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„Stirb, bevor du stirbst“ – Ein Interview von Ali Mete mit Scheich Hassan Dyck

Von Ali Mete, Islamiq, 25.
Dezember 2016. Der Tod ist für viele Menschen nach wie vor ein unangenehmes
Thema. Wieso das schon immer so war und warum Muslime im Diesseits wandelnde
Sterbende sein sollten, erklärt Scheich Hassan Dyck im Interview.



IslamiQ: Es gibt nur wenige Dinge, in denen sich die Menschheit einig
ist. Das Faktum des Todes ist eines davon. Trotzdem ist in der heutigen
modernen Zeit der Tod weit weg vom Alltag. Ist das menschlich?
Scheich Hassan Dyck: Je mehr
man sich des Todes bewusst ist, desto besser ist das Leben. Ich trage einen
Turban auf dem Kopf, der zugleich auch mein Leichentuch ist. Im Falle meines
plötzlichen Todes kann ich in ihm eingewickelt und begraben werden, wenn es
nicht anders geht. Wichtiger aber ist: Durch das Leichentuch ist der Tod mein
ständiger Begleiter. Immer wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich das
Leichentuch auf meinem Kopf.
Der Prophet hat
empfohlen, dass man jeden Tag über den Tod nachdenken soll. Wenn man nicht
mehrmals täglich an den Tod denkt, dann ist der Glaube zu schwach. Er wird erst
stark, wenn wir unter Druck stehen, wobei der Tod der größte Druck ist.
Deswegen gibt es viele Menschen, die, wenn sie krank oder kurz vor dem Sterben
sind, ihre höchsten spirituellen Erfahrungen erleben. Doch wenn sie wieder
gesund sind, dann vergessen sie diese Erfahrung wieder und geben sich dem
Weltlichen hin.
Der moderne
Mensch ist geprägt von dem Wunsch nach Freiheit. Er vergisst, dass er ohne
himmlische Hilfe nur durch materielle Dinge niemals Frieden und Rettung finden
wird. Mit der Freiheit ist aber nichts anderes gemeint als die ungezügelte,
grenzenlose Freiheit des Egos. Die Auswüchse einer maßlosen Ratio sehen wir
heute. Wenn das Ego ungezügelt ist, frisst es sich irgendwann selbst auf. Es
zerstört sich selbst.
Alle Religionen
sind ursprünglich gekommen, um das zu verhindern. Ihr Ziel war es, das Ego zu
zügeln, vor allem durch die Erinnerung an den Tod, das Jenseits und die
Vergänglichkeit. Die meisten Religionen haben sich aber inzwischen mit dem
modernen Menschen abgefunden und versuchen zu überleben. Die Ausnahme ist der
Islam. Er hat die Kraft, sich der Verherrlichung des Egos entgegenzustellen.
Dieser Widerstand ist auch der Grund, weshalb am Ego orientierte den Islam
ablehnen.
Die Hingabe der
Menschen zum Weltlichen und die ihre Unterordnung unter ihr Ego lässt sie in
„Gafla“ (Unachtsamkeit) verharren. Was uns wieder zur Achtsamkeit zwingt, ist
die Aussicht auf den Tod. Deswegen hat der Prophet auch gesagt: „Stirb, bevor
du stirbst.“

IslamiQ: Was bedeutet das?
Dyck: Lassen Sie mich das am Beispiel
Abû Bakrs (r) erklären. Einmal fragte der Prophet seine Gefährten „Wollt ihr
einen wandelnden Toten sehen?“. Die Gefährten reagierten verwundert. „Schaut
euch Abû Bakr an“, fügte der Prophet hinzu. Denn Abû Bakr (r) hatte alles
gegeben. Anfangs war er reich, am Ende hatte er nichts mehr – außer Allah. Das
war auch seine Antwort als ihn der Prophet fragte, was er denn seiner Familie
übrig gelassen hatte. Abû Bakr (r) antwortete: „Allah und der Prophet sind
genug für sie.“
Diese Stufe der
Einsicht zu erfahren ist nur wenigen vergönnt. Nur wer einen geistigen Führer
hat und nur wenn Gott es will, kann jemand in diesen Zustand gelangen. Einige
Awliya (Heilige) haben dieses Ziel erreicht und dieses wahre Wort des Propheten
umgesetzt. Sie haben sich absolut Allah hingegeben und wollen nichts mehr außer
die Liebe zu Allah – und das in einem Maß an Aufrichtigkeit, dass Allah es
annimmt. Diese Awliya sind Diener auf dem Weg des Propheten und führen seine
Botschaft fort.

Hassan Dyck absolvierte sein Musikstudium in Berlin und lehrte und
arbeitete danach in Indien. Heute erzählt er vor allem Geschichten
(Sufi-, Derwisch- und Weisheitsgeschichten), wobei er sich selbst auf der
Campanula – auch Cello d’amore genannt – begleitet.
Diese Stufe der
Erkenntnis in seinem Leben zu erreichen, ist nicht Menschen bestimmt. Wichtig
ist, dass man die Absicht dazu hat und sein Bestes tut, um dem Propheten zu
folgen. Die meisten Menschen sterben dann, ohne dass sie vor dem Tod gestorben
sind. Diese Menschen gelangen – inschallah – nach einer seelischen Reinigung
auch ins Paradies. Die Hölle ist ein Ort der Reinigung, indem die Seele durch
das Feuer geläutert wird. Denn etwas Unreines kann nicht in etwas Reines wie
das Paradies eintreten.

IslamiQ: Hat der Tod mehr mit dem diesseitigen Leben zu tun als mit
dem Jenseits?
Dyck: Die Erinnerung des Todes festigt
nicht nur den Glauben, sondern dient auch dazu, zu untersuchen, was der Tod
ist. Der Prophet hat gesagt „Wenn du stirbst, wachst du aus einem Traum auf“.
Das heißt, was wir als reales Leben ansehen, ist nicht real. Das Leben spielt
sich im Bereich der Sinne ab und ist nur eine Illusion, gerade deshalb weil es
irgendwann aufhört. Eine reale Existenz ist etwas Dauerhaftes. Die einzige
dauerhafte Existenz ist die Gottes. Deshalb sagen wir „Lâ ilâha illallâh“, es
gibt nichts/keine Gottheit außer Allah.

IslamiQ: Wie stehen die heutigen
Menschen dem Tod gegenüber?
Dyck: Mit großer Achtlosigkeit. Das
gilt für die gesamte Menschheit einschließlich der Muslime. Die Ausnahmen sind
Menschen, die im Zuge einer Todeserfahrung ihr Leben verändert haben. Bei allen
anderen zählt die Absicht. Wer in der Absicht lebt, dem Beispiel des Propheten
folgend ein besserer Mensch zu werden, dem wird geholfen und der wird auch im
Jenseits belohnt werden.
Wenn wir
sterben steht nicht unser Wissen oder wie wir uns bezeichnen im Vordergrund.
Gott stellt uns nur die eine: „Wolltest du Mich? Hat es einen Augenblick
gegeben, in dem du aus tiefstem Herzen dankbar warst dafür, dass Ich dich
erschaffen habe? Oder hast du alles nur für dein Ego getan?“ Leider ist es so,
dass sogar viele religiöse Menschen nur für ihr Ego arbeiten.

IslamiQ: Philosophen, Literaten und auch Sufis haben sich schon immer
mit dem „ewigen Leben“ beschäftigt. Die Menschen versuchen, ihr Leben auf jede
erdenkliche Weise zu verlängern. Wieso?
Dyck: Wir Menschen lieben das Leben,
weil wir den Genüssen des Lebens verhaftet sind. Wir haben uns einfach an das
Leben gewöhnt und können nicht loslassen. Selbst wenn wir viel leiden, ziehen
wir es vor, zu leben als zu sterben. Zum anderen – und das ist viel wichtiger –
lieben wir das Leben, weil wir tief in unserer Seele wissen, dass es kostbar
ist. Denn es ist schließlich ein Geschenk Allahs. Das Kostbarste am Leben ist
es, Allah zu erkennen und zu sehen, dass eigentlich jeder Atemzug unendlich
kostbar ist. Die meisten sind sich dessen nicht bewusst, aber tief in der Seele
weiß man es. Ich denke, Allah hat das so in der Natur des Menschen angelegt.
Der Prophet David (a) fragt einmal seinen Herrn, warum er alles erschaffen hat
und bekam zur Antwort: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt
werden.“

IslamiQ: Gibt es Methoden und
Wege, sich des Todes zu erinnern?
Dyck: Ich würde jedem empfehlen, sich
ein paar Mal am Tag hinzusetzen und über den Tod zu sinieren, damit die
Illusion des Lebens ins Bewusstsein gerufen und die andere Seite gestärkt wird.
Unser Scheich hat aber nicht so sehr darauf gedrungen, bestimmte Methoden
anzuwenden. Ein Grund dafür ist, dass wir in einer sehr verfallenen Zeit leben,
von der der Prophet auch gesprochen hat. Er hat diese Endzeit beschrieben als
Zeit der Dschâhiliyya, also der Unwissenheit und Ignoranz. Deshalb müssen die
Gläubigen heute vor allem in der Lage sein zu tragen und zu ertragen, nämlich
sich selbst mit all ihren Fehlern und ihre Mitmenschen samt ihrer schlechten
Seiten.
Eine wichtige
Methode der Tarikas, sich des Todes gewahr zu werden, ist die Chilwat
(Einsiedelei). Während der Chilwat löst sich der Murid auf Geheiß des Scheichs
für eine Zeit von 40 Tagen von seinem Alltag und zieht sich völlig aus dem
weltlichen Leben zurück. In dieser Zeit wird der Tod praktisch simuliert. Indem
man sich von allem Weltlichen löst und sich seiner Spiritualität widmet,
schwächt man das Ego bis es stirbt. Das Ergebnis ist die absolut.
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