General

Deutschlands globaler Horizont (II)

Von German Foreign Policy, 15. Juli 2016. Das neue Bundeswehr-Weißbuch fordert Maßnahmen zur Vorbereitung der deutschen Gesellschaft auf erwartete Gegenschläge gegen deutsche Auslandsinterventionen. Um “Deutschlands Handlungsfreiheit zu erhalten”, müssten “Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ihre Widerstands- und Resilienzfähigkeit erhöhen” – mit dem Ziel, nicht näher erläuterte etwaige “Schadensereignisse”, die auf die “Handlungen” Berlins folgten, “absorbieren zu können”, heißt es in dem Dokument. Das Weißbuch, das in seinem Hauptteil die strategische Grundorientierung der Bundesrepublik vornimmt, fordert zudem eine Straffung der strategischen Entscheidungsfindung und eine stärkere Einbeziehung ziviler Kräfte in die Realisierung der staatlichen Strategien. Auf EU-Ebene dringt es auf umfassende Maßnahmen zur Verflechtung der nationalen Streitkräfte der Mitgliedstaaten und zur Bündelung der nationalen Rüstungsindustrien; Deutschland allerdings müsse seine “Schlüsseltechnologien” im Wehrbereich behalten. Das oberste Strategiedokument der Bundesregierung sieht zudem die Auffrischung der deutschen Streitkräfte durch die Übernahme von Bürgern der EU-Verbündeten vor.
Die Europäische Kriegsunion
Zu den Forderungen, die sich aus dem neuen Weißbuch der Bundeswehr ergeben, gehört eine weitere Militarisierung der EU. “Als Fernziel strebt Deutschland eine gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion an”, heißt es in dem Papier. “Auf dem Weg zu dieser” setze man “auf die Nutzung aller durch den Lissaboner Vertrag eröffneten Möglichkeiten” zur intensiveren militärischen Kooperation; vor allem solle “das engmaschige und vielfältige bi- und multilaterale verteidigungs- und militärpolitische Beziehungsgeflecht der EU-Mitgliedstaaten untereinander” ausgebaut werden.[1] Als Beispiele für die erwünschte engere Zusammenarbeit der nationalen Streitkräfte innerhalb der EU führt das Weißbuch bestehende Formen der “Streitkräfteintegration” auf, etwa die Deutsch-Französische Brigade, “dauerhafte wechselseitige Truppenunterstellungen wie zum Beispiel zwischen Deutschland und den Niederlanden sowie zwischen Deutschland und Polen” [2] oder die “Bereitstellung multinationaler Kommandostrukturen” wie im Fall des Multinationalen Kommandos Operative Führung in Ulm [3]. Genannt wird auch die “Streitkräfteverflechtung” zum Beispiel in den EU Battle Groups und im Europäischen Lufttransportkommando (EATC) [4], aber auch innerhalb der NATO, etwa im Rahmen der NATO-“Speerspitze” [5]. Die “Interoperabilität der Streitkräfte in Europa” müsse erhöht werden, “um die Handlungsfähigkeit Europas weiter zu verbessern”, heißt es.[6]
Zivil-militärische Führung
Darüber hinaus verlangt das Weißbuch die “Europäisierung” der Rüstungsindustrie. Es gelte, “militärische Fähigkeiten gemeinsam zu planen, zu entwickeln, zu beschaffen und bereitzustellen”, heißt es; dazu sei “eine weitergehende Restrukturierung und Konsolidierung der Verteidigungsindustrien in Europa erforderlich”. Allerdings legt Berlin Wert darauf, dass “nationale Schlüsseltechnologien” in Deutschland verbleiben; es gehe darum, “die eigene technologische Souveränität … zu bewahren”, um so “die militärischen Fähigkeiten und die Versorgungssicherheit der Bundeswehr … technologisch und wirtschaftlich sicherzustellen”. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass andere EU-Staaten im Zuge der Zusammenführung der Rüstungsindustrien auf ihre “technologische Souveränität” zu verzichten haben. Schließlich dringt das Weißbuch darauf, auch auf EU-Ebene die Einbindung ziviler Organisationen und Institutionen in die militärischen Planungen voranzutreiben. Die “Integration ziviler und militärischer Fähigkeiten” müsse intensiviert werden, heißt es: “Zur Stärkung der Reaktions- und Einsatzfähigkeit der EU im zivilen und militärischen Bereich” strebe man “mittelfristig ein ständiges zivil-militärisches operatives Hauptquartier und damit eine zivil-militärische Planungs- und Führungsfähigkeit an”. Dies sei “in dieser Weise noch nicht in den EU-Mitgliedstaaten vorhanden”.
Europäer für Deutschland
Nicht zuletzt kündigt das Weißbuch an, Deutschland werde unmittelbar auf die Bürger der übrigen EU-Staaten zurückzugreifen, um den Personalbestand der Bundeswehr aufzustocken. Den deutschen Streitkräften gelingt es bislang nur höchst unzureichend, neue Rekruten zu gewinnen – und dies, nachdem erst kürzlich die feste Obergrenze für die Zahl der Bundeswehrangehörigen aufgehoben wurde, um, wie es im Weißbuch heißt, “den Personalkörper bedarfsgerecht anzupassen, wenn sich die sicherheitspolitische Lage und damit die Anforderungen an die Bundeswehr ändern”. Zur Nachwuchsgewinnung will sich Berlin in Zukunft also auch bei seinen engsten Verbündeten bedienen. Die “Öffnung der Bundeswehr für Bürgerinnen und Bürger der EU” biete “nicht nur ein weitreichendes Integrations- und Regenerationspotenzial für die personelle Robustheit der Bundeswehr”; sie sei darüber hinaus “ein starkes Signal für eine europäische Perspektive”, heißt es dazu im Weißbuch. Der deutsche Zugriff auf die Ressourcen anderer EU-Staaten weitet sich damit nun auch auf deren Bevölkerung aus. Nach Lage der Dinge käme vor allem das personelle Ausweiden der verarmten Regionen im Süden und im Osten der EU in Betracht. Ein ähnliches Vorgehen ist in Europa bislang aus Spanien bekannt: Die spanischen Streitkräfte werben Rekruten in Spaniens ehemaligen Kolonien an. Die Bundesregierung verallgemeinert das kolonial geprägte Verhältnis nun auf Deutschland und seine “Partner” in der EU.
Strategiefähigkeit
In Vorbereitung auf künftige Kriege nimmt das Weißbuch schließlich auch Deutschlands innere Formierung in den Blick. Erkennbar ist ein Mix aus einer Straffung der tatsächlichen Entscheidungswege bei gleichzeitiger Ausweitung des strategisch nutzbaren Umfelds. So soll der Bundessicherheitsrat, ein exklusives Gremium, dem die Kanzlerin, der Kanzleramtschef und die mächtigsten Minister angehören, aufgewertet werden. Er werde sich in Zukunft “kontinuierlicher mit strategischen Fragen” befassen, “um seine Rolle als strategischer Impulsgeber weiter zu stärken”, heißt es; damit werden entscheidende Fragen der deutschen Außenpolitik dem parlamentarischen Feld noch stärker als bisher entzogen und zur Domäne eines kleinen Zirkels in Berlin. Außerdem sollen die “Kompetenzen” der Regierung “in den Bereichen strategische Vorausschau, Steuerung und Evaluierung ausgebaut und miteinander verknüpft werden”, um die staatliche “Strategiefähigkeit” zu verbessern. Da einerseits Auslandsinterventionen häufig als Eingriffe zur Beilegung von Krisen legitimiert werden, andererseits aber Gegenschläge zu echten Krisen im Inland führen können, sieht das Weißbuch vor, dass “Prioritäten des Krisenmanagements … und gemeinsame Handlungsansätze für konkrete Krisenlagen in geeigneten … Gremien abgestimmt” werden. “Angesichts der Bandbreite möglicher Herausforderungen”, heißt es summarisch, sei “unser sicherheitspolitisches Instrumentarium … agil und flexibel auszugestalten”.
Im Schadensfall
Dies bezieht ausdrücklich nichtstaatliche Milieus ein. So heißt es im Weißbuch, “zur Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität” müsse die “Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren” intensiviert werden – etwa durch den “Aufbau eines Netzwerkes”, in das gesellschaftliche Kräfte unterschiedlichster Art integriert werden. “Im Schadensfall”, also wenn ein Gegenschlag gegen äußere Aggressionen des deutschen Staates erfolgt, müsse “gesellschaftlicher Selbstschutz und Selbsthilfe” staatliche “Bewältigungsmaßnahmen” ergänzen. Dabei gehe es nicht nur um materielle Schäden, sondern auch um die “öffentliche Meinung”, die “vielfach Versuchen externer Einflussnahme ausgesetzt” sei. Der gesellschaftliche Zusammenschluss gegen einen äußeren Gegner, der entschlossenes Vorgehen im Konflikt- und Kriegsfall erst ermöglicht, wird im Weißbuch mit dem modischen Schlagwort “Resilienz” bezeichnet. “Resilienz” strebe, so heißt es, den Ausbau der Widerstandsfähigkeit “von Staat und Gesellschaft gegenüber Störungen” an.
Deutschlands Handlungsfreiheit
Dabei werden in Berlin offenbar sogar schwerste “Schadensfälle” nicht ausgeschlossen: Explizit konstatiert das Weißbuch, Ziel der “Resilienzbildung” müsse es sein, “Schadensereignisse absorbieren zu können, ohne dass die Funktionsfähigkeit [!] von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig beeinträchtigt wird”. Über den Anlass der Konflikte, aus denen sich die “Schadensfälle” zu ergeben drohen, heißt es: “Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen ihre Widerstands- und Resilienzfähigkeit erhöhen, um Deutschlands Handlungsfreiheit zu erhalten”.