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AfD: 12.6%. Das sind die Sieger. Das ist das Volk.

Jürgmeier, Infosperber, 02. Okt 2017 –

Wie mit den Siegern umgehen, das ist die deutsche Frage der Stunde. Aber die AfD ist, wie alle andern, eine Verliererpartei. (1)


«Sie sind da.» Meldet der Spiegel auf dem Cover der Sonderausgabe zu den deutschen Wahlen 2017. «Die AfD überrollt die Volksparteien.» Auf der Titelseite der taz schlägt am Montag, 25.9.2017, ein fast schon Zeus’scher Blitz ins Bundestagsgebäude, das selbst die linke Tageszeitung
einen Tag später, und immer noch im Wahlkater, «Reichstag» nennt. Als
hätte der letzte deutsche Kaiser nicht 1918 abdanken müssen.
Roger Köppel feiert die «historische Sensation» in der Weltwoche beinahe so enthusiastisch wie Trumps Wahlsieg. Der ihn, so Köppel
selber, dazu brachte, «mit geballter Faust» durchs Büro zu tanzen.
Jetzt wittert er «Frischluft unter der Käseglocke», nennt die 12.6% der
deutschen «Chaostruppe» eine «historische Sensation» und einen
«Dammbruch der Demokratie». Die Wochenzeitung WoZ titelt: «Im
völkischen Gruselkabinett». Obwohl keine und keiner der
Rechtskonservativen beziehungsweise -radikalen am Regierungstisch Platz
nehmen wird. Sie werden demnächst, stolz auf unser Deutschland, nur in
den Parlamentssaal einziehen. Matthias Matussek, der ehemalige Spiegel-Journalist und «versehentliche Linke» (Matussek über Matussek, Wikipedia), fährt in der Weltwoche
schier aus der Haut: «Rums! Das war eine Detonation, die die Fenster
rausgehauen hat. Wie schön!» «Der Souverän» habe sich
«unmissverständlich gemeldet» und mit 12.6% der Stimmen (= der Souverän)
die «neue Volkspartei» gewählt.
In Demokratien ist das Volk viele
Beispiele dafür, wie die AfD – aus Begeisterung oder Angst – grösser gemacht wird, als sie ist. Denn die sich laufend nach rechts häutende Alternative für Deutschland steht «keinesfalls vor den Toren der Macht». Deutschland, analysiert der Historiker Paul Nolte im Tagesanzeiger
gelassen, habe sich nur «etwas an die europäische Normalität angepasst»
(29.9.2017). Und da sitzen «die Rechten» schon lange in staatlichen
Entscheidungsgremien, teilweise mit weit höheren Stimmanteilen. In der
Schweiz beispielsweise ist die SVP mit fast 30% die grösste aller Parteien und höklet mit zwei Vertretern im Bundesratszimmer.
Wer
für sich beansprucht, «das Volk» zu vertreten oder gar brüllt «Wir sind
das Volk», gehört an so einem demokratischen Wahlabend zu den
Verlierern. Denn mit 33% (CDU/CSU), 20.5% (SPD), 12.6% (AfD), 10.7% (FDP), 9.2% (Linke) und 8.9% (Grüne)
hat niemand das Mandat «des Volkes» erhalten, die eigene Utopie
kompromisslos zu verwirklichen. Gewinnt eine Partei mehr als die Hälfte
der Stimmen, denken wir an das vergangene Bayern. Sind es nach
Auszählung gar 90 oder mehr Prozente für eine Partei, so dass sich diese
statistisch mit einigem Recht als «Vertreterin des Volkes» bezeichnen
könnte, vermuten wir manipulierte Rouletteräder oder diktatorische
Verhältnisse.
Aber in einer Demokratie wählt «das Volk» – das nach Meinung von AfD und SVP
ein von «Altparteien» beziehungsweise «Eliten» verratenes ist –
keineswegs ausschliesslich Angehörige jener Parteien, die für sich
beanspruchen, als einzige den Volkswillen zu vollstrecken. «Damit die
Schweiz die Schweiz bleibt» (SVP).
Das tut «das Volk» eben nicht. Weil «das Volk» in einer Republik viele
ist. Das heisst, bei Wahlen und Abstimmungen stehen sich multiple,
einander widersprechende Visionen gegenüber. Keine erhält grünes Licht
ohne Wenn und Aber. Die Demokratie lässt keine «grossen Würfe» zu. Auch
weil es dafür Zeit, viel Zeit brauchte. Mehr als für die partizipative
Planung eines Wochenendausflugs mit sechs Leuten. Mehr als für die
basisdemokratische Erarbeitung einer Altersreform, die an der Urne nicht
scheitert.
Wenn die Wählenden die Puppen tanzen lassen
In
unseren schnellen Zeiten – in denen wir jeden November die Krankenkasse
wechseln, in den Tempeln des Konsums das ganze Jahr über «abstimmen»
und auf Facebook im Minutentakt das «Gefällt mir» verteilen
oder verweigern können – lassen die Wählenden die Parteien, in einer Art
Casting, wie die Puppen tanzen. Konsumenten-Daumen hoch,
Konsumentinnen-Daumen runter. Indiz dafür sind Sätze, die sich Politiker
und Politikerinnen selber in Talkshows gerne gegenseitig um die Ohren
schlagen: Ihr hättet vier Jahre Zeit gehabt, die Atomkraftwerke
abzustellen und den Flüchtlingen in ihren Herkunftsländern zu helfen.
Politik
droht in solchen Verhältnissen – aus Angst, mit dem Festhalten an
eigenen Utopien, als gestrig zu gelten – zur Marionette eines
phantasierten oder per Marktforschung ermittelten Wählerwillens zu
werden. Was allemal noch besser ist, als wenn, umgekehrt, Bürgerinnen
und Bürger als Untertanen behandelt werden oder (mehr oder weniger
freiwillig) irgendwelchen Rattenfängern – die durchaus auch -fängerinnen
sein können – hinterherlaufen.
Aber Platz und
Zeit für die Entwicklung beziehungsweise gewaltfreie Umsetzung
ganzheitlicher Utopien bleibt da wenig. Und das ist für jene, die hier
und jetzt auf «grosse Würfe» (in welche Richtung auch immer) angewiesen
sind – weil sonst ihr Leben ein bedrohtes bleibt, weil sie sich nach
sicheren Welten sehnen, weil ein gelebtes Leben erfüllte Träume mit
einschliesst –, enttäuschend, ja, katastrophal. Die Demokratie ist für
sie eine Zumutung – ohne Alternative. Denn die hiesse – Diktatur. Und da
haben die Kälber noch immer ihre eigenen Metzger gross gemacht.  
Die Gefahr ist nicht die AfD, sondern die Angst vor ihr
Wer jetzt hofft, die AfD
werde im parlamentarischen Alltag scheitern und sich in internen
Flügelkämpfen selbst zerlegen, wer vorschnell auf einen Absturz von
Deutschlands neuen Rechten setzt, der oder die sollte sich, bei aller
Unterschiedlichkeit der politischen Verhältnisse, an die Entwicklung der
Schweizerischen Volkspartei erinnern. Ihr hatte Helmut Hubacher, der ehemalige Präsident der SP Schweiz,
das Ende des Aufstiegs prophezeit, als sie noch einstellige
Wahlresultate erzielte. Aber nicht einmal die gut eidgenössische
Rechtspartei schafft es bei Wahlen, auch nur in die Nähe der absoluten
Mehrheit zu kommen.
Die eigentliche Gefahr ist nicht die AfD
und ihre unmittelbar bevorstehende «Machtergreifung», sondern die Angst
vor ihr. «Man darf diese Kräfte nicht grösser machen, als sie sind. Und
am grössten macht man sie, indem man sie kopiert.» Gibt der frühere
Präsident der SP Schweiz, Hans-Jürg Fehr, im Tagesanzeiger
vom 28. September zu Protokoll. In einer Art vorauseilendem Kniefall
vor den «besorgten Bürgerinnen und Bürgern» werden die
Rechtskonservativen – teilweise bis in linke Parteien hinein – imitiert.
«Die anderen Parteien werden sich an ihr [der AfD] orientieren müssen,
und sie haben damit auch schon angefangen, namentlich in der
Flüchtlingsfrage.» Reibt sich Matussek in der Weltwoche die
Hände. Der verquere, ja, zynische Versuch, den neuen Nationalistinnen
und Nationalisten durch Übernahme ihrer Inhalte sowie Imitation ihrer
Menschenverachtung Stimmen abzujagen, scheitert zwar regelmässig – auch
wenn es die CSU trotz ihres jüngsten Wahlresultats immer noch
nicht wahrhaben will –, aber er verrückt die politischen Koordinaten
generell nach rechts. Bis selbst CVP und FDP einst Gutbürgerlichen als links erscheinen.
Abwehr qua Annäherung
Alan Cassidy und Philipp Loser machen in ihrem Tagi-Artikel
«Die Deutschen in der Blocher-Falle» auf eine weit über das
Parteipolitische hinausgehende «Verschiebung des Grundtons» aufmerksam:
«So wie sich die Parteien nach rechts anpassten, taten das auch die
Medien. In der Themensetzung – die Geschichten über Ausländer,
Kriminelle und eine Kombination von beidem wurden häufiger –, im Ton, in
der Kommentierung.» Dies trotz (oder wegen) gleichzeitig gegenläufiger
Entwicklungen. Hin zu mehr individueller Autonomie und sozialer
Inklusion (Ehe für alle, barrierefreie Zugänge in sämtlichen
gesellschaftlichen Bereichen, multikulturelle Öffnung u.a.). Hin zu
soziokultureller Buntheit und Geschlechter-Vielfalt.
Die
Strategie «Abwehr qua Annäherung» zeigt sich insbesondere in der
Migrations- und Europapolitik. Mit dem Slogan, man dürfe Ausländer- und
Flüchtlingspolitik nicht den Rechten überlassen, ist das Asylrecht
schrittweise verschärft worden, werden offene Grenzen wieder
geschlossen, Menschen mit «Rücknahmeabkommen» und «Flüchtlingsdeals» mit
menschenverachtenden Regimes buchstäblich verschachert. Ohne die immer
wieder erneuerte Absichtserklärung, die Ursachen von Flucht vor Ort zu
beseitigen, auch nur ansatzweise einzulösen. Hauptsache – aus den Augen,
aus dem Sinn. Und weil es nicht gelungen beziehungsweise nie ernsthaft
versucht worden ist, die Anhäufung grosser Reichtümer zu beenden,
ökonomische und soziale Ressourcen radikal, das heisst an der Wurzel
gerechter zu verteilen, werden Flüchtende und andere Migrantinnen
diffamiert.
Sie wollten es sich bei uns auf
Kosten der «kleinen Leute» (wieso eigentlich nicht der «reichen Säcke»?)
– die mit ihren bescheidenen Löhnen beziehungsweise Renten (jetzt
plötzlich) nur knapp über die Runden kämen – gemütlich machen, indem sie
in unsere Sozialsysteme einwanderten. Als würden sie eine Ferienreise
planen. Diesen «Schmarotzern» haben nun auch die Zürcherinnen und
Zürcher bei den jüngsten Abstimmungen die rote Karte gezeigt. Statt 900
Franken Sozialhilfe erhalten vorläufig Aufgenommene künftig nur noch 360
Franken Nothilfe (Tagesanzeiger, 25.9.2017). Im Monat. Und der
bayrische Staatsminister für Finanzen, Landesentwicklung und Heimat,
Markus Söder (natürlich CSU), besteht in der Sendung Anne Will
mit dem Titel «Nach der Protestwahl – Wäre Jamaika die richtige
Antwort?» darauf, soziale Sicherheit und Zuwanderung müsse immer
zusammen gedacht werden. Im Klartext – soziale Sicherheit gibt es nur
mit einer Obergrenze.
Die Angst vor der politischen Union Europa
Aus
Angst vor der Rückkehr des Nationalismus und vor brexit-ähnlichen
Tendenzen ausserhalb Grossbritanniens wird die Fahne der bei der
Gründung angedachten politischen Union Europa nur noch sehr verhalten
hochgehalten. Stephan Israel registriert im Tagesanzeiger
vom 27. September deshalb überrascht, Emmanuel Macron habe in seiner
Europarede als erster Präsident Frankreichs «eingestanden, dass es
selbst für das stolze Frankreich echte Souveränität nur noch als Teil
der EU gibt». In der Schweiz ist es der SVP gelungen, die
«Euroturbos» – die sie als Landesverräterinnen diskreditiert – derart in
die Defensive zu drängen, dass auch die überzeugtesten Befürworter
eines EU-Beitritts, darauf angesprochen, regelmässig stammeln: «Morgen,
morgen, nur nicht heute.» So sehr ist ihnen die Diffamierung Brüssels
als Wiedergänger des Schillerschen Gesslers in die Knochen gefahren.
An der Feier «60 Jahre Römische Verträge» am 21. März 2017 in Brüssel ist es der Schriftsteller, Robert Menasse, der die Grundidee Europas ohne Wenn und Aber ausspricht:
«Die
Idee des Europäischen Projekts ist die Überwindung des Nationalismus,
am Ende die Überwindung der Nationen! Was ist so kompliziert und
unverständlich daran, es laut zu sagen: Es geht um die Souveränität der
europäischen Bürgerinnen und Bürger, und nicht um die Souveränität von
Nationen. Warum wird das nicht selbstbewusst gesagt, warum wird hilflos
zugeschaut, wie die Nationalisten an Boden gewinnen, warum macht man
ihnen Konzessionen, statt ihnen entgegenzutreten mit den besseren
Argumenten: wir haben die historische Erfahrung mit dem Nationalismus,
er hat diesen Kontinent in Schutt und Trümmer gelegt und unermessliches
Leid über Abermillionen von Menschen gebracht. Nationalismus ist keine
schöne Utopie, schon gar kein Menschenrecht, sondern ein historisches
Verbrechen… Der Nationalismus ist nicht die Lösung, er ist das Problem!»
Diese
Utopie Europas geht weit über eine Freihandelszone hinaus, und
vermutlich müssten auch die politisch Verantwortlichen den Mut haben,
für diese gesellschaftliche Vision zu werben statt die Mitgliedschaft in
der EU beziehungsweise gute bilaterale Beziehungen zu ihr auf
wirtschaftliche Vorteile zu reduzieren und Menschen zu ökonomischem
Material zu degradieren. Auch und gerade in Zeiten, in denen die
Schweizer Nationalkonservativen einen tragenden Pfeiler des europäischen
Binnenmarktes zertrümmern wollen – die Personenfreizügigkeit. Die
Freiheit soll, wenn es nach der SVP geht, nur noch für Waren,
Dienstleistungen und Kapital gelten. «Wir haben immer noch die
Arbeitskräfte bekommen, die wir brauchten.» Versucht SVP-Stratege und Unternehmer Christoph Blocher die am 22.9.2017 im Arena-Studio verzweifelt für die Personenfreizügigkeit kämpfenden Firmenchefs zu beruhigen.
Da
wird sichtbar, was diese globalisierten Patrioten und Patriotinnen
sowie jene, die ihnen nach dem Mund reden, wollen – einseitig
geschlossene Grenzen (damit uns die Freiheit für unsere Kreuzfahrten und
Wellness-Aufenthalte in den Armenhäusern der Welt erhalten bleibt), mit
Schlupflöchern für Waren und Geld, reiche Investoren, erfolgreiche
Expats und gute Steuerzahlerinnen; billige Arbeitskräfte für unsere
ausgelagerten Produktionsstätten und Dienstleistungen, am liebsten weit
hinten in Vietnam oder ganz unten in Afrika. Und wenn wir die Fremden
irgendwann doch noch in unserem Land brauchen sollten – für menschliche
Nutztiere haben auch die grössten Nationalisten noch immer ein
Hintertürchen gefunden. Aber nicht für Menschen mit eigenen Hoffnungen
und Träumen. So war Europa eigentlich nicht gemeint.
Lesen Sie hier den zweiten Teil dieses Essays zu den deutschen Wahlen 2017: (Keine) Toleranz für Intoleranz – auch für die AfD.