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Die Menschen mit Behinderung in der Familie

Von Amelia Massetti, Artemisia, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi,
ProMosaik. Wir möchten im Rahmen unseres nächsten Treffens aufzeigen, wie
wichtig es ist, in der Lage zu sein, mit den direkt und indirekt involvierten
Personen offen über das Thema der Behinderung zu sprechen.
Das italienische Original finden Sie hier.


In der Tat ist es gar nicht einfach, dieses heikle Thema anzugehen.
Normalerweise tendiert man dazu, sich nach der Nachricht, dass das eigene Kind
ab seiner Geburt unter einer Behinderung leidet, zu isolieren. Dies ist auch
der Fall, wenn man später von dieser Behinderung erfährt oder es infolge einer
Krankheit oder eines Unfalls dazu kommt.
Die erste Reaktion einer Familie besteht immer in der Ungläubigkeit, in der
Verneinung der Behinderung, im Zorn und Scham. Diese sind die typischen
Gefühle, die beim ersten Kontakt zur Behinderung aufkommen.
Der Mythos des perfekten Kindes, auf das wir während der Schwangerschaft gewartet
haben, fällt plötzlich zusammen wie ein Kartenhaus.
Dieses ist meines Erachtens das erste Gefühl des Schmerzes, das das
Elternteil verspürt, wenn es erfährt, dass das eigene Kind unter einer
Behinderung leidet.
Diesen Schmerz kann man manchmal auch mit einer Trauer vergleichen, denn
das Ereignis der Geburt, das normalerweise Grund zur Freude und zum Glück ist,
verwandelt sich ganz plötzlich in einen Moment der Trauer, den man nicht mit
den anderen teilen kann.
Der Traum, den wir hatten, und die Erwartungen, die wir an den Neugeborenen
hegten, stürzen ein. Es stirbt der von uns angestrebte Mythos.
Es ist der Schmerz des Unerwarteten, der in erster Linie das Elternteil
belastet. Die Mutter, die ein Kind geboren hat, das auf andere Weise gesund
ist, leidet dabei am meisten.
Mit der Zeit reagieren die Mutter und der Vater unterschiedlich auf diesen
Schmerz.
Entweder sind sie in der Lage, das Trauma zu verarbeiten, indem sie das
Anderssein des eigenen Kindes direkt und mit Mut angehen. Oder sie „fressen“
das Leid in sich hinein und führen es ihr Leben lang mit sich herum. Dies führt
zu einer chronischen Depression.
Es gibt Eltern, die in der Lage sind, diese Angst vor dem Ungewöhnlichen zu
verarbeiten und auch imstande sind, bei kompetenten Menschen Hilfe zu suchen.
Aber schon dadurch fühlt sich das Elternteil von seiner Rolle als Elternteil
beraubt, weil es denkt, nicht mehr frei über seine Beziehung zum eigenen Kind
entscheiden zu dürfen.
Man muss sich demzufolge eine Reihe von Verhaltensweisen aneignen, sich
aber auch in sozio-kultureller Hinsicht nach Außen anpassen.
Andere hingegen isolieren sich in einer exklusiven Beziehung zum Kind und
fühlen sich fast wie ein Beschützer, der in der Lage ist, alle Bereiche –  den sozialen, affektiven und emotionalen –
des Kindes zu managen.
Die Gefühle und Emotionen sind in diesem Bereich oft widersprüchlich. Sie
können zu Konflikten in der Partnerschaft führen. Es kann vorkommen, dass man
gegenseitige Unterstützung sucht und dass sich dann die Beziehung in eine
ausschließliche Elterneinbahnstraße verwandelt, die oft auch die anderen Kinder
ausschließt.
Oder es kommt zur Trennung. Oder man gibt sich gegenseitig die Schuld für
dieses Leid und ist nicht mehr in der Lage, in einer Liebesbeziehung zu leben.
Oder man verwehrt sich die Möglichkeit, die eigenen Ängste anzugehen und
Anpassungslösungen zu suchen.
Man kann sich mit einer von diesen Gruppen von Eltern identifizieren… die
sich um die Kinder mit Behinderung kümmern. Sich jeden Tag diesen „Mantel“ anzuziehen,
wird auf Dauer eine Last voller widersprüchlicher Gefühle auch gegenüber der
Gesellschaft, die dafür verantwortlich ist, dass das Elternteil und das Kind
nicht aufgenommen werden.
Die Wiedergeburt erfolgt nur zu dem Zeitpunkt, zu dem man die Diversität
des eigenen Kindes an sich anerkennt, ohne sich dafür die Schuld zu geben. Und
sie geschieht, wenn man sich die notwendigen Instrumente aneignet, um gemeinsam
mit dem eigenen Kind einen Weg zu gehen, der oft auch für das Elternteil neue
und unerwartete Ressourcen aktiviert. Denn das Elternteil entdeckt durch diese
Veränderung eine Kapazität des Widerstandes bzw. der Resilienz wieder, die bis
zu dem Zeitpunkt unvorstellbar war. Es tut  sich eine reichhaltige Welt voller
verschiedener Emotionen auf, die man unter anderen Umständen nicht
kennengelernt hätte.
Wenn das Elternteil in der Lage ist, die Diversität des eigenen Kindes wie
eine Entdeckung von Emotionen, für die man nicht bereit war, zu akzeptieren,
dann erfolgt eine Katharsis. Der anfängliche Schmerz kann enden. Und er schafft
Raum für die Kenntnis emotional-sinnlicher Erfahrungen, die nicht nur den
Einzelnen, sondern die gesamte Gemeinschaft bereichern.
Artemisia organisiert einen gemeinsamen runden Tisch zum Thema:
Die Menschen mit Behinderung in der Familie: Erfahrungen im Vergleich.
Wann: Montag, den 5. Dezember um 18 Uhr
Wo: beim ANE- Arbeitskreis Neue 
Erziehung e.V.
Adresse: Hasenheide 54 10967 Berlin
Wie: U7 Südstern- zweiter Hof, 2. Etage
Moderatorin: Barbara Ricci
Einführung: Amelia Massetti, die Gründerin des Projektes Artemisia
Mitwirkende: Dora Venturi (Rechtsanwältin) Chiara Giorgi (Lehrerin)