauen“,
    da die praktische Handlungsseite des Islams wegfällt. Kein Wunder, dass
    ein Herr Ourghi sich so aggressiv als neuer Martin Luther des Islam
    inszeniert.
IslamiQ: Gibt es Unterschiede und
Gemeinsamkeiten zwischen den „Liberalen“ aus verschiedenen Religionen, z. B.
zwischen „liberalen“ Muslimen und „liberalen“ Juden?
Murtaza: Der Unterschied ist, dass es sich
beim liberalen Judentum um eine religiöse Auslegung handelt, die von Rabbinern
betrieben wird, während die „liberalen“ Muslime in der Regel Laien sind,
gleichwohl sich manche in Deutschland den eigentlich geschützten Titel
„Theologe“ oder den ungeschützten Titel „Imam“ angeeignet haben, weil man sich
dadurch besser selbstvermarkten kann.