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Jungfrauen, Heilige und Huren




Imane Rachidi إيمان رشيدي



Übersetzt von 
Milena Rampoldi میلنا رامپلدی



Das
Jungfernhäutchen! Achte auf das Jungfernhäutchen! Das ist deine Würde!
Es ist das Einzige, was dich wertvoll macht! Er kann sich ein neues
Leben aufbauen, aber du bist ohne Jungfernhäutchen nichts wert! Denn das
Jungfernhäutchen ist deine Ehre!


Das Thema klingt wohl ein wenig ausgelutscht, oder?
Gut: denken Sie mal an ein Leben, in dem man immer darauf aufmerksam
gemacht wird. Stellen Sie sich vor, Sie würden „Ohne dein
Jungfernhäutchen bist du ein Niemand“ hören anstatt zu hören: „Bemüh
dich, damit du es in diesem Leben zu etwas bringst“. Sowohl die einen
als auch die anderen versuchen den Frauen, die in ihrer Gesellschaft
schon ausreichend entwürdigt sind, noch mehr Angst einzujagen, dass sie
in ihrer Religion den halben Wert eines Mannes haben und für ihre
Familien nicht mehr Wert haben als den, den man zu ihren Lasten mit den
Eltern des Bräutigams aushandelt, der sich gegen eine sehr erträgliche
Mitgift um sie „kümmert“.


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Marokkanische Frauen fordern  Gleichberechtigung in Rabat. Foto AFP




Gerade darin besteht der „Reisepass“ einer Frau, um weiterhin als
Person mit allen gesetzlichen Rechten in der Gesellschaft anerkannt zu
werden. Gut, die Sache mit dem Gesetz ist für die Frauen relativ. Es ist
besser, dieses Thema zu vergessen, um nicht in Schwierigkeiten zu
geraten.

Hat man schon versucht, Ihnen eine Moral zu verkaufen? Es gibt Leute,
die sich im Recht sehen, sich an Sie wenden, um Ihnen zu sagen, dass
Sie, falls Sie mit jemandem schlafen, dann nicht mehr am Leben bleiben
werden? Wie surrealistisch und ignorant dies auch für manche klingen
mag: Das Phänomen gibt es im 21. Jahrhundert immer noch. Es erinnert an
die Remiendavirgos (Jungfernflickerinnen), von denen Fernando de Rojas in La Celestina
schreibt. Diese sturen Damen „rekonstruierten“ in der scheinheiligen
Gesellschaft des 15. Jahrhunderts die Jungfräulichkeit zahlreicher
Mädchen, die ungeeignet für die Ehe waren.




Wissen Sie, worum es sich dabei handelt? Ich erzähle Ihnen zumindest die
Art und Weise, in der man sie in diesen Gesellschaften sieht, in denen
es immer noch als haram gilt, das Jungfernhäutchen zu zerreißen.
Das Jungfernhäutchen ist eine winzige und extrem dünne Membran, die
einige Frauen von Geburt an gar nicht haben und die als eine Art Tür
zwischen der Außenwelt und dem Innenbereich der Vagina darstellt …
Dieser unerforschte Ort kann auf jeden Fall einzig und allein durch ein
männliches Geschlechtsorgan erkundet werden. Das Jungfernhäutchen ist
mehr als Gold wert.




In gesellschaftlicher, religiöser und moralischer Hinsicht muss diese
Tür verschlossen bleiben, bis sie den Schlüssel findet, der dann immer
verwendet werden kann. Dieser glückliche Mann, der diese Tür, ob nun
sanft oder nicht, zum ersten Mal öffnen wird, wird seine Frau zu einer
wahren Frau machen. Vor diesem Augenblick ist sie keine. Und diese Tür
ist so wertvoll, dass sie mehr wert ist als die Frau selbst als Person,
als Mensch, als Frau. Bist du eine außerordentliche, polyvalente Person?
Hast du in Harvard studiert? Hast du liebenswürdige Eigenschaften?
Vielleicht. Es ist aber nicht so, weil du für den einmaligen Gebrauch
bist und dich schon einmal hingegeben hast.

Sorry … Den Behälter bitte. Kann ich den für die wiederverwertbaren
Abfälle verwenden? Kann es sein, dass ein anderer diese Frau verwenden möchte, die schon mal verwendet wurde: ironisch, nicht? Gut, das stimmt, das kann ich Ihnen versichern. Es ist so wahr, wie ich es Ihnen erzähle.



Kommen wir nun zum Thema zurück. Viele Frauen (ich möchte sie aber nicht
alle in denselben Topf werfen und sie Musliminnen, Araberinnen o.ä.
nennen, denn das war schon im christlich-katholischen Spanien der Fall)
heißt glücklicherweise nicht alle Frauen.

Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass dies mit Sicherheit
Tausenden von Frauen passiert ist. Viele Frauen hatten das Pech, seit
ihrer Geburt, die Warnungen ihrer Mütter gegen diese perversen Männer zu
hören, die nur darauf aus sind, sie ihres besten Stückes zu berauben,
und zwar des Jungfernhäutchens.



Lassen Sie uns mal über Marokko oder Ägypten sprechen. Denn diese sind
die Fälle, die mir am nächsten liegen und die ich am meisten erforscht
habe. Ich weiß, dass viele meiner Leserinnen der Meinung sind, dass sie
ihr Jungfernhäutchen schützen wollen, weil sie es so wollen. Und diese
verdienen meinen gesamten Respekt und meine ganze Verehrung. Die Anderen
hingegen, die aus Angst handeln und sich ihr Leben lang Warnungen über
die Bedeutung ihrer Jungfräulichkeit anhören mussten, sind aus Angst vor
den Konsequenzen heilig, bis ihr wahrer Ritter kommt.




Die dritte Kategorie von Frauen, die Gebrauchten, sind Huren, die leiden werden, weil sie einen Fehler begangen haben oder frei waren.




Kennen Sie denn die Konsequenzen in einem Land wie Marokko für eine
Frau, die sich entscheidet, über ihren eigenen Körper und ihre eigene
Vagina selbst zu bestimmen? Die erste Schwierigkeit, mit der sie zu
kämpfen hat, betrifft die Zurückweisung durch die Familie. Die Frau wird
von ihrer Familie verachtet. Sie wird in einem Land, das von der
patriarchalen Kultur bestimmt wird und in dem das Familienleben der
wichtigste Pfeiler ist, eines der wertvollsten Aspekte ihres Lebens
beraubt.

Zweitens wird sie, um nicht verlassen zu werden, nach einer Zuflucht,
nach einem Mann suchen, der sie heiratet, ohne darauf zu achten, ob sie
Jungfrau ist oder nicht. Sie kann diesen Mann finden oder auch nicht.
Wenn sie Glück hat, kann es sein, dass er es akzeptiert, dass sie vor
ihm von einem anderen entjungfert wurde. Aber falls dies nicht der Fall
sein sollte, steht ihr immer noch die Option offen, ihre Scham
durch eine Hymenalrekonstruktion (Operation zwecks Wiederaufbaus des
Jungfernhäutchens) zu verdecken, aus Angst, von ihrem zukünftigen
Ehemann verlassen zu werden.



Ein Sonderfall ist dann der, in dem die Frau das Pech hat, nach dem
Geschlechtsverkehr mit einem Mann vor der Ehe schwanger zu werden. Viele
egoistische Machos werfen die Mädchen nach der Nutzung einfach
weg. Dazu kommt die fehlende Sexualerziehung. Und am Ende ist es das
Opfer, das die Konsequenzen trägt. Die Frau kann den Mann zwar wegen
Vergewaltigung verklagen, damit er sie, um dem Gefängnis zu entkommen,
heiratet. Dies erlaubt ihm, gut aus der Sache rauszukommen und
unterwirft sie einem elenden Leben, nur um das Ziel zu erreichen, ihre
Familienehre zu wahren.




Er kann aber auch abhauen, um keine Verantwortung zu übernehmen. Und der
nächste Schritt? Die Familie weist sie mit Verachtung zurück, und dann
ist sie auf der Straße. Was tun? Soll sie das Kind einfach vor einer Tür
aussetzen, hinter der sie glaubt, Menschen zu finden, die sich gut um
das Baby kümmern können (dies erklärt die hohe Anzahl überfüllter
Waisenheime in Marokko) oder sich dazu entscheiden, das Kind alleine
großzuziehen und mit irgendeinem Job über die Runden zu bringen?




Die ledige Mutter eines Kindes eines unbekannten Vaters zu sein ist in einer Gesellschaft, in der das höchste Gebot der Chschuma (Was für eine Schande!,
im marokkanischen Dialekt) gilt, nicht gerade einfach. Niemand wird sie
einstellen. Die Prostitution ist ein mehr oder weniger einfaches
Mittel, um aus der Sache rauszukommen. Hier fragt dich keiner nach einer
Erklärung, wenn du bereit bist, mit notgeilen Männern aus dem Golf zu
schlafen, die gut zahlen und sich nicht für deine Lebensgeschichte
interessieren.




Diese letzte Option, eine der „einfachsten“ Lösungen, verurteilt die
Frauen zu einem Leben in Demütigung, als Huren und als Pestkranke in den
Augen ihrer Familie. Und die Kinder? Sie werden nichts anderes als
Bastarde sein, „Kinder einer unehelichen, verbotenen Beziehung (Haram)“, auf die die gesamte Umgebung mit dem Finger zeigen wird und die überall abgewiesen werden.




Kommt das nicht ein wenig übertrieben rüber? Wie ein Echo aus einer
anderen Welt? Na ja, das ist ein Fall, der sich vor meinen Augen und vor
den Augen vieler Menschen jeden Tag abspielt. Einige sehen das Ganze
kritisch, andere hingegen nach dem Motto „Das ist unsere Kultur“. Diese
Geschichten kommen in Marokko, Spanien, Ägypten, in den Niederlanden und
auch in Frankreich vor. Diese Frauen werden von einer Tradition
verfolgt, die sie nicht selbst gewählt haben und aus der es seltene
Möglichkeiten des Entkommens gibt.




Hat jemand diese Frauen gefragt, was sie selbst wollen? Weiß denn
jemand, dass sie nichts anderes möchten, als ihre Sexualität zu leben,
wie sie sie verstehen: mit drei Männern, mit einem einzigen Mann oder
mit keinem? Glaubt ihr Mütter und Schwestern wirklich immer noch, dass
das erste Mal super und wundervoll ist und dass es „für immer“ sein
muss? Hat euch denn niemand gesagt, dass die Frauen als Menschen
wertvoll sind, als Menschen ihren Respekt verdient haben und die Ehre
eine subjektive Angelegenheit ist, die jeder auf seine Weise sieht?



Arte de mujeres musulmanas
Fatimahände, von Laila Shawa, einer palästinensischen Künstlerin mit Sitz in London.