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Mit einem viralen Video schrieb Netanjahu Israels Geschichte neu

von Naaman Hirschfeld, übersetzt von Ellen Rohlfs, herausgeben von Fausto Giudice, Tlaxcala 11.10.2016. Indem er die Palästinenser anklagt, die Juden „ethnisch zu säubern“ zu versuchen, verdreht Netanjahu nicht nur  die Geschichte, er delegitimiert aktiv die Palästinenser und  die israelische Linke.

Indem er die Palästinenser anklagt, die Juden „ethnisch zu säubern“ zu versuchen, verdreht Netanjahu nicht nur  die Geschichte, er delegitimiert aktiv die Palästinenser und  die israelische Linke.

„Ethnische Säuberung ist die zwangsweise  Vertreibung von ethnischen oder religiösen Gruppen von einem besonderen Gebiet mit der Absicht, dieses ethnisch oder religiös  homogen zu machen. Das ist die allgemein akzeptierte Definition dieses Ausdrucks und  gibt es keine Meinungsverschiedenheiten darüber“. Diese Worte wurden von Moshe Arens letzten Monat in einem Gastkommentar in der Zeitung Ha’aretz geschrieben.
Arens  fraget: „Warum hat Netanjahus jüngster Gebrauch dieses Ausdrucks benützt, solch  einen Aufruhr verursacht?“ Schließlich Mehrere ethnische Säuberungen von Juden in Erez Israel, behauptet er,  seien doch in der Vergangenheit ausgeführt  worden. Die letzte und größte während des Abzugs von Gaza, „als alle jüdischen Siedler zwangsweise von ihren Häusern abgezogen wurden. Aber das war ein Fall, wo Juden Juden entwurzelten, werden Sie sagen. Macht dies daraus   irgendwie weniger einen Fall von ethnischer Säuberung? Das Ziel dieses Abzugs war, den Gazastreifen judenfrei zu machen.“
Man muss sich mit den Fragen auseinandersetzen, die von Arens gestellt werden, weil sie, genauso wie Netanjahus Behauptungen, nur  durch einen erheblichen Mangel an tatsächlichem Wissen unter Israelis über ethnische Säuberung und  ihre Relevanz für die israelisch-palästinensische Realität ermöglicht wurden.
Was ist also ethnische Säuberung? Der Abschlussbericht der gemäß Resolution 780 (1992) des Sicherheitsrats gebildeten Expertenkommission (vorgelegt  im Mai 1994) – ein  grundlegendes Dokument betr. Definition des Begriffs, d erklärt, dass Ethnische Säuberung  :

… eine zielgerichtete Politik ist, von einer ethnischen oder religiösen  Gruppe ausgelegt, um mit gewalttätigen und Schrecken einjagenden Mitteln die zivile Bevölkerung einer anderen ethnischen oder religiösen Gruppe  aus einem gewissen geografischen Gebiet abzuschieben….Der Ziel scheint die Besatzung  eines Gebietes zu sein zum Ausschluss der  gesäuberten Gruppe oder Gruppen.

Die gewalttätigen Mittel, die zur ethnischen Säuberung benutzt werden schließen „Mord, Folter, willkürliche Verhaftungen und Festnahmen, außergerichtliche Hinrichtungen,  Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe,  Einsperrung ziviler Bevölkerung in Ghettogebiete, zwangsweise Vertreibung und Deportation ziviler Bevölkerung, vorsätzliche militärische Angriffe oder Drohungen von Angriffen gegen Zivilpersonen und -Gebiete …. Und  mutwillige Zerstörung von Eigentum“. Und in dem Maß diese Handlungen Bestandteil einer kohärenten Politik sind, stellen diese Praktiken  Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, und können spezifischen Kriegsverbrechen gleichgesetzt werden. Außerdem könnten solche Handlungen auch unter dem Völkermord-Übereinkommen fallen“.
Wenn man dieser Definition folgt ist es klar, dass Behauptungen von Arens schlicht falsch sind; die Gewalttätigkeiten, die er beschreibt, könnten  als Kriegsverbrechen angesehen werden, aber sie  waren in keiner Weise Beispiele ethnische Säuberung, das heißt von einer kohärenten Politik, die  ein Gebiet von Juden zu „säubern“ beabsichtigte. Der einzige Fall einer eindeutigen Politik, jüdische Zivilisten  von einem Gebiet  zu entfernen, war  der Rückzug  aus Gaza.
Doch der Ausdruck „ethnische Säuberung“ ist auch hier deutlich falsch. Die Entfernung der jüdischen Bevölkerung während des Rückzugs  wurde durch den Staat Israel initiiert  und ausgeführt, die herrschende nationale ethno-religiöse Entität, zu der die vertriebene Bevölkerung als gleiche Bürger gehört. Außerdem war  sein Ziel nicht die Besatzung eines Gebietes, sondern genau das Gegenteil: das  Ende der militärischen Besatzung. Außerdem  war  die Verlagerung das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, der die  Mitwirkung  der  vertriebenen Bevölkerung  und ihrer Unterstützer einschloss. Deshalb war es auch eine legale Aktion innerhalb des zivilen Rahmens (der Staat), den  beide, die vertriebene Bevölkerung und die verdrängte Partei, teilten. Das ist auch wahr, was die Mittel der  Verdrängung betrifft, die legalen Mittel der  Vertreibung, die legal begrenzten,  nicht  tödlichen Zwang einschloss, der nur angewandt wurde, wenn andere Mittel versagten und  mit der vollen  Anerkennung, dass die Vertreibung – freiwillig oder gezwungen  – schädlich gegenüber der vertriebenen Bevölkerung war,  wie reflektiert in den Entschädigungen, die den Vertriebenen  gegeben wurden.
Tatsächlich jeder, der den Ausdruck „ethnische Säuberung“ versteht, würde ihn einfach  nicht im Zusammenhang mit dem Rückzug von Gaza anwenden, es sei denn die Person wäre an negativer Propaganda interessiert. Solch ein Bestreben war offensichtlich bei der Kampagne, die von denen ausgeführt wurde, die gegen den Rückzug waren, den sie als „Entwurzelung“ zu umbenennen versuchten – eine Wahl, die  klar und  offensichtlich im  Text von Arens ist. Seit dieser Zeit hat die vorherrschende israelische Rechte hart  gearbeitet, ins israelische , öffentliche, kollektive Bewusstsein den Mythos der „Vertreibung von Gusch Katif“ einzugießen – ein Mythos, zusammengesetzt als traumatisches Narrativ, das der israelischen Tradition folgt, politische und wirtschaftliche Interessen und Forderungen durch demagogische Selbstviktimisierung zu fördern.

Dies stimmt auch für Netanjahus virales Video. Wie die „Neuen Historiker“  gezeigt haben, wurde der bedeutendste Akt der ethnischen Säuberung in der israelisch-palästinensischen Geschichte von Israel  geplant und  von Israel gegen die Palästinenser während des sognennanten Unabhängigkeitskrieges (Israels)  ausgeführt, was als Nakba bekannt wurde. Doch die Realität der ethnischen Säuberung  gehört nicht der Vergangenheit: nach  den vorher  erwähnten  Definitionen, ist es möglich, zu behaupten, dass Israel die ethnische Säuberung in einigen Teilen der 1967 besetzten Gebiete, speziell in der Nähe der jüdischen Siedlungen durchzuführt. Netanjahus Argument, dass die Palästinenser wünschen,  die Juden ethnisch zu  säubern, war in Wirklichkeit gedacht, den Spieß umzudrehen und gleichzeitig die Siedlungen  schönzufärben.
Dies ist ein kalkuliertes und besonders  hässliches Manöver im Propagandakrieg, den Israel gegen die Palästinenser und die BDS-Bewegung führt. Doch dieses Manöver zielt nicht nur oder  sogar erst das internationale Publikum. In der Tat zielt Israels und besonders Netanjahus Propaganda   zu allererst die israelische Öffentlichkeit. Es ist Teil  der weit reichende  revisionistischen Bemühung der Rechten, die Palästinenser und die Israelische Linke im Inner-israelischen Diskurs zu delegitimieren, indem man sie als feindliche Kräfte positioniert, die auf die ethnische Säuberung  von „uns“-den Juden- versessen sind
Die Bemühungen, ein Narrativ zu basteln, die im  heutigen Israel stattfinden, und in der öffentlichen Sphäre  spürbar sind,  folgen dem klassischen orwellschen Spruch: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die  Vergangenheit“. Die zynische und instrumentale Neuschreibung der Vergangenheit als auch  die  extensive Benutzung von negativer Propaganda sind klare Kennzeichen von Faschismus.