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Tunesien: „Wir haben unsere Illusionen verloren, unsere Träume sind realistisch“
Ein Gespräch mit Rim Ben Fraj

von Milena Rampoldi, ProMosaik
e.V.  
Rim Ben Fraj, 31 Jahre, ist Tunesierin, Bloggerin,
Übersetzerin,

Verlegerin, diplomierte Prekarierin, Mitglied des
Übersetzernetzwerkes Tlaxcala. Sie arbeitet als Freelance Journalistin.

Milena Rampoldi: Welche sind die Hauptprobleme der
neuen Generation in Tunesien?
Rim Ben Fraj: Die wirtschaftliche, soziale und somit
auch die politische und kulturelle Marginalisierung.  
Die Jugend der Revolution hat keine Vertretung, weder
im Parlament noch in der Regierung. Es gibt mindestens 250.000
diplomierte Erwerbslosen.
In bestimmten Regionen erreicht die Arbeitslosigkeit
die 80%.
Die einzig mögliche Alternative – die illegale
Migration – wird von der elektronischen Absperrung durch Frontex im Mittelmeer
unterbunden.  
Der einzige Ausweg für die Jugendlichen, die sich
nicht vom Islamischen Staat rekrutieren lassen wollen, ist die Revolte.  
Aber auch wenn sie eine Revolte organisieren, der
Staat ist nicht in der Lage, ihren Forderungen nachzukommen, denn eine der Bedingungen
der Darlehen der Weltbank ist Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst.  
Außerdem ist das Niveau vieler erwerbsloser Akademiker
ziemlich niedrig, wegen der Politik von Ben Ali, den Übergang vom Gymnasium zur
Universität zu erleichtern, um die tunesischen Statistiken bezüglich des
menschlichen Entwicklungsindex zu verbessern. Die schrittweise Privatisierung
der Erziehung und die verbreitete Korruption verschlimmern noch die Situation.
Es gibt zwei Sektoren, die vor allem von dieser Lage
profitieren: einerseits die multinationalen Konzerne aus Europa und zweitens
die westlichen, vor allem deutschen und US-amerikanischen, Stiftungen.  
Die ersten finden qualifizierte, günstige
Arbeitskräfte, um in Fabriken in der Nähe des europäischen Marktes zu arbeiten,
während die zweite tunesische Agenten rekrutieren, um ihre Einflussprogramme (im
Namen der Menschenrechte, der aktiven Staatsbürgerschaft, der Emanzipation der
Frau, der Medien der Bürger, usw.) umzusetzen.
Wenn Sie 25 Jahre alt sind, ein Abitur  +3 haben und eine Arbeit suchen, haben sie nur
die folgenden Optionen: Sie können 6 Tage pro Woche für 300 Euro pro Monat in
einem Callcenter arbeiten oder für eine subventionierte Vereinigung, ohne
Vertrag und Sozialabgaben, für 400-500 Euro pro Monat arbeiten. Der Islamische
Staat zahlt ungefähr dieselben Löhne. Unsere Parlamentarier haben aber gerade
eine Erhöhung ihrer Löhne bestimmt und werden in Zukunft 2 000 Euro monatlich
verdienen.
Die marginalisierte Jugend wird dauernd von der
Polizei belästigt. Denn die Polizeipraktiken der Ära Ben Ali sind immer noch
dieselben: Gewalt, willkürliche Verhaftungen, Folter und Misshandlungen, in
einem Wort HOGRA (Verachtung der
Benachteiligten).
Ein erstes Beispiel: ein Junge aus Kasserine, Gafsa o Jendouba
(Städte im tiefen Landinneren Tunesiens) spaziert auf der Avenue Bourguiba im
Zentrum von Tunis. Er wird von der Polizei angehalten. Sobald die Polizisten
seine Identitätskarte sehen und merken, dass er nicht aus der Hauptstadt kommt,
wird er im besten Falle beleidigt. Es wird ihm gesagt, er solle „nach Hause“
zurückgehen. Aber oft verbringt er eine Nacht in einer Polizeizelle. Wie mein
Vater sagt, „Man braucht praktisch ein Visum, um sich in diesem Land
fortzubewegen“.
Ein zweites Beispiel: eine 30jährige Frau fährt gegen
Mitternacht, entweder alleine oder in Begleitung, mit dem Taxi nach Hause. Die
Bullen halten sie an und fragen: „Warum bist du um diese Zeit noch nicht zu
Hause?“ und mobben sie. Wenn sie aus einer Bar kommt, tun sie so, als wären sie
von der Sitte. Und so beginnt dann das Verhör: „Wissen deine Eltern, dass du
Alkohol trinkst? Wer ist der Junge mit dir? Gehst du mit ihm nach Hause? Gib
mir die Nummer dieses Vaters, damit ich ihm erzählen kann, dass du besoffen
bist. Weißt du, dass wir dich wegen Prostitution drankriegen könnten?“. Einer
von ihnen tut so, als würde er schreiben, um das Opfer einzuschüchtern. Wenn
die Frau einen 20-Dinar-Schein dabei hat, gibt sie diesen den Bullen, um sie
loszuwerden. Wenn sie kein Geld dabei hat, muss sie eine Stunde lang betteln,
damit sie sie gehen lassen.
Eine
Demo am 21. Januar 2016 in Kasserine

MR: Was wäre eine wahre Revolution für Tunesien? Wie
können wir dieses Land verändern?  
RBF: Das ist die 100.000-Euro- Frage!
Bevor sie auf die Straße strömt, findet die Revolution
in den Köpfen der Menschen statt. Sie geht durch die Befreiung des Körpers. Es
handelt sich um eine langwierige Arbeit. Die Schule hat uns alle zu
„Fachidioten“, verschuldeten Verbrauchern und zersplitterten Individuen formatiert.
Die Gesellschaft schließt uns in Käfige ein.
Das Projekt von Bourguiba – „ich werde diese Staubwolke
von Individuen in eine moderne Nation verwandeln“ – ist fehlgeschlagen. Und ein
intelligentes Volk findet sich nun in einer Lage wieder, in der es von hohlköpfigen
Bastarden unterdrückt wird.
Jedes Mal, wenn dieses Volk sich aufgelehnt hat, wurde
es von Oben zerschmettert und von seinen angeblichen Vertretern verraten. Wir
müssen einen Widerspruch lösen: in uns leben ein freiheitlicher Geist und ein
starker Konservatismus zusammen. Wir müssen uns erziehen, umerziehen, immer und
immer noch.
MR: Welche sind die besten Strategien, um die Stimmen
der Unterdrückten im Lande hörbar zu machen?
RBF: Die Entwicklung horizontaler
Genossenschaftsprojekte, die wirtschaftliche Alternativen schaffen, um die
Menschen in die Lage zu versetzen, in Autonomie zu leben. Die breite
Kommunikation über die erfolgreichen Projekte und über die notwendigen
Werkzeuge, um erfolgreich zu sein.
Viele junge Bürgerjournalisten der neuen Generation
erscheinen besorgter um ihre materielle Existenz zu sein als um die Verbreitung
von Informationen an die, die sie wirklich brauchen.
Es sollen autonome und alternative Medien in
„tunesischer Sprache“ geschaffen werden, da die Mehrheit der tunesischen
Bevölkerung der französischen und englischen Sprache nicht mächtig ist. Wir
dürfen uns aber nicht in Facebook einsperren lassen, sondern zu direkten
Kommunikationsformen zurückgehen.  
MR: Wie kann man den eigenen Kampf mit dem Kampf für
den islamischen Egalitarismus verbinden?
RBF: Der Großteil der Parteien, von der Türkei bis
Marokko, über Tunesien, die sich islamisch nennen, sind in Wirklichkeit nur
heterogene Zusammenschlüsse, die von einer Geschäftsbourgeoisie angeführt sind,
welche die bürokratischen und polizeilichen Bourgeoisien  an der Macht ersetzen will. Ihre Bezugnahmen
auf den Islam sind nur Masken ihrer wahren Klasseninteressen. Der Islam, der
hingegen natürlich vom Volk gelebt wird, ist schon eher egalitär und ohne
ideologisches Geschwätze. Er gehört zu den natürlichen Reflexen, von denen man
nicht sprechen braucht, damit sie wirken.
MR: Wie können wir den marxistischen Kampf für die
soziale Gerechtigkeit mit dem islamischen Kampf für die soziale Gerechtigkeit
verbinden?
RBF: Die Ideologien haben schon genug Menschen das
Leben gekostet. Der Kampf für die soziale Gerechtigkeit darf nicht vor
künstlichen Grenzen Halt machen. Er muss ausgehend von den gemeinsamen
Bedürfnissen aller Frauen und Männer geführt werden, und die Allmendegüter verteidigen.
MR: Welche sind die drei Stärken der tunesischen
Jugend, die dir die Kraft geben, weiterhin für Gerechtigkeit, Solidarität,
Freiheit und Arbeit zu kämpfen?
RBF: Der
Optimismus trotz allem, der Verlust der Illusionen, die durch realistische
Träume ersetzt werden und „Sumud“ (Durchhaltevermögen).

MR: Ich
bedanke mich für
das Gespräch