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Nackte Gewalt und Scheinheiligkeit machen jungen homosexuellen Männern in Tunesien das Leben zur Hölle

Tlaxcala, 01.03.2016.




Rim Ben Fraj ريم بن فرج 
Übersetzt von  Milena Rampoldi میلنا رامپلدی

Ich bin alt genug, um mir ein Bild von der Repression Andersdenkender in der Ben Ali-Diktatur und nachher zu machen. Bis jetzt hielt ich mich auch für gut informiert. Aber was ich gerade entdeckt habe, übersteigt meine Vorstellungskapazität. Die Realität, in der die jungen homosexuellen Männer leben müssen, ist schlicht und einfach entsetzlich.

Während die jungen Andersdenkenden, die der Repression ausgesetzt werden, auf die Unterstützung der Zivilgesellschaft, ihrer Familien und ihrer Umgebung zählen können, sind dieMibun oder Karyuka (zwei der unzähligen abwertenden Bezeichnungen für „Schwulen“ im tunesischen Dialekt) vollkommen auf sich selbst gestellt und müssen sich auch fast allein verteidigen*.
Erstens laufen sie die Gefahr schwerer Gefängnisstrafen wegen „Sodomie“ gemäß dem tunesischen Strafgesetzbuch. Der unheilvolle Artikel 230, einer der kürzesten des tunesischen Strafgesetzbuches, schreibt Folgendes vor: „Die Sodomie (zwischen einwilligenden Erwachsenen) wird mit einer Haftstrafe von 3 Jahren bestraft.“
Da es schwierig ist, die „Verbrecher“ auf frischer Tat zu ertappen, muss der Tatbestand der Anklage bewiesen werden. Die Lösung nennt sich „Analtest“. Es handelt sich hierbei um eine weltweit verurteilte, grausame und absurde Form der Folter, die in der Tat nicht mehr Beweise erbringt als die berühmten Jungfräulichkeitstests für Frauen. Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesens machen sich zu Komplizen dieses schweren Verstoßes gegen die Menschenrechte. Die jungen Männer, die dieser Behandlung unterzogen werden, beginnen so einen langen Kreuzweg, den man nur noch mit den mittelalterlichen Feuerproben in Europa vergleichen kann.
Nach den ersten polizeilichen Brutalitäten bei der Festnahme und Verhaftung, geht die Hölle im Knast weiter, wo sie von Seiten der Gefängniswärter und der Mithäftlingen allen möglichen Misshandlungen unterzogen werden. Aber das ist nur der Anfang: nach der „Freilassung“ werden die jungen Männer von ihren Familien zurückgewiesen – und fallen dann in die Hände von Zuhältern, die sie ausbeuten – oder eingeschlossen und schwer misshandelt. Es kommt auch nicht selten vor, dass die Familien auf die Dienste von Scharlatanen zurückgreifen, die mit Hilfe des Korans als Zauberwerkzeug Exorzismen ausführen, um den „Teufel“ aus ihrem Körper zu vertreiben.
Es ist somit nicht überraschend, dass sich mindestens ein junger Homosexueller pro Woche in Tunesien das Leben nimmt, wenn man dem Verein Shams (Sonne) Glauben schenkt. Dieser ist einer der seltenen Vereine, die kürzlich gegründet wurden, um die Rechte der Homosexuellen zu verteidigen. Man hat schon versucht, ihn zu verbieten, nachdem er am 10. Dezember, dem Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, eine Veranstaltung abhalten wollte, die von Seiten des Innenministeriums nicht genehmigt wurde.
Am selben Tag vom 10. Dezember hatte das Gericht in Kairouan 6 junge Männer zwischen 19 und 22 Jahren zu 3 Jahren Haft und darauffolgende 5 Jahre Verbannung aus der Stadt Kairouan in Anwendung des Artikels 22 des tunesischen Strafgesetzbuches verurteilt. Das Gesetz geht auf das Jahr 1913 während der französischen Kolonialzeit zurück und wurde selten angewendet. In den 1960ern und 1970ern wurde es gegen Frauen verwendet, dir wegen Prostitution verurteilt wurden. Die Rechtsanwältin Fadoua Braham hat Berufung gegen diese Verurteilung eingelegt. Die jungen Männer wurde am 7. Januar 2016 gegen Kautionen von 500 Dinar [= 250 Euro] freigelassen. Das Berufungsgericht hat die Berufung  am 25. Februar geprüft und soll am 3. März sein Urteil erlassen.



„Der Artikel 230: wie lange noch?“: 50 tunesische Persönlichkeiten haben am 10. Dezember 2015 eine Kampagne für die Abschaffung dieses Artikels ins Leben gerufen

Der Kairouan- Fall

Die sechs jungen Männer wurden bei einer Razzia infolge einer Anzeige, im Rahmen derer sie vorab des Terrorismus verdächtigt wurden, festgenommen. Einer der jungen Männer hatte das Haus seiner Eltern verlassen und einen Abschiedsbrief hinterlassen. Alle dachten, er wäre in den Kampf nach Syrien gezogen. Die Entdeckung von Videos auf einem Laptop, der während der Festnahme beschlagnahmt wurde, führt dann die Polizisten auf eine andere „Spur“, die eines „männlichen Prostitutionsnetzwerkes“, dessen angeblicher Anführer ein Student des zweiten Jahres sein sollte, mit Studenten des ersten Jahres. Da es kein Vergehen in flagranti gibt, lassen die Polizisten von einem Dienstchefarzt Analtests durchführen. Die jungen Männer unterzeichnen mehrfach Dokumente, aus denen hervorgeht, dass sie sich ausdrücklich weigern, sich diesen Tests zu unterziehen. Die Polizisten knüppeln sie nieder. Der mitwissende Arzt wohnt der Szene bei und fordert sie schließlich auf, sich zu verneigen, „als würden sie beten“, um vor den Polizisten in ihren Intimbereich einzudringen. Einige von ihnen werden in eine kollektive Zelle der Polizei für Frauen gesperrt. Von dem  Gerücht ihrer Verhaftung vorausgegangen, werden  die jungen Männer dann im Gefängnis in einer Zelle eingesperrt, in der sich mehr als 150 Häftlinge befinden. Hier wird ihnen alles weggenommen, was ihnen ihre Familie gegeben hatte. Sie werden gezwungen auf dem kahlen Boden zu schlafen. Jeden Tag holen sie die Gefängniswärter gegen Mittag ab und „spielen“ zwei Stunden mit ihnen und erniedrigen sie auf alle Arten und Weisen, die man sich nur vorstellen kann.
D. ist einer von ihnen. Er ist 22 und im zweiten Jahr für den Magister in Arabisch. Er ist Dichter. Mit 13 hat er seine sexuelle Identität entdeckt. „Ich fühlte mich schon immer von der männlichen Schönheit angezogen. Meine erste Liebe war ein Junge, das hat mich von meiner Homosexualität überzeugt.“ Er ist ein sehr sensibler Junge. Er wohnte in einem Vorort von Tunis. Dort wurde er von seinen Mitschülern im Gymnasium erpresst, die ihn bedrohten, sein „Geheimnis“ zu lüften. Mit 17 versuchte er sich umzubringen. Da haben seine Eltern entschieden, ihn in ein anderes Gymnasium zu schicken. Nach seinem Abitur hat er sich an der Universität Kairouan eingeschrieben. Hier hat er sich in die Stadt verliebt und perfekt integriert. Nach seiner Freilassung hat er sein Studium an der Universität wieder aufgenommen und hat sich an die Universität begeben, um die Teilprüfungen abzulegen. Dort wurde er von einer tobenden Horde von Studenten aufgenommen, die ihn lynchen wollten. Seine Rettung verdankte er nur den Freunden, die ihn geschützt haben. Auch wenn das Berufungsgericht ihn am 3. März freispricht – seine Anwältin ist optimistisch,  sie hofft, dass die Verfahrensfehler, die sie gerügt hat, berücksichtigt werden. -, wird die Feindseligkeit ihm gegenüber bestehen. D. sagte mir aber: „Ich hoffe, dass es morgen besser wird“.
Anmerkung
*Unter den politischen Parteien hat nur eine, die Al-Massar (eine Mittelinkspartei), öffentlich Stellung zur Abschaffung des Artikels 230 genommen. Der Jurist Mohamed Saleh Ben Aïssa wurde im Oktober 2015 seines Amtes als Justizminister enthoben, weil er sich zu Gunsten dieser Abschaffung geäußert hatte. Die Menschenrechtsorganisationen haben sich bis auf Human Rights Watch als äußerst zurückhaltend erwiesen.

 
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