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Annalisa Maggiani: Tanztherapie und Inklusion


Annalisa Maggiani

von Milena Rampoldi, ProMosaik. Hier im
Folgenden mein Interview mit der italienischen Psychologin und Tanztherapeutin Annalisa
Maggiani, die in Berlin lebt und arbeitet und sich unter anderem in
Zusammenarbeit mit dem Projekt Artemisia von Amelia Massetti darum bemüht, die
Tanzbewegungstherapie als wertvolles Werkzeug zu Gunsten der Inklusion der
Menschen mit Behinderung einzusetzen, um sei es Jugendliche mit Behinderung als
auch „normal begabte“ gemeinsam wachsen zu lassen. ProMosaik zufolge sollten
Projekte wie die von Annalisa gefördert werden, um gegen jegliche Art von sozialem
Ausschluss und jeglicher gesellschaftlicher Diskriminierung gegen Menschen, die
als ANDERS angesehen werden, anzukämpfen.
Milena Rampoldi: Welche sind die
Hauptzielsetzungen, die man mit der Tanz-Bewegungstherapie für anders begabte
Menschen erreichen kann?
Annalisa
Maggiani: Die wichtigsten Zielsetzungen bestehen, wie ich bereits in der
Präsentation zur Einladung des Projektes „Kommunikation und Sprachen“ angemerkt
habe, in der Entwicklung der eigenen kommunikativen Fähigkeiten, der
Förderung des Körperbewusstseins, der Ausweitung des Ausdrucks-, kreativen und
Bewegungspotenzials, der Suche nach konstruktiven Lösungen im Gegensatz zur
stereotypischen und kristallisierten Gestaltung von Bewegungen und Rollen und
der Suche nach Würde und größerer gesellschaftlicher Akzeptanz.
Mit
Hilfe der Tanztherapie erhält der Begriff der „anders begabten“ eine neue
Valenz: die Fähigkeit jedes Einzelnen werden zusammen mit den Ressourcen deutlich
hörbar im Rahmen jeglicher „einzelner“ Fähigkeit. Denn sobald die Bewegungen
jedes Einzelnen von der Gruppe übernommen und wiederspiegelt werden, erhalten
sie ihren eigenen Sinn. Dann findet die Kommunikation statt, und einher kommt
das Gefühl in den Menschen auf, dass sie gehört, gesehen und verstanden werden. 
MR: Was bedeutet Inklusion für Sie?
AM:
Die Inklusion bedeutet Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die aus
verschiedenen Fähigkeiten, Rollen und Qualitäten besteht. Eine Gruppe, die aus
Studenten, Menschen mit Behinderung und unterstützenden Lehrkräften besteht,
schafft eine tiefe Grundlage für diese im Menschen verankerte Fähigkeit, die es
zu fördern und zu erhalten gilt.
Nach
dem Verständnis der Grammatik der Körpersprache kann man tiefgründig und direkt
kommunizieren. So wächst die Gruppe gemeinsam und die Inklusion ist kein Thema
mehr, sondern wir zu einem natürlichen Produkt.
MR: Welche sind die besten
Verbindungsformen zwischen Psychologie, Tanz und Bewegung?
AM:
Man geht davon aus, dass der Körper ein Gedächtnis hat: alle Erfahrungen,
Emotionen und körperlichen Erinnerungen werden im körperlichen Gedächtnis
gespeichert.
In
der Tanz-Bewegungstherapie werden durch die Bewegung und den Tanz
psychologische Prozesse und neue Sozialisierungsformen aktiviert, die
ihrerseits vom Körper gespeichert werden (Embodiment). Zahlreiche Formen
leiten diesen Prozess ein.   
Durch
die Tänze des Vertrauens, die körperliche Sensibilisierung, die körperliche
Wahrnehmung, die mit der Bewegung verbundene Vorstellungskraft, den visuellen,
kinästhetischen und taktilen Kontakt, erlebt man sich selbst und die Welt der
Kommunikation.   
Denken
wir beispielsweise an einen Ball, den wir in den Kreis werfen und der sich auf
Tausende Arten und Weisen verändern kann, indem alle Teilnehmer in Kontakt
zueinander treten; oder an einen Hauch, indem wir in Paaren den Dialog durch
die körperliche Wahrnehmung anspornen oder  an eine Umarmung als Begrüßung, aber auch als
Bewegung der Begegnung, Öffnung und des Verschließens, des Ein- und Ausatmens,
des Treffens auf den Anderen und auf das eigene Selbst.
Auf
diese Weise werden neue körperliche Erfahrungen gespeichert, die unser Körper
dann auf unsere Psyche überträgt.  
Dieser
Embodiment-Prozess gilt als wertvoller Prozess, den alle Menschen gemeinsam
haben und der wertvoll für das Wachstum und die Veränderung ist. 
MR: Was können die „normalen“ Menschen
von den Menschen mit Behinderung lernen?
AM: Durch diese Erfahrung verkürzen sich
in den Begegnungen der Gestik und der Bewegung die „Entfernungen“ unter den
Schülern. Durch die Kreativität entsteht eine neue gemeinsame Sprachform, die
alle umfasst. Und aus jedem Unterschied wird ein Mehrwert. Ich habe das Glück
gehabt, diesen Prozess persönlich zu erleben. In mir finden sich zahlreiche
Momente, die wie kleine Schätze sind, beispielsweise beim Treffen nach der
Veranstaltung, in der man eine Bewegung tätigen sollte, um den eigenen
geistigen Zustand mitzuteilen. Die „normalen“ Jugendlichen schämten sich und
konnten keine Bewegungen finden. Ein Mädchen auf dem Rollstuhl hingegen, die
sich schwer tat, auch nur einen Arm zu bewegen, erhob, als sie an der Reihe
war, langsam den Arm in einer intensiven Bewegung, schloss die Faust und erhob
sie nach oben und öffnete sich wie eine Blume, während sie lächelte. Zu dem
Zeitpunkt haben die Jugendlichen sich bei Luisa bedankt und ihr gesagt, dass
ihre Bewegung auch die ihre war und diese auch ihren geistigen Zustand der „inneren
Stärke“ ausdrückte. Es war ein rührender und starker Augenblick, fast ein
Symbol der Inklusion: man spürt, dass es eine Kommunikation zwischen Unterschieden
gibt und dass jeder einen verschiedenen und bereichernden Beitrag für die
Anderen leisten kann.
MR: Was können wir vom Ihrem in Pisa
umgesetzten Projekt lernen?
AM:
Man lernt zu spüren, dass man zwischen Unterschieden kommunizieren kann und
dass jeder einen verschiedenen und bereichernden Beitrag für die Anderen
leisten kann:
Dies
lernt man im Rahmen dieses Projektes, das als Beispiel dienen kann, um die
Inklusion in der Schule einzuführen.
Wenn
man die Jugendlichen in den Bereich der Kreativität führt, kommt die
Besonderheit jedes Einzelnen ans Tageslicht. Denn jeder leistet seinen eigenen
und besonderen Beitrag. Und man fühlt zutiefst, wie viele unbekannte
Fähigkeiten die sogenannten „normal Begabten“ erfahren können.
Es
bedeutet, den „normalen“ Jugendlichen die Möglichkeit geben, die Emotionen auch
mit Hilfe der Menschen mit Behinderung auszudrücken, die oft in direktem
Kontakt mit den Emotionen sind und daher von diesen überrumpelt werden. Diese
wiederum begegnen den Emotionen, indem sie sie mit der Gestik modulieren, sie
mitteilen und auf Gehör stoßen.
Für
die LehrerInnen ist dieses Projekt ein Moment der „Ruhe“, ein Moment, in dem
sie sich bewegen, spielen und auch Antworten auf ihre Zweifel finden.
In
diesem Projekt haben sich die TeilnehmerInnen unterschiedlich dazu ausgedrückt:
für die Jugendlichen war der Moment wichtig, in dem man die Emotionen benannte.
Für die Jugendlichen mit Behinderung war hingegen auch der befreiende Moment
der Veranstaltung wichtig. Für die LehrerInnen kam es darauf an, die
Kommunikation in einer geschützten und urteilsfreien Umgebung, in der man sich
anlehnen kann, umzusetzen.
Für
die LehrerInnen war es ein Augenblick, in dem sie sich von ihrer Rolle befreit
haben. In dieser Tätigkeit konnten sie ihre eigene Flexibilität auf die Probe
stellen, ein wichtiges Werkzeug zur Vorbeugung des Burn-Outs!
Wie
bereits hervorgehoben, hat die Erfahrung der körperlichen Kommunikation die
Studenten in die Lage versetzt, neue Erfahrungen zu machen und die neue Sprache
der Menschen mit Behinderung aufzunehmen.
Die
Einheit zwischen Gestik und Gefühlen, Improvisation und Phantasie, Kontakt und
Beziehung hat zur Überwindung der anfänglichen Ablehnung einer als zu „sonderbar“
angesehenen Erfahrung geführt.  
Was
eine Studentin beim letzten Treffen die Gruppe gefragt hat, steht symbolisch
für das, was wir aus diesem Verlauf lernen können: den Tanz des Vertrauens.
Einen
Partner in einen Raum zu führen, der einem vertraut und sich tragen lässt. 
MR: Wie kann man Tanz und Bewegung in die
Psychotherapie im Allgemeinen integrieren und einen multidisziplinären Ansatz
fördern, um auch Menschen mit psychischem Leiden zu heilen?
AM:
Ich habe 15 Jahre lang in einem Zentrum für psychische Rehabilitation in Pisa
gearbeitet und festgestellt, wie sehr Tanz, Bewegung und Kunst die Behandlung
psychischer Störungen unterstützen können.
Die
Tanz-Bewegungstherapie eignet sich besonders im Bereich der psychiatrischen
Rehabilitation und in der Behandlung des psychischen Leidens. Sie fokussiert im
Besonderen auf:
         
Den Wiederaufbau der Körperwahrnehmung,
         
Die eigenen Grenzen, die Grenzen des eigenen Ichs, das
Selbstwertgefühl, den eigenen Raum. Dadurch erhält das Individuum einen
wertvollen Anreiz, um den Sozialisierungsprozess voranzutreiben;
         
Die Formgebung für interne konfuse, fragmentierte und aufgegebene
Inhalte, um auf diese Weise den Prozess des Wiederaufbaus des Ichs zu
unterstützen.
Die
Bedeutung der Bewegung gestaltet sich für jeden Patienten einzigartig. Der
Therapeut geht nicht von Auslegungs- oder Urteilsstandpunkten aus, sondern kann
den Raum für das semantische Bewusstsein schaffen.
In
der Tanz-Bewegungstherapie wird die Beziehung zwischen Bewegung, Emotion und
Ich als ein Mittel angesehen, wodurch ein Individuum sich zu einem
Integrationsprozess verpflichten kann.
Die
Beziehung zwischen Bewegung und Emotion wurde von den Menschen immer schon
berücksichtigt: man denke an die Tänze der Schamanen, an die Trancetänze und an
unsere „Tarantolati“: die evokatorische Macht des Tanzens kann uns direkt mit
unserem Innenleben in Verbindung bringen, wie z.B. mit unseren Wünschen,
Träumen und Ängsten.
Die
Tanz-Bewegungstherapie geht somit vom menschlichen Vermögen aus, indem sie versucht,
den „gesunden Teil“ des Individuums zu entwickelt. Denn die Körperlichkeit
umfasst zahlreiche psychologische Aspekte: Empfindungen, Wahrnehmungen, Affekte
und soziale Beziehungen.
Der
Ansatz ist somit holistisch, weil er Körper, Emotionen, Verstand und
Vorstellungsvermögen gemeinsam nutzt und somit auf dem Prinzip basiert, nach
dem Körper und Seele in einer dauernden Wechselbeziehung stehen.
Auf
der Grundlage dieser theoretischen Grundlagen hat die Tanz-Bewegungstherapie
einen langen Weg im Bereich der praktisch-theoretischen Forschung durchlaufen.
Es werden verschiedene körperliche, Bewegungs- und Tanztechniken eingesetzt, um
einen Bewusstseinsbildungsprozess zu fördern, indem man die psychischen
Prozesse mit den Emotionen, die sich in den körperlichen Abgründen befinden,
und den in der Außenwelt erlebten Erfahrungen in Einklang bringt.
  
Theoretische
Bezüge:
Claire
Schmais, M. Chace, Trudi Schoop, Peggy Hakney, Laban-Bartenieff, M. Mahler,
Patrizia Pallaro
Die Fotos sind von Giancarlo
Marcocchi  Progetto- Performance Mertamorphosis, Palermo