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Thomas Sitte von der Deutschen Palliativstiftung: in Würde sterben


Von Milena Rampoldi, ProMosaik. Anbei ein neues Thema für
ProMosaik, das der Palliativmedizin oder besser gesagt der Palliativversorgung.
Wie für die Menschen mit Behinderung geht es ProMosaik auch im Falle der
Palliativpatienten darum, die Menschen und sein soziales Teilnahmerechte in den
Mittelpunkt zu setzen. Es geht uns darum, die Diskriminierung kranker Menschen
und ihre Ausgrenzung zu bekämpfen. Zum Thema der holistischen Palliativversorung habe ich Dr. med. Thomas Sitte, dem
Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Palliativstiftung
befragt. Er hat
zahlreiche Bücher und Artikel zum Thema verfasst und setzt sich für einen
würdevollen Tod aller Menschen ein und widersetzt sich wie wir der aktiven
Sterbehilfe. Weitere Informationen zur Stiftung finden Sie hier auf der Seite der Deutschen Palliativstiftung.
Die im Folgenden veröffentlichten Bilder stammen aus den Kalendern der
Palliativstiftung.

Dr. med. Thomas Sitte

Milena Rampoldi: Was ist Palliativmedizin als holistischer
Ansatz? 

Thomas Sitte: PallitivVERSORGUNG, nicht PalliativMEDIZIN ist
im besten Sinne holistisch. Sie sollte (!) immer den ganzen Menschen sehen,
gerade auch in der Wechselwirkung mit seinem Umfeld. Also Geist, Körper,
soziale Beziehungen. Mir ist völlig klar, dass dies eine Idealvorstellung ist,
die von der Wirklichkeit immer wieder eingeholt und relativiert wird. Die
klassische, therapeutische, kurative Medizin ist in der Regel reduktionistisch.
Nur durch die Reduktion auf wesentliche Teilaspekte des Individuums und der
Erkrankung an sich, kann eine kurative Behandlung leitliniengerecht
durchgeführt werden.
Warum habe ich Versorgung und Medizin gleich im ersten Satz
so hervorgehoben. Eben deshalb, weil Palliativmedizin häufig auf den ärztliche
Teilaspekt beschränkt wird, gelegentlich erweitert um die spezifisch fachliche
Palliativpflege. Doch wenn wir einen Menschen mit all seinen körperlichen
Beschwerden und insbesondere mit seinen immer vorhandenen Ängsten und
seelischen Nöten im letzten Lebensabschnitt bis zu seinem Tod begleiten UND
behandeln wollen, dann kommen wir nicht umher ihn und sein soziales Gefüge als
Ganzes zu sehen.
Anders herum. Wenn der holistische Ansatz angemessen
umgesetzt wird, dann höre ich immer wieder: „Ich traue mich das jetzt gar nicht
zu sagen, aber das war jetzt ja wirklich schön. Ich habe jetzt viel weniger
Angst vor meinem eigenen Sterben.”

Palliativmedizin ist für mich für die Menschenrechte von Bedeutung, weil
sie die Würde des Menschen wahrt. Welche sind ihre großen Herausforderungen, um
diesem ethischen Grundsatz auch gerecht zu werden?
Es geht bei der Palliativversorgung noch um mehr als „nur“
um die Wahrung der Menschenwürde. In den Menschenrechtsverträgen ist noch
geregelt: “das individuelle Recht auf Leben, Privatsphäre, auf den
höchstmöglichen Gesundheitszustand, Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln und
auf Anwendung der Forschungsergebnisse fest:
•       Das
Recht auf Privatsphäre (Art.17 IPbpR)
•       Der
höchstmögliche Gesundheitszustand ist ein fundamentales Menschenrecht
(Universale Erklärung der Menschenrechte § 25,1 1948, Präambel der
Weltgesundheitsorganisation)
•       Der
Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln und Gesundheitsdiensten ist ein Menschenrecht
. (§ 12 Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, 1966)
•       Der
Zugang zu Forschungsergebnissen ist ein Menschenrecht. (§ 15 Pakt über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte)“ 
(Quelle Dr. Christiane Fischer, MEZIS).
Zudem ist Palliativversorgung sogar eine
Form der Prävention im Sinne der WHO-Definitionen, denn es werden Problem,
Beschwerden, Verschlechterungen, die sonst im Krankheitsverlauf entstehen
würden. Das nennt man Tertiärprävention (Primärprävention: Krankheit wird
verhindert, Sekundärprävention: Krankheit wird im Progress aufgehalten,
Tertiärprävention: Symptome und Belastungen werden gelindert oder verhindert).
Die Patientenwürde wird viel strapaziert. Oft wird sie
hergenommen um zu beweisen, dass Lebensverkürzung bei Leiden zwingend notwendig
ist. Aus gut gemachter palliativer Praxis wissen wir aber, dass wegen Leidens
(!) niemand sterben muss, das ist immer lindernd behandelbar. Nur wissen das zu
wenige Menschen, auch viel zu wenigen Experten ist dies klar, wie die
Diskussion im Deutschen Bundestag letztes Jahr gezeigt hat. Glücklicherweise
konnten unsere Argumente sich durchsetzen und der geschäftsmäßigen
„Sterbehilfe“ wie in der Schweiz oder gar den Benelux-Ländern konnte dauerhaft
ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben werden.
Schön ist es, dass Sie nach der Wahrung der Würde des
Menschen gefragt haben. Denn die Menschenwürde ist unverminderbar. Jeder Mensch
ist gleich würdig und wert. Da gibt es kein mehr oder weniger. Leider wird die
Menschenwürde oft missachtet, mit Füßen getreten, nicht gewahrt und beschützt.
Aber: sie ist immer vorhanden. Ich habe die selbe Würde wie ein
Schwerstpflegebedürftiger mit angeborenen schwersten Behinderungen, der niemals
„Herr seiner Sinne“ war, dabei aber doch durch unsere Hilfe Wohlbefinden
genießen kann.

Wie können wir als Gesellschaft durch
unser sozio-politisches Handeln aufzeigen, dass wir die Palliativmedizin
verbessern können?
Unsere Gesellschaft ist gefordert, sie ist sogar
herausgefordert. Und die Gesellschaft sind Sie und ich. Wenn WIR nichts tun, um
hospiz-palliatives Wissen und Denken und Handeln zu verbreiten, wird sich
nichts zum Besseren wenden, sondern es geht auf die slippery slope in Richtung
„Schönes Sterben“ (Euthanasia, wie der Angelsachse und Niederländer noch
passend sagt). Nur wenn die Möglichkeiten bekannt sind werden sie angewandt.
Ein wichtiger, aber sehr behäbiger Weg, ist die Umsetzung des Budapest
Commitments mit dem Charta-Prozess. Dazu als Ergänzung viel effektiver und
sofort wirksam sind einfache, verständliche Werbeaussagen. Meine Vision ist die
globale Kampagne für hospiz-palliatives Denken analog zu einer Kampagne für
Benetton oder IKEA. Nur so bringen wir die Möglichkeiten der Versorgung zeitnah
an die Patienten, die diese Versorgungsformen jetzt schon brauchen.
Welche Mythen herrschen immer noch in der Gesellschaft vor,
wenn man von Palliativpflege spricht?
„Nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr
Leben“. Das galt vor 50 Jahren. Damals war es neu. Gleichzeitig führte der
Griff in den „Giftschrank“ zu den „Suchtgiften“ und „Betäubungsmittel“ (alles
furchtbar antiquierte Wortschöpfungen!) dazu, dass immer wieder Leiden
gelindert und Leben verkürzt wurde, weshalb man erst sehr spät die richtigen
Medikamente einsetzt. Heute wissen wir doch, durch richtige Palliativmedizin,
und hier ist der Begriff passend, wird Leiden gelindert und oftmals zugleich
Leben verlängert. Das zweite ist die Eingrenzung auf Pflege und/oder Medizin. Palliativversorgung
ist immer Multiprofessionell. Da müssen etliche, alle Berufsgruppen an einem
Strang ziehen. Bei sovielen Beteiligten braucht es dann einen Kümmerer, der
alles koordiniert und es auch einmal sagt, wenn es zuviel wird. Leider
übernehmen immer weniger Hausärzte aus schlichtem Zeitmangel diese Aufgaben,
obgleich sie es gerne weiter täten. Aber auch für die Hausärzte hat eine Stunde
eben nur 60 Minuten, der Tag nur 24 Stunden und nicht mehr.

Wie wichtig sind Übersetzungen von Büchern zum Thema, um die Kenntnis
auch den MigrantInnen zugänglich zu machen?
 Aus Sicht der PalliativStiftung sind sie einer der
notwendigen Schlüssel zum Erfolg. Es sollten möglichst kultursensible
Übertragungen sein und nicht wortgetreue Übersetzungen. Da wird es dann
wirklich richtig schwierig. Deshalb versuchen wir uns mit der PalliativStiftung
erst einmal an Übersetzungen in möglichst viele Sprachen, das ist schon sehr
aufwändig. Das ist schon einmal eine gute Grundlagen.

ProMosaik ist der Meinung, dass Kranke und auch Menschen mit Behinderung
zur Gesellschaft gehören. Daher das Zauberwort „Inklusion“. Wie kann man dieses
Konzept auch in die Palliativmedizin einbeziehen?
 Ich habe ja oben schon gesagt, dass die Würde des Menschen
nicht mehr oder weniger sein kann. Die Fähigkeiten einer Gesellschaft zeigen
sich gerade daran, wie sie mit ihren schwächsten Gliedern umgeht. Da gibt es
einen wunderbaren Artikel von Prof. Fleßa zur „Letztverlässlichkeit“ als
eigenständigen, volkswirtschaftlichen Wert. Es ist sogar für die Gesellschaft
wichtig, dass die leistungsfähigen Träger des Bruttosozialproduktes sich darauf
verlassen können, dass sie in Krankheit und Hilflosigkeit entsprechend den
ihnen eigenen Vorstellungen versorgt werden.
Zum Thema Inklusion fällt mir spontan ein, es wird wohl noch
eine ganze Weile dauern, bis man mit einer größeren Gruppe von vielleicht
ungewohnt lautierenden Menschen mit Behinderungen, die auch noch nicht
äußerlich schön im klassischen Sinne sind in ein Restaurant zum Essen und
Feiern gehen kann, ohne dass man angegafft wird und neu eintretende Kundschaft
auf der Schwelle wieder kehrt macht. Was heute unter Inklusion läuft, wirkt aus
meiner Sicht immer wieder wie ein Feigenblatt um Defizite in der Inklusion zu
verstecken.
Da gibt es noch viele und sehr, sehr dicke Bretter zu
bohren.
Genauso werden schwerkranke und sterbende Menschen oft vor
den Gesunden – vielleicht auch gut meinend – abgeschirmt. Ein Hospiz in einem
Wohngebiet mindert den Verkaufswert der Nachbargrundstücke. Sie können dies
gerne einen Skandal nennen. Doch Angebot und Nachfrage regeln den Preis und so
ist eben die marktwirtschaftliche Realität …
Ein Traum unserer Stiftung ist ein PalliMobil als
XXXXL-Version eines Wohnmobils, mit dem wir auch schwerstpflegedürftige
Menschen dorthin fahren können, wo sie noch einmal gerne hinwollen. Sei es an
den Ballermann oder in die Elbphilharmonie! Wenn das möglich wird UND sich dann
niemand der anderen Gäste daran stört, dann ist echte Inklusion gelungen.
Was wir jetzt machen können? Hospize sollten mitten im Leben
entstehen und nicht an den (Stadt)Rand gedrängt werden. Gut sterben sollte man
auch im Krankenhaus und Pflegeheim können. Und auch z.B. in beschützenden
Werkstädten oder inklusiven Schulen. Und natürlich und besonders auch daheim.
Ich könnte Ihnen da von Problemen berichten, an die Sie wohl kaum im Traum
denken würden. Nach dem Tod sollten wir die Verstorbenen nicht durch den
Bestatter reflexartig „entsorgen“ lassen, sondern in Würde am vertrauten Ort
ausreichend lange Abschied nehmen können. Rechtlich ist das schon längst
möglich. Nach dem Tod sollten wir natürlich und ungehemmt mit Hinterbliebenen
umgehen können. Haben Sie es vielleicht selber schon erlebt, dass Ihnen ein
Mensch entgegen kam, der gerade ein Elternteil, seinen Lebensgefährten oder gar
sein Kind verloren hat und Sie hätten am Liebsten die Straßenseite gewechselt.
Ich kenne das Gefühl aus beiden Perspektiven.