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Der Antisemitismus ist tot


von Gideon Levy, Haaretz, 30. September 2016, deutsche Übersetzung von Abi Melzer.

Am 1. Oktober starb der Antisemitismus, oder zumindest die
Möglichkeit Israels, ihn als Ausrede zu benutzen. Am Vorabend des jüdischen
Neujahrfest hat die Welt bewiesen, dass der Antisemitismus nur noch das Erbe bestimmter
Kreise geblieben ist, begrenzte Kreise, aber man kann ihn nicht mehr den
meisten Regierungen der Welt anhaften. Auch der Hass auf Israel ist nicht mehr
wie das Geschrei – das Geschrei Israels.
 

 

Am 1. Oktober hat die Welt in den
deutlichsten und endgültigsten Art und Weise gesprochen: Wir lieben Israel und
hassen die Besatzung; lieben Israel und hassen seine Politik; lieben Israel zu
lieben, sehnen uns es zu umarmen und streben es zu verehren. Gibt uns nur ein
Zeichen, einen Hinweis, ein Wort. Zeigt uns, dass ihr Frieden wollt, dass ihr
irgendetwas tut in Richtung Ende der Besatzung – eine Rede, eine Verhandlung,
eine Konferenz. Ein Lippenbekenntnis. Irgendetwas – und wir werden euch
zuschütten mit unserer ganzen Liebe, sogar mehr als ihr verdient habt. Ihr
werdet nicht mehr Aussätzige sein. Ihr seid Aussätzige, nicht weil ihr Juden
seid und nicht weil ihr Israelis seid – glaubt nicht euren demagogischen
Führer, die euch das erzählen, um sich selbst und euch von der Verantwortung
und der Schuld zu entbinden – ihr seid Aussätzige, weil ihr brutale Besatzer
seid, ihr seid Aussätzige, weil ihr auf die ganze Welt und ihre Institutionen
pfeift, so wie kein Staat der Welt es zu tun wagt. Die ganze Welt ist gegen
uns? Blödsinn. Israel ist gegen die Welt. Es kommt nicht darauf an was Israel
tut? Im Gegenteil, nur das ist wichtig. Das Ende der Besatzung wird auch das
Ende unseres Aussatzes sein.
Es gibt keine andere Möglichkeit die unglaubliche
Offenbarung des Begräbnisses von Shimon Peres zu deuten. Ein Großteil der
Politiker, die gekommen sind, hat ihn nie im Leben getroffen, andere waren die
schärfsten Kritiker Israels. Die meisten wissen, dass seine tatsächliche Spende
für Frieden und Gerechtigkeit viel kleiner war, wie man es in den Reden
geschildert hat, und dass sicherlich nicht die Rede ist vom israelischen Nelson
Mandela. Dennoch sind sie gekommen, so wie zu Mandelas Begräbnis. Sie kamen dem
Toten die letzte Ehre zu erweisen. Aber auch um seinen Volksgenossen und Erben etwas
mitzuteilen. Barak Obama gab das Zeichen und die Welt folgte ihm: Sogar das,
was Peres geliefert hat – sehr begrenzte Schritte – reichte, um ihn zu
würdigen, ihn und euch. Es reichte, um sein Begräbnis zu einem globalen
Ereignis zu machen, um Könige und Fürsten in das aussätzige Land zu bemühen.
Es gibt kein aussätziges Land, dem die Welt so viel Ehre
erweist. Es gibt kein verhasstes Land, bei dem die Welt sich so hinstellt bei
dem Begräbnis eines seiner Politiker. Peres war kein Dissident, der gegen das
Regime kämpfte und dafür einen Preis zahlte. Er war das Regime. Und dennoch
ehrte ihn die Welt, weil die Welt sich so sehr sehnt Israel zu ehren – wegen
der Schuld der Vergangenheit und weil Israel ein Teil von ihr ist – des
entwickelten, aufgeklärten und weißen Westen. Deshalb ist die Welt so extrem in
ihrem Verhältnis zu Israel: es verehrt und verachtet es abwechselnd, manchmal
mehr als notwendig. Aber am 1. Oktober hat die Welt gezeigt was sie wirklich
will – Israel umarmen. Oslo, der Rückzug aus dem Gazastreifen und Peres
reichen, um Israel auf Händen zu tragen. Kein Antisemitismus, kein Hass –
Sehnsucht zu lieben. Aber Israel, das immer wieder die Hand beißt, die man ihm
reicht, zwingt die Welt es zu verachten, nach jedem Angriff auf Gaza oder dem
Bau einer neuen Siedlung.
Ein vernünftiger Staat hätte der Welt zugehört. Das ist
zuweilen so üblich in der Völkergemeinschaft, erst Recht wenn du keine
Weltmacht bist. Israel ist eines der verwöhntesten Staaten der Welt, der von
der Welt mehr Geld bekommt als jeder andere Staat und die Welt lässt es toben wie
es Lust hat. Aber Israel zieht es vor der Welt ins Gesicht zu spuken und danach
darüber jammern, dass man es hasst.
Auf dem Herzlberg zeigte die Welt wie leicht es wäre zu
einem Zustand zurückzukehren, wo jeder Israeli stolz wäre auf sein Land und
seine Staatsbürgerschaft nicht verstecken muss, aus Angst und Scham. Die
Stellung Israels hängt von Israel selbst ab. Wenn es will kann es geachtet
werden, wenn es will bleibt es aussätzig. Die Welt ist nicht antisemitisch, das
haben wir selbst erfunden.