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Status F: In der Schweiz gibt es fast 35’000 vorläufig Aufgenommene Vorläufig keine Aufnahme

Von Oswald Sigg, Infosperber, 22.
November 2016. Abgewiesene Asylsuchende mit vorläufigem Aufenthalt F leben mit
vielen Einschränkungen. Der Bundesrat möchte dies ändern.
Red. Oswald Sigg war
Bundesratssprecher, Informationschef verschiedener Departemente und der SRG
sowie Chefredaktor der SDA. Er schreibt u.a. für das Internet-Portal «Hälfte /
Moitié» und wohnt in Bern.
Endlich. Die vorläufige Aufnahme
abgewiesener Flüchtlinge, deren Ausreise nicht vollzogen werden kann, will der
Bundesrat durch einen Status für schutzbedürftige Personen ersetzen. Heute gibt
es 34’741 vorläufig Aufgenommene in der Schweiz. Sie alle haben einen schönen
blauen Ausweis, der ihren Status F bescheinigt. Das bedeutet: keine
Freizügigkeit, kein Zugang zum Arbeitsmarkt, kein Familiennachzug. Arbeiten sie
trotzdem gelegentlich, haben sie eine Sondersteuer zu entrichten. Reisen ins
Ausland oder ins Herkunftsland sind verboten. Ansonsten überleben sie dank der
kommunalen Sozialhilfe. Auch diese ist nicht garantiert. Ausgerechnet im Kanton
Zürich will man die Sozialhilfe für vorläufig Aufgenommene streichen. Trotzdem:
Mit dem Status F kann man einigermassen leben. Aber wie?
Eine Geschichte als Beispiel
A.B. aus C. überschreitet im
Herbst 2004 die Schweizer Grenze in Vallorbe. Die Frau (31) ist aus einer
grossen Stadt in einem südwestafrikanischen Land hierher geflüchtet. Das EDA
empfiehlt in den Reisehinweisen noch heute, diese Stadt zu meiden – sie gilt
als hochgefährlich.
A.B. ersucht beim Grenzübertritt
um politisches Asyl. In einem siebenstündigen Verhör bekennt sie sich als
Sozialistin und Oppositionelle zum herrschenden Regime. Drei Monate zuvor war
sie zuhause von einer Gang des Regimes überfallen und in ein Gefängnis geworfen
worden. Vier Tage später schleppen sie drei Männer in ein abgelegenes Haus und
vergewaltigen sie dort unter Todesdrohungen mehrfach. Schwer verletzt zurück im
Gefängnis, wird die Frau aufgrund massiver Proteste ihrer Mitgefangenen ins
Spital gebracht. Auch dort findet sie bei den Mitpatienten Unterstützung und
entschliesst sich nach einer Woche zur Flucht. Sie lässt zwei Kinder im Alter
von 5 und 8 Jahren bei ihrer Familie zurück. Die Mutter und die Geschwister
hoffen, dass sie ihnen aus Europa bald Geld schicken wird.
Die geflüchtete Frau erhält den
Ausweis N für Asylsuchende. Sie wohnt in verschiedenen Unterkünften im Kanton
Bern. Sie leidet an einer mittelgradig depressiven Entwicklung mit
Schlafstörungen, chronischen Kopfschmerzen sowie chronischer Müdigkeit und
beansprucht die regelmässige Hilfe einer Psychiaterin – bis heute. Wenn es ihr
Gesundheitszustand erlaubt, geht sie einer «unselbständigen Erwerbsarbeit»
nach.
Vier Jahre später entscheidet das
Bundesamt für Migration: Asylgesuch abgelehnt, Ausreise innerhalb von 7 Wochen
oder gewaltsame «Wegweisung». Der Rekurs gegen diese Verfügung vor dem
Bundesverwaltungsgericht wird von zwei Bundesrichtern und einem
Bundesgerichtsschreiber behandelt. Während noch das Bundesamt für Migration die
ganze Geschichte von A.B. als unwahrscheinlich ablehnt, glauben ihr die
Bundesrichter wenigstens die mehrfache Vergewaltigung. Allerdings ziehen die
drei Herren aus dem Bericht der Asylsuchenden über die erlittenen Schändungen
den Schluss, «dass diese Taten einen anderen Hintergrund haben, als den von der
Beschwerdeführerin behaupteten.» Asylgesuch endgültig abgelehnt.
Die gedemütigte, kranke Frau
verbringt zwei Jahre in einem Ausschaffungslager im Berner Seeland. Eines Tages
wird sie im Aufenthaltsraum Zeugin eines Streits, der eine Armlänge neben ihr
zum Tod eines Insassen führt. Dann erhält sie dank den unablässigen Bemühungen
einer Juristin der Berner Rechtsberatungsstelle den Ausweis F – die vorläufige
Aufnahme, aus humanitären Gründen.
Mithilfe des kommunalen
Sozialdienstes lebt sie nun in einer kleinen Wohnung und folgt zunächst einem
Arbeits-Integrationsprogramm. Eine Sozialfirma beschäftigt sie und 50 weitere
Asylbewerber für je 100 Franken monatlich. Ihre Arbeitsleistungen werden an private
Auftraggeber zu Marktpreisen verkauft. Danach soll sich A.B. nach einer Stelle
umsehen. Seit letztem Herbst hat sie rund 600 Bewerbungen geschrieben – ohne
Erfolg, oft ohne Antwort.
Im Sommer 2016 stirbt ihre Mutter
in Afrika. Ein privates Hilfswerk würde ihr die Reise für die Teilnahme am
Begräbnis finanzieren. Sie würde nach 12 Jahren ihre beiden Söhne, ihre Familie
wiedersehen. Der Sozialdienst lehnt ihr Gesuch ab. Sie bewirbt sich seit langem
um die reguläre Aufenthaltsbewilligung B, weil sie sich nur damit Chancen auf
dem Arbeitsmarkt verspricht. Und wartet seit Monaten vergeblich auf eine
Antwort.
Das ist nur eine von 34’741
Geschichten.