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Geschlechterverhältnisse – historisch betrachtet

Dr.in Annemarie Schweighofer-Brauer

Dr.in Annemarie Schweighofer-Brauer

Dr.in Annemarie Schweighofer-Brauer, gewaltinfo.at, 2016.

Polarisierung und Hierarchisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit

Männlichkeit – Weiblichkeit bilden in der abendländischen Denktradition eine wesentliche Polarität, eine Grundschablone des Welt- und Selbstverständnisses. Die Polarität von männlich und weiblich ist anderen Polaritäten wie Kultur – Natur, Denken – Fühlen, Geist/Ewigkeit – Materie/Veränderlichkeit bzw. Vergänglichkeit eingeprägt; in der nicht fernen Vergangenheit auch solchen wie Arier – Jude, Europäer – Wilde, Gesunde – Degenerierte usw. Der jeweils dominierende Pol wurde/wird gängigerweise mit „Männlichkeit”, der andere Pol mit „Weiblichkeit” assoziiert. Diese „Polarisierung” definiert allerdings keine zwei gleichwertigen Pole, die einander gegenüberliegen, sondern ein Verhältnis von Über- und Unterordnung, der Auf- und Abwertung, der Macht und Ohnmacht, der Verfügungsgewalt und Verfügbarkeit.
In einem Artikel zur Polarisierung der Geschlechtscharaktere von 1976 beschreibt die Historikerin Karin Hausen (Hausen 1976) die „Erfindung” der polarisierten Geschlechtscharaktere im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts: die Frau gehört zur privaten Reproduktion, der Mann zur gesellschaftlichen Produktion; Weiblichkeit ist charakterisiert durch Passivität und Emotionalität, Männlichkeit durch Aktivität und Rationalität – weiße, bürgerliche und adelige Männlichkeit, sei hier hinzugefügt.
Seit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert erfolgte eine Biologisierung der Geschlechterunterschiede. Zuvor wurden Mannsein und Frausein anhand ihrer sozialen Positionen und verbunden mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Stand bestimmt. An die Stelle der Standesdefinitionen traten nun Charakterdefinitionen, die dem gesamten weiblichen wie männlichen Geschlecht zugeschrieben wurden (Hausen 1976, S. 84/85).
Wolfgang Schmale verdeutlicht in seinem Buch zur „Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000)” den Zusammenhang gesellschaftlich-ökonomischer Transformationsprozesse mit Männlichkeitsmodellen, die in der europäischen Neuzeit in die Konstruktion hegemonialer Modelle für Männlichkeit und Weiblichkeit in der Aufklärung münden. „Erst mit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert setzten sich relativ einheitliche anthropologische Definitionen von Mensch, Frau und Mann durch, mit deren Dekonstruktion die Gegenwart nach wie vor befasst ist.” (Schmale 2003, S. 19)
Die Neuformulierung von Männlichkeit und Weiblichkeit geht Hand in Hand mit der Formierung bürgerlicher, kapitalistischer, nationalstaatlicher Gesellschaften. In ihren Grundzügen entwickeln diese Geschlechternormen eine große Beharrungskraft bis heute.
Pierre Bourdieu (Bourdieu 2005) griff zur Beschreibung, dessen, was quasi mit den konkreten Menschen in diesem Kontext geschieht, den Begriff des „Habitus” auf. Habitus umfasst Lebensstil, Sprache, Kleidung, Geschmack, Auftreten einer Person. Durch diese drückt sich ihr Platz, ihr Status in der Gesellschaft aus. Der Habitus erscheint den Menschen als natürlich, da er zutiefst unbewusst ist. Besonders tief verinnerlicht wird der geschlechtsspezifische Habitus.
Bourdieu geht davon aus, dass im Geschlechterverhältnis ein Herrschaftsverhältnis in biologische Natur eingeprägt wird. Der geschlechtliche Habitus wird weniger gezielt pädagogisch erzeugt, als vielmehr automatisch, indem die Menschen in der geschlechtlich geschichteten und markierten Welt aufwachsen und sich sozialisieren. Sie wissen in der Folge nicht mehr, dass ihre Verhaltensweisen mit Herrschaftsverhältnissen zusammenhängen und nicht mit angeborenen Eigenschaften.
Thomas Laqueur (Laqueur 1990 bzw. 1992) untersuchte, wie Frau und Mann nun anatomisch als zwei grundlegend unterschiedliche Wesen konstruiert wurden. Die Anatomen der frühen Neuzeit sahen während des Sezierens nur einen menschlichen Typus mit unterschiedlichen Ausprägungen: den weiblichen Körper interpretierten sie als einen minderwertigen männlichen (z.B. die Gebärmutter als nach innen gestülpten Penis).
Seit dem 18. Jahrhundert begannen die Anatomen geschlechtlich grundlegend unterschiedliche Organe zu entdecken. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war diese „Entdeckungsreise” weitgehend vollzogen, waren geschlechtliche Unterschiede in biologischer Terminologie festgezurrt.
Die Biologie und die moderne Medizin selbst konstituierten sich als Wissenschaften unter anderem durch die Erforschung solcher Unterschiede. Gleichzeitig und damit verschränkt konstruierten Biologen, Mediziner, Anatomen Unterschiede zwischen Menschen”rassen”, zwischen Degenerierten und Gesunden, zwischen Oberschicht- und Unterschichtmenschen etc. Die biologisierten Polarisierungen rechtfertigten unterschiedliche gesellschaftliche Aufgaben-, Macht- und Ressourcenzuweisungen oder anders gesagt Herrschafts-, Ausbeutungs-, Gewaltverhältnisse.

Erzieherische Herstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit

Parallel zur philosophischen und biologischen Erfindung der polarisierten Geschlechtertypen entwickelten Philosophen und Pädagogen dementsprechende geschlechtsspezifische und den gesellschaftlichen Schichten angepasste Erziehungsansätze. In Deutschland wurden Erziehungsanstalten für männliche bürgerliche und adelige, für Führungspositionen vorgesehene Kinder gegründet. Wolfgang Dressen untersuchte dies in seinem bereits 1982 erschiedenen Buch„Die pädagogische Maschine: zur Geschichte d. industrialisierten Bewusstseins in Preussen/Deutschland” (Dressen 1982).
Die Jungen übten sich hier in kapitalistische Nützlichkeit, dazu passendes Herrschen, Führen und sich Unterordnen, sich Einfügen in Hierarchien ein. Sie machten sich mit den Prinzipien der neuen Ökonomie vertraut.
Eine Reihe von Lehrern und Pädagogen gründete entsprechende Anstalten – sogenannte Philanthropien. Einer von ihnen, Christian Gotthilf Salzmann (Gründer der philanthropischen Anstalt von Schnepfenthal, nahe Gotha in Sachsen 1784) wollte sich bemühen „(…) die Begierde ein Eigentum zu erwerben, zu erregen.” (zitiert nach Dressen 1982, S. 156) „Über die Arbeit zum Erwerb von Eigentum, durch die ‚mühsamsten und anhaltendsten Unternehmungen’ werden ‚alle Kräfte des Menschen in Thätigkeit’ versetzt.” (ebd. S. 156) Geschenke waren verboten, „das Gefühl des Mangels muss die erste Triebfeder sein.” (ebd. S. 156)
Die Mehrzahl der Zöglinge seiner philanthropischen Anstalt betätigte sich später im Berufsleben als Kaufleute, Fabrikbesitzer, Beamte und auch Minister.
In derselben Anstalt entwickelte der Sportpionier Johann Christoph Friedrich GutsMuths als Lehrer eine erste Sportpädagogik zur Körperregulierung, die den einzelnen nützlicher machen sollte.
„GutsMuths betrachtete die Gymnastik als das richtige Mittel, um den männlichen Körper für das richtige Mannwerden adäquat einzusetzen. Zielsetzungen der Gymnastik waren Gesundheit, Abhärtung, männlicher Sinn und Mut und anderes.” (Schmale 2003, S. 178)
Ein Hauptinstrument der Erzieher, um wünschenswerte Resultate zu erzielen, war die permanente Beobachtung der Zöglinge durch die Pädagogen. Beobachtungstechniken wurden ebenfalls in Gefängnissen, Fabriken und Erziehungsanstalten konzeptionell verankert und eingesetzt.
Die Knabenerziehung erlebte eine Militarisierung und beinhaltete Wehrhaftigkeit als wesentliches Element anerzogener Disziplin. Gewalt, Zwang, Willensbrechung, absolute Kontrolle konstituieren diese Erziehung und erzeugen Psychotypen, die in ihrer Herrschaftsausübung wiederum entsprechende Mittel einzusetzen trainiert sind.
Die Mädchenerziehung zielte darauf, ordentliche, sittsame und – in den unteren gesellschaftlichen Schichten – arbeitsame Frauen hervorzubringen; Frauen, die – je nach Gesellschaftsschicht – in der Lage sein sollten, Haushalte zu führen, Gesellschaften zu organisieren, gepflegten Unterhaltungen gewinnbringend beizuwohnen, v.a. kleinere Kinder zu betreuen, pflegen, erziehen, als Dienstbot_innen in verschiedensten Bereichen tätig zu sein, Vätern, Müttern, Brüdern, Ehemännern, Dienstgeber_innen, Pfarrern zu gehorchen, die Hände unablässig zu beschäftigen, fromm zu sein und zu beten, ihren Ehemännern sexuell möglichst widerspruchslos zur Verfügung zu stehen, Kinder zur Welt zu bringen, sich zu fügen, die in der rauen Welt stehenden Männer zu Hause zu hegen und zu pflegen und auf wilde, gewaltbereite Männer ausgleichend und zivilisierend zu wirken. Seit dem 19. Jahrhundert wurden eigene Gebetbücher für Mädchen herausgegeben, die geschlechtsspezifische Tugenden propagierten, wie die österreichische Historikerin Edith Saurer analysierte (Saurer 1990). Eine wesentliche Erziehungstechnik im Kontext der Mädchenerziehung stellte deren permanente Beschäftigung durch Arbeit (nach Feierabend auch noch Handarbeit) und Gebet dar.
Die im Verlauf des 19. Jahrhunderts von den europäischen Staaten zunehmend durchgesetzte Schulpflicht trug maßgeblich dazu bei, Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, Mädchen und Jungen, dem Disziplinierungsregime einzugliedern, die Selbstdisziplinierung einzuüben.
Pädagogik gehört in den Kontext der Neuformierung der bürgerlichen Geschlechterverhältnisse und der bürgerlichen Kleinfamilie. Pädagogik war ein wichtiges „Instrument”, um seit der Aufklärung ein bürgerliches Geschlechterkonzept in verkörperte „Realität” zu transformieren.
Die grundlegende Konnotierung der Materie als weiblich und die damit begründete Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts als solchem war für konkrete, reale Frauen folgenreich. Sie wurde in Gesetzen verankert, die zum Teil bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts galten (z.B. dass Ehemänner über den Besitz ihrer Frauen verfügen konnten, dass sie bestimmen konnten, was ihre Frauen arbeiteten).
Zunächst von Philosophen formuliert, die Themen aufgriffen, die „in der Luft lagen”, erfolgte im Verlauf des 19. und dann 20. Jahrhunderts eine Umsetzung der in der Aufklärung formulierten Geschlechterverhältnisse über Gesetzgebungen, Sozialpolitik, Einstellungspolitik, Lohngestaltung etc., über Literatur, Malerei, Fotografie, Film, mediale Verbreitung aller Art, über wissenschaftliche Erforschung und „Beweisführung”, über Erziehung, Sozialisation und soziale Kontrolle.

Bewältigung von Todesangst

Die Kulturwissenschaftlerin und Medizinhistorikerin Anna Bergmann nahm die als „kleine Eiszeit” bezeichnete Klimaveränderung ab dem 13. Jahrhundert und das damit verbundene „große Sterben” zum Ausgangspunkt der Entwicklung spezifischer Beherrschungs- und Gewaltformen in der europäischen Neuzeit, die sie mit der kulturellen Bewältigung von Todesangst verbunden sieht (Bergmann 2004, S. 20, Neuauflage 2015).
Während im Frühmittelalter günstige klimatische Verhältnisse die menschliche Existenzsicherung begünstigten, belegen Klimatolog_innen und historische Quellen ab dem Hochmittelalter Klimaschwankungen, die bis ins 17. Jahrhundert andauerten – ein Sinken der Durchschnittstemperaturen, feuchte Sommer, kalte Winter. Naturkatastrophen waren die Folge – Überflutungen, Dürren mit Hungersnöten, Kälteperioden, Heuschreckenplagen etc. In der Zeit der Renaissance, zu Beginn eines Verwissenschaftlichungsprozesses, ging es darum, Möglichkeiten zu finden, um die Natur zu beeinflussen und zu verändern mit dem Ziel eine „(…) von Gott unabhängige Sicherheit durch menschliches Handeln zu gewinnen.” (ebd. S. 100). Der Natur sollten ihre Geheimnisse abgejagt werden; wie Francis Bacon postulierte, sogar mit dem Mittel der Folter; so wie in der Hexenfolter experimentelle Methoden als Mittel der Beweisfindung einführt wurden (ebd. S. 106).
Der Mensch/Mann stellte sich der Natur gegenüber, die er beherrschen wollte, um sie zu verbessern und ihre bedrohliche Veränderlichkeit und Vergänglichkeit zu kontrollieren. Naturbeherrschung, Naturverbesserung und Naturüberwindung galten seither als verbreitete Leitmotive westlicher Wissenschaft, Sozial- und Kolonialpolitik, wirtschaftlicher Bestrebungen usw.
Das Projekt, die traditionell weiblich konnotierte Natur (damals allerdings noch nicht als ohnmächtige, sondern mächtige Mutter Natur) zu beherrschen, wurde nun an Frauen ausgeführt und an denjenigen, denen diese Art von (passiver, willenloser, emotionaler, veränderlicher, konturloser, chaotischer, materieller …) Weiblichkeit in unterschiedlicher Intensität zugeschrieben wurden (nicht_Weiße, Juden, Bauern/Bäuerinnen, Arbeiter_innen, Menschen mit körperlichen, geistigen, psychischen Krankheiten oder Behinderungen, Menschen, die Straftaten begingen, homosexuelle Menschen, transsexuelle und intersexuelle Menschen, Kinder, die Natur überhaupt mit Tieren und Pflanzen, „Rohstoffen”, …).
Die tiefe und wiederholte Traumatisierung von Generationen von Menschen in Europa hätte demnach eine psychisch-körperliche Grundlage für das polarisierend-hierarchisierende, spaltende Denken und Fühlen geschaffen. Dieses hätte sich aus der Hoffnung oder dem Glauben gespeist, es wäre möglich, das (abgespaltene) Irdische, Leibliche, Veränderliche, Sterbliche, das nicht Perfekte zu überwinden, zu verbessern, zu reparieren.
In dieser Logik repräsentierte das Weibliche das Vergängliche, zu Überwindende; das Männliche hingegen das Höherstehende, Geistige, der Perfektion zustrebende – das Herrschaftsfähige, das sich berechtigte, auch gewaltsame Methoden einzusetzen, um die „hehren Ziele” zu erreichen.

Dr.in Annemarie Schweighofer-Brauer, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für gesellschaftswissenschaftliche Forschung, Bildung und Information (FBI), Erwachsenenbildnerin, TZI Diplom, psychologische Beraterin in Ausbildung

LITERATUR

  • [1] Bergmann, Anna: Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod Berlin: Aufbau Verlag (aktualisierte Ausgabe 2015 im Franz Steiner Verlag), 2004 
  • [2] Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005 
  • [3] Dressen, Wolfgang : Die pädagogische Maschine: zur Geschichte des industrialisierten Bewusstseins in Preussen/Deutschland Frankfurt a.M.: Ullstein, 1982 
  • [4] Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtercharaktere” – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben In: Conze, Werner, Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, S. 367-393, Stuttgart: Klett, 1976 
  • [5] Laqueur, Thomas: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud Harvard: Harvard University Press, 1990 
  • [6] Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Eine Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud Frankfurt a.M.-New York: Campus, 1992 
  • [7] Saurer, Edith: „Bewahrerinnen der Zucht und der Sittlichkeit”. Gebetbücher für Frauen – Frauen in Gebetbüchern L´Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft (Nr. 1/1990, S. 37–58), 1990 
  • [8] Schmale:, Wolfgang: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000) Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 2003