Indem er die Palästinenser anklagt, die Juden „ethnisch zu säubern“ zu versuchen, verdreht Netanjahu nicht nur die Geschichte, er delegitimiert aktiv die Palästinenser und die israelische Linke.
„Ethnische Säuberung ist die zwangsweise Vertreibung von ethnischen oder religiösen Gruppen von einem besonderen Gebiet mit der Absicht, dieses ethnisch oder religiös homogen zu machen. Das ist die allgemein akzeptierte Definition dieses Ausdrucks und gibt es keine Meinungsverschiedenheiten darüber“. Diese Worte wurden von Moshe Arens letzten Monat in einem Gastkommentar in der Zeitung Ha’aretz geschrieben.
Arens fraget: „Warum hat Netanjahus jüngster Gebrauch dieses Ausdrucks benützt, solch einen Aufruhr verursacht?“ Schließlich Mehrere ethnische Säuberungen von Juden in Erez Israel, behauptet er, seien doch in der Vergangenheit ausgeführt worden. Die letzte und größte während des Abzugs von Gaza, „als alle jüdischen Siedler zwangsweise von ihren Häusern abgezogen wurden. Aber das war ein Fall, wo Juden Juden entwurzelten, werden Sie sagen. Macht dies daraus irgendwie weniger einen Fall von ethnischer Säuberung? Das Ziel dieses Abzugs war, den Gazastreifen judenfrei zu machen.“
Man muss sich mit den Fragen auseinandersetzen, die von Arens gestellt werden, weil sie, genauso wie Netanjahus Behauptungen, nur durch einen erheblichen Mangel an tatsächlichem Wissen unter Israelis über ethnische Säuberung und ihre Relevanz für die israelisch-palästinensische Realität ermöglicht wurden.
Was ist also ethnische Säuberung? Der Abschlussbericht der gemäß Resolution 780 (1992) des Sicherheitsrats gebildeten Expertenkommission (vorgelegt im Mai 1994) – ein grundlegendes Dokument betr. Definition des Begriffs, d erklärt, dass Ethnische Säuberung :
… eine zielgerichtete Politik ist, von einer ethnischen oder religiösen Gruppe ausgelegt, um mit gewalttätigen und Schrecken einjagenden Mitteln die zivile Bevölkerung einer anderen ethnischen oder religiösen Gruppe aus einem gewissen geografischen Gebiet abzuschieben….Der Ziel scheint die Besatzung eines Gebietes zu sein zum Ausschluss der gesäuberten Gruppe oder Gruppen.
Die gewalttätigen Mittel, die zur ethnischen Säuberung benutzt werden schließen „Mord, Folter, willkürliche Verhaftungen und Festnahmen, außergerichtliche Hinrichtungen, Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe, Einsperrung ziviler Bevölkerung in Ghettogebiete, zwangsweise Vertreibung und Deportation ziviler Bevölkerung, vorsätzliche militärische Angriffe oder Drohungen von Angriffen gegen Zivilpersonen und -Gebiete …. Und mutwillige Zerstörung von Eigentum“. Und in dem Maß diese Handlungen Bestandteil einer kohärenten Politik sind, stellen diese Praktiken Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, und können spezifischen Kriegsverbrechen gleichgesetzt werden. Außerdem könnten solche Handlungen auch unter dem Völkermord-Übereinkommen fallen“.
Wenn man dieser Definition folgt ist es klar, dass Behauptungen von Arens schlicht falsch sind; die Gewalttätigkeiten, die er beschreibt, könnten als Kriegsverbrechen angesehen werden, aber sie waren in keiner Weise Beispiele ethnische Säuberung, das heißt von einer kohärenten Politik, die ein Gebiet von Juden zu „säubern“ beabsichtigte. Der einzige Fall einer eindeutigen Politik, jüdische Zivilisten von einem Gebiet zu entfernen, war der Rückzug aus Gaza.
Doch der Ausdruck „ethnische Säuberung“ ist auch hier deutlich falsch. Die Entfernung der jüdischen Bevölkerung während des Rückzugs wurde durch den Staat Israel initiiert und ausgeführt, die herrschende nationale ethno-religiöse Entität, zu der die vertriebene Bevölkerung als gleiche Bürger gehört. Außerdem war sein Ziel nicht die Besatzung eines Gebietes, sondern genau das Gegenteil: das Ende der militärischen Besatzung. Außerdem war die Verlagerung das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, der die Mitwirkung der vertriebenen Bevölkerung und ihrer Unterstützer einschloss. Deshalb war es auch eine legale Aktion innerhalb des zivilen Rahmens (der Staat), den beide, die vertriebene Bevölkerung und die verdrängte Partei, teilten. Das ist auch wahr, was die Mittel der Verdrängung betrifft, die legalen Mittel der Vertreibung, die legal begrenzten, nicht tödlichen Zwang einschloss, der nur angewandt wurde, wenn andere Mittel versagten und mit der vollen Anerkennung, dass die Vertreibung – freiwillig oder gezwungen – schädlich gegenüber der vertriebenen Bevölkerung war, wie reflektiert in den Entschädigungen, die den Vertriebenen gegeben wurden.
Tatsächlich jeder, der den Ausdruck „ethnische Säuberung“ versteht, würde ihn einfach nicht im Zusammenhang mit dem Rückzug von Gaza anwenden, es sei denn die Person wäre an negativer Propaganda interessiert. Solch ein Bestreben war offensichtlich bei der Kampagne, die von denen ausgeführt wurde, die gegen den Rückzug waren, den sie als „Entwurzelung“ zu umbenennen versuchten – eine Wahl, die klar und offensichtlich im Text von Arens ist. Seit dieser Zeit hat die vorherrschende israelische Rechte hart gearbeitet, ins israelische , öffentliche, kollektive Bewusstsein den Mythos der „Vertreibung von Gusch Katif“ einzugießen – ein Mythos, zusammengesetzt als traumatisches Narrativ, das der israelischen Tradition folgt, politische und wirtschaftliche Interessen und Forderungen durch demagogische Selbstviktimisierung zu fördern.
Dies stimmt auch für Netanjahus virales Video. Wie die „Neuen Historiker“ gezeigt haben, wurde der bedeutendste Akt der ethnischen Säuberung in der israelisch-palästinensischen Geschichte von Israel geplant und von Israel gegen die Palästinenser während des sognennanten Unabhängigkeitskrieges (Israels) ausgeführt, was als Nakba bekannt wurde. Doch die Realität der ethnischen Säuberung gehört nicht der Vergangenheit: nach den vorher erwähnten Definitionen, ist es möglich, zu behaupten, dass Israel die ethnische Säuberung in einigen Teilen der 1967 besetzten Gebiete, speziell in der Nähe der jüdischen Siedlungen durchzuführt. Netanjahus Argument, dass die Palästinenser wünschen, die Juden ethnisch zu säubern, war in Wirklichkeit gedacht, den Spieß umzudrehen und gleichzeitig die Siedlungen schönzufärben.
Dies ist ein kalkuliertes und besonders hässliches Manöver im Propagandakrieg, den Israel gegen die Palästinenser und die BDS-Bewegung führt. Doch dieses Manöver zielt nicht nur oder sogar erst das internationale Publikum. In der Tat zielt Israels und besonders Netanjahus Propaganda zu allererst die israelische Öffentlichkeit. Es ist Teil der weit reichende revisionistischen Bemühung der Rechten, die Palästinenser und die Israelische Linke im Inner-israelischen Diskurs zu delegitimieren, indem man sie als feindliche Kräfte positioniert, die auf die ethnische Säuberung von „uns“-den Juden- versessen sind
Die Bemühungen, ein Narrativ zu basteln, die im heutigen Israel stattfinden, und in der öffentlichen Sphäre spürbar sind, folgen dem klassischen orwellschen Spruch: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit“. Die zynische und instrumentale Neuschreibung der Vergangenheit als auch die extensive Benutzung von negativer Propaganda sind klare Kennzeichen von Faschismus.