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PSYCHOSOZIALES ZENTRUM FÜR GEFLÜCHTETE

von Armin Wühle, MiGAZIN,
29. November 2016. „Nicht hilflos sein,
sondern Kontrolle wiedergewinnen“. Die Erfahrungen im Herkunftsland, auf
der Flucht und hierzulande hinterlassen Spuren: viele Geflüchtete in
Deutschland gelten als traumatisiert. Psychosoziale Zentren unterstützen die
Betroffenen, haben aber häufig mit strukturellen Hürden zu kämpfen. Über die
Arbeit mit belasteten Menschen, die nur schwer Zugang zu Hilfe erhalten.

Armin Wühle studierte am Institut
für Literarisches Schreiben in Hildesheim, anschließend Studium der Geschichte
und Soziologie in Hannover. Er ist Fellow der Menschenrechtsorganisation
Humanity in Action. Freie journalistische Arbeiten.


Dieses Bild hängt dauerhaft im 1.
Stock des “Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen
e.V.” © NTFN

Die Sprechstunde beginnt um zehn Uhr, aber die Plätze im Wartezimmer sind
schon zuvor besetzt. Menschen unterschiedlichster Herkunft sitzen hier, Männer,
Frauen, Kinder. Manche zeichnet ein leerer Blick, stumm aus dem Fenster
gerichtet, wo die St. Marien Kirche zur vollen Stunde schlägt. Karin Loos und
ihre Kollegen werden in den kommenden Stunden mit ihnen sprechen. Es ist
Montag, heute können Geflüchtete ohne Voranmeldung ein Gespräch führen. Es soll
den Hilfesuchenden Halt geben, sie stabilisieren, über weitere
Behandlungsmöglichkeiten informieren. Fünf Mitarbeiter arbeiten gleichzeitig,
um den Andrang zu meistern – darunter Psychotherapeuten, Psychologen,
Sozialpädagogen. Der Andrang wird auch vier Stunden später, am Ende der
Sprechzeit, nicht abgeschwollen sein.
Als das „Netzwerk für traumatisierte
Flüchtlinge in Niedersachsen
“ seine Arbeit begann, bezog
Geschäftsführerin Loos noch ein 14 Quadratmeter-Zimmer in den Räumen des
Flüchtlingsrats. Doch der Bedarf sprengte bald jeden Rahmen. Jetzt ist aus der
kleinen Kammer ein psychosoziales Zentrum in Hannover geworden, das sich über
zwei Stockwerke erstreckt und im ganzen Bundesland die Behandlung
traumatisierter Geflüchteter koordiniert. Als im niedersächsischen
Salzhemmendorf ein Brandanschlag die Wohnung einer Mutter und ihrer Kinder
zerstörte, sandte das Netzwerk eine Therapeutin in die Unterkunft.
Ehrenamtlichen und Sozialarbeitern bietet das Zentrum zudem Schulungen im
Umgang mit traumatisierten Geflüchteten, auch Kitas melden einen zunehmenden
Bedarf.
Karin Loos bietet jedem Patienten eine Tasse Kaffee an, bevor sie das
Gespräch beginnt. Eine vertraute Atmosphäre will sie schaffen, anders als in
den Beamtenstuben des BAMF. Dort ist ein detailreicher, widerspruchsfreier und
kongruenter Bericht für die Bleibeperspektive häufig entscheidend – doch viele
Geflüchtete können diesen nicht leisten. Grund dafür können traumabedingte
Gedächtnisstörungen sein, aber auch eine wahnsinnige Angst, von dem Erlebten
berichten zu müssen. Deswegen der Kaffee. Deswegen die freundlichen Worte, ein
helles Zimmer und vor allem – kein Druck.
Nicht nur im Asylverfahren finden
psychische Probleme zu wenig Beachtung. Auch in sozialen Einrichtungen und bei
den Betroffenen selbst ist das Thema mit Unsicherheit verbunden. Loos berichtet
von einer Patientin, die drei Magenspiegelungen hinter sich hatte, bis sie
bemerkte, dass es sich um psychosomatische Beschwerden handelte. Geflüchtete
leiden Untersuchungen zufolge etwa zehn Mal häufiger unter psychischen
Beschwerden als die Durchschnittsbevölkerung in westlichen Ländern. Oft werden
Depressionen oder eine PTBS diagnostiziert. Loos unterstreicht jedoch, dass der
Begriff der Post-traumatischen Belastungsstörung irreführend sei.
Vielmehr sei die Situation im Aufnahmeland entscheidend, ob sich der
Gesundheitszustand von Betroffenen zum Negativen verändere oder nicht. Es komme
auf ein sicheres und stabiles Umfeld an – genau das Gegenteil sei jedoch die
Realität vieler Geflüchteter in Deutschland. Dass mit dem Asylpaket II eine
schnellere Abschiebung psychisch Kranker beschlossen wurde, macht die Sache
nicht besser.
Auch wegen derlei Umstände ist das Wartezimmer so voll. Manche Betroffene
sind über hundert Kilometer angereist, um heute ein Gespräch führen zu können.
Gerade in ländlichen Gebieten ist die Versorgung schlecht, viele müssen lange
Wege auf sich nehmen – die Anfahrtskosten müssen sie selbst tragen. Ohne
ehrenamtliche Therapeutinnen und Therapeuten wäre dieser Ansturm kaum zu
bewältigen. Eine von ihnen ist die Ärztin Dr. med. Gisela Penteker. Obwohl sie
ihre Rente genießen könnte, übernimmt sie heute die Erstaufnahme von Patienten.
Ihr erstes Gespräch führt sie mit einem jungen Afghanen, der nach einer
Minenverletzung unter Schlafstörungen leidet; sein Cousin, der schon länger in
Deutschland lebt, übersetzt für ihn.
Erst nach vierzehn Uhr wird es ruhiger im Wartezimmer. In Gedanken ist da
Loos bereits bei den Finanzen. Immer wieder scheitern Psychotherapien an der
Kostenübernahme, nicht jedes Sozialamt bewilligt den Antrag. Dolmetscherkosten
werden von den Krankenkassen nicht übernommen – so wird für manche eine
Therapie unmöglich. Es sind solche strukturellen Hürden, die die Arbeit für
Loos und das Team häufig erschweren. „Aber ich bin ein Mensch, der hofft“, sagt
sie und richtet das Wartezimmer wieder schön her. Morgen kommen die nächsten
Patienten.