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Hannah Wettig: FGM macht die Gesellschaft als ganze krank

Hannah Wettig

von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V.- Ein aufschlusreiches Interview mit Hannah Wettig, Projektleiterin bei Stop FGM Middle East. Ich möchte mich herzlichst bei Frau Wettig für Ihre Zeit und ihre ausführlichen Antworten auf unsere Fragen bedanken. Es ist wichtig hervorzuheben, wie FGM ein schwerer Verstoß gegen die Kinder- und Frauenrechte ist und dass FGM uns alle als Gesellschaft weltweit betrifft. Wir müssen aufdecken, wie FGM gerechtfertigt und sogar mit Religion gedeckt wird. Aber FGM bleibt eine brutale Tradition, die Frauen ihr Leben kaputtmacht. Wir müssen auch das Tabu brechen und darüber sprechen. Es braucht eine FGM-freie Welt.  


Milena Rampoldi: Warum ist der Kampf
gegen FGM so wesentlich für die gesamten Regionen, in denen diese brutale
Tradition noch nicht abgeschafft ist?
Hannah Wettig: Erstmal ist die Praxis
noch fast nirgendwo wirklich abgeschafft. Es gibt zwar laut der letzten
Unicef-Statistik in vielen Ländern Afrikas einen starken Rückgang in der
Altersgruppe der 0-14-Jährigen. Aber wirklich verlässlich sind diese Zahlen
noch nicht. Ein Problem der Datenerhebung ist, dass in den meisten dieser Länder,
weibliche Genitalverstümmelung inzwischen strafbar ist. Es werden aber für
diese Erhebungen die Eltern befragt. Erschwerend kommt hinzu, dass die
Regierung diese großangelegten Studien durchführen lässt. Man muss damit
rechnen, dass strafbare Handlungen nicht zugegeben werden.   
Wesentlich ist die
Abschaffung nicht nur, weil es sich um Kindesmisshandlung  und eine grobe Menschenrechtsverletzung
handelt, sondern auch wegen der Folgen für die Gesellschaft als ganze. Zum
einen geht FGM mit erheblichen gesundheitlichen Risiken einher. In Afrika wo
Typ III, also die komplette Amputation der sichtbaren Klitoris und der äußeren
Schamlippen, praktiziert wird, führt die Operation nicht selten zum Tod des
Kindes. Mütter leiden schreckliche Schmerzen bei der Geburt, einige sterben auch
infolge von FGM bei der Geburt. Aber auch in der Region wo wir tätig sind: Im
Irak und im Iran hat der etwas mildere Typ II erhebliche Folgen wie
Inkontinenz, häufige Infektionen und Einschränkung der Sexualität.
Wo Sexualbeziehungen aber
unbefriedigt sind, entstehen Aggressionen und Neurosen. Das hat uns Wilhelm
Reich gelehrt – ohne dabei FGM im Kopf zu haben. Einer unserer Partner, Osman
Mahmoudi, hat das im Iran untersucht: Er hat nicht nur Frauen zu ihrem
sexuellen und psychischen Wohlbefinden gefragt, sondern auch ihre Ehemänner. Er
konnte zeigen, dass Ehemänner von Frauen, die FGM erlitten haben, nicht nur ein
deutlich schlechteres Sexualleben haben und selber unter Störungen wie Impotenz
leiden, sondern dass sie auch psychisch leiden, z.B. häufiger Depressionen
haben als Männer von Frauen, die nicht beschnitten sind. Für die Frauen mit FGM
gilt das natürlich auch, aber darüber gab es schon Studien zuvor. Osman
Mahmoudi zeigt erstmals, dass FGM Frauen und Männer krank macht. 

MR: Wie wichtig ist die
Information zum Thema in Europa und warum?
HW: Zum einen sind Migrantinnen,
die aus Ländern kommen, in denen FGM praktiziert wird, Bürgerinnen unserer
Gesellschaft, die wir schützen müssen. Und gerade gegenüber Kindern tragen wir
eine Schutzverantwortung. Das Problem in Europa muss aber auch deshalb
konsequent angegangen werden, weil es mittlerweile Rückschläge durch
Remigration aus Europa oder Heiratsnachzug gibt. Konkret: In Irakisch-Kurdistan
konnten wir die Praxis stark zurückdrängen. Kaum jemand unterstützt die Praxis
noch öffentlich, junge Männer oder ihre Mütter verlangen nicht mehr, dass die
Braut FGM unterzogen wurde. Jetzt suchen aber irakisch-kurdische Männer, die in
Europa leben nach einer Frau in ihrer Heimat und verlangen, dass sie
beschnitten ist. Dann sagen sich die Mütter von Mädchen: Es ist zwar nicht so,
dass meine Tochter gar nicht heiraten kann, aber sie macht nicht so eine gute
Partie, wenn sie nicht beschnitten ist.
Von Organisationen, die
in Afrika tätig sind, habe ich ähnliche Geschichten gehört. Eine Kollegin
erzählte mir sogar von einem Dorf, wo Verwandte, die in Großbritannien lebten,
eine Schule bauen wollten, nur unter der Bedingung, dass die Mädchen wieder
verstümmelt werden.

MR: Was bedeutet FGM für
Sie persönlich, als Frau und als Menschenrechtlerin?
HW: Ich habe mich seit 20
Jahren mit der Nahostregion beschäftigt und viele Jahre dort gelebt. Darum ist
es mir ein Anliegen, die Verhältnisse dort, die immer wieder zu Krisen und
Kriegen führen, zu ändern und Menschen zu unterstützen, die versuchen ihre
miserablen Lebensumstände zu ändern. Damit meine ich nicht so sehr die
ökonomischen Bedingungen, sondern vielmehr die Unterdrückung, Enge und totale
Kontrolle des Individuums. Frauen leider unter drei-, vier und fünffacher
Unterdrückung – und FGM ist ein entscheidender Teil davon. Aber nicht der
einzige Punkt. FGM ist aber ein Thema, über das man sehr viele Probleme in der
Gesellschaft thematisieren kann: Sexualität, Liebe, Respekt in der Familie, das
Recht auf den eigenen Körper.

MR: Welche sind die
Hauptziele von Stop FGM Mideast?
HW: Das langfristige Ziel ist
die Abschaffung von FGM in Asien.
Aber als wir mit unserer
Kampagne begonnen haben, ging es erstmal darum überhaupt bekannt zu machen,
dass es FGM außerhalb Afrikas gibt. Das hat zu dem Zeitpunkt kaum jemand
gewusst oder die Informationen wurden ignoriert. Wir haben also erstmal alles
gesammelt, was wir finden konnten, und das publik gemacht: Auf unserer Website archiviert,
Journalisten angesprochen, Unicef regelmäßig informiert.
Oft fanden wir nur
einzelne Beiträge von Bloggern, die FGM in ihrem Land beshrieben. Im Oman haben
wir drei Leute ausfindig gemacht, die darüber geschrieben hatten. Studien gab
es nicht. Also sind wir dorthin gefahren, haben mit Leuten geredet. Dann haben
wir Unicef Bescheid gesagt, was wir gefunden haben: Nämlich dass uns Frauen mit
größter Selbstverständlichkeit erzählt haben, dass dort alle beschnitten sind,
dass uns auch eine Beschneiderin erzählt hat, was sie tut. Jetzt hat Unicef
Oman auf der Liste der Länder, wo FGM praktiziert wird und wird dort eine
Erhebung durchführen lassen.
Wir haben Infos zu
anderen Golfländern gesammelt, zum Iran und zu Pakistan – und dann haben wir
gemerkt, dass wir uns falsch benannt hatten. Wir hätten uns Stop FGM in Asia
nennen sollen. Denn wir fanden Informationen über FGM auch in Indien, Sri
Lanka, auf den Malediven, in Malaysia, Brunei, Thailand, Singapore, Indonesien,
auf den Philippinen – und erst vor wenigen Monaten auch in Kambodscha und der
russischen Republik Dagestan. Insofern läuft unsere Suche nach Informationen
noch.
Allerdings haben wir
inzwischen erreicht, dass in allen interessierten Kreisen, niemand mehr FGM als
ein rein afrikanisches Problem bezeichnet. Wir haben regionale Treffen mit
vielen AktivistInnen veranstaltet und heute werden diese AktivistInnen auch auf
internationale Konferenzen zu FGM eingeladen. Das ist ein erster großer
Schritt.
Unsere weiteren Schritte
hängen von den Ideen und Aktivitäten unsere PartnerInnen ab. Wir sind
überzeugt, dass Veränderung lokal entstehen muss, damit sie wirksam ist. Wir
arbeiten mit vielen tollen Frauen und Männern im Oman, Irak, Iran, Sinagapore,
Malaysia, Indien und Indonesien zusammen, die sehr gute Projektideen haben, um
FGM etwas entgegenzusetzen. Meist fehlt es nur am Geld.

MR: Welche sind die
Haupthindernisse vor Ort, um FGM ein Ende zu setzen?
HW: Erstmal muss man das Tabu
brechen. Meist wird anfangs die Existenz schlicht abgestritten – von
Politikern, aber auch von offiziellen Frauenorganisationen. Daher braucht man
Belege. Wir haben einen Leitfaden für simple Umfragen entwickelt, damit
Aktivistinnen vor Ort kleine Befragungen durchführen können und so diesen Beleg
liefern können.
In allen Ländern Asiens
sind außerdem religiöse Autoritäten ein entscheidender Faktor. Mit Ausnahme
Kambodschas wird FGM überall in Asien – nicht unbedingt in Afrika! – als
islamische Praxis oder sogar als religiöse Pflicht gesehen. Wo Geistliche diese
Sicht unterstützen, gibt es praktisch keine Chance FGM abzuschaffen. Aber fast
überall gibt es auch einige, die herausstellen, dass FGM unislamisch ist. Die
religiösen Schriften, also hier nicht der Koran – der erwähnt weibliche Beschneidung
nicht – sondern die Hadithen, sind nicht eindeutig. Aber es gibt auch sehr gute
Gründe aus islamsicher Sicht, FGM als verboten zu sehen.
Später in Kampagnen
müssen Geistliche keine große Rolle spielen – und sollten es auch nicht,
schließlich geht es um Menschenrechte, nicht um Religion. Aber als anfangs zu
überwindendes Hindernis ist es essentiell mit ihnen zusammenzuarbeiten.

MR: Welche sind die
positiven Anzeichen vor Ort, dass sich endlich was ändern wird?
HW: Nach der jüngsten
Unicef-Umfrage lehnen im Nordirak 80% aller Befragten FGM ab. Als wir 2006 mit
unserer Kampagne begonnen haben, waren 78% der Mädchen verstümmelt, in den
Gebieten wo FGM praktiziert wurde. Wo es nicht praktiziert wurde, in der Region
Dohuk, gab es aber auch keine „Ablehnung“, sondern Unkenntnis, dass es
überhaupt irgendwo in Kurdistan gemacht wird. Wir erreichen praktisch die
gesamte Bevölkerung mit unseren Fernsehclips und in vielen Dörfern wo wir vor
10 Jahren angefangen haben, wird FGM gar nicht mehr praktiziert. Seit es ein
Verbot gibt, können wir zudem auch die Geistlichen angehen, die bisher FGM
propagiert haben.

Videos zum Thema:
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