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Tadschikistan zwischen Islam, autoritärem Säkularismus und wirtschaftlich-sozialer Schieflage: ProMosaik im Gespräch mit Dr. Tim Epkenhans

von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Ein sehr aufschlussreiches Interview mit Dr. Tim Epkenhans, Iranist und Tadschikistanexperte an der Universität Freiburg. Ich habe mich mit ihm über den Islam, die Geschichte, die muslimischen Gemeinden und die sozialen und wirtschaftlichen Probleme und das Scheitern der Demokratie in Tadschikistan unterhalten. Ich möchte mich nochmal herzlichst bei Dr. Epkenhans für seine Zeit bedanken. Und auch für die Fotos aus Tadschikistan. Mit diesem Interview möchte ich zeigen, wie verschiedenartig und diversifiziert die Muslime in den verschiedenen Nationen, Kulturen und Zivilisationen ihre Religion leben. 

Milena Rampoldi: ProMosaik e.V. ist überzeugt, dass
die muslimische Welt sehr viele interessante kulturelle, sprachliche,
zivilisatorische Unterschiede aufweist. Wie würden Sie den Islam kulturell in
Tadschikistan beschreiben?
Tim Epkenhans: Im Rahmen der Sowjetunion war Tadschikistan
sehr wenig eigenständig. Aber der Islam hat in der tadschikischen Bevölkerung
seine Bedeutung. Die Menschen sind sich in Tadschikistan weitgehend dessen
bewusst, dass sie sie zum zentralasiatischen Islam gehören, dass sie Teil der
hanafitischen Schule sind. Auf der kulturellen Ebene ist die Dichtung in
Tadschikistan von der religiösen Komponente durchdrungen. Sprachlich gesehen
greift sie sehr stark auf persische und türkische Elemente zurück. Die Menschen
sind Teil einer kulturellen Tradition. Im Alltag hingegen geht es weniger um
islamische Kultur, sondern eher um Fragen rund um die moralisch-ethische
Beratung, um die Vorschriften und um die Regulierung des alltäglichen Lebens.
Man fragt sich einfach, wie man im Islam leben soll. Es kann hierbei auch um
grundsätzliche Themen wie dem Gebet, der Almosensteuer und der
Geschlechterbeziehung gehen. Regulierung nach den islamischen Vorschriften
spielt in diesem Sinne in der tadschikischen Bevölkerung eine wichtige Rolle.
Aber politisch gesehen ist Tadschikistan kein freies, sondern ein von einer
dominanten Elite autoritär regiertes Land.
Als Tadschikistan noch Teil der Sowjetunion war, gehörte es
zu einer Supermacht im Rahmen der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges. Aus
dieser Vergangenheit schöpfen viele Tadschiken noch ihre Identität. Aber auf
weltpolitisch-globaler Ebene hat sich in den letzten Jahren sehr viel
verändert.
Geographisch und somit auch geopolitisch betrachtet besitzt
Tadschikistan eine sehr lange Grenze zu Afghanistan. Durch die Nähe zu
Afghanistan ist den Menschen in Tadschikistan bewusst geworden, dass sie
weltpolitisch etwas mit der „Befriedung“ Afghanistans zu tun haben. Daher haben
die Tadschiken auch Ressourcen aus der EU und aus den USA erhalten.
Eine weitere lange Grenze des Landes verläuft zu China.
China ist der wirtschaftlich wichtigste Akteur in Tadschikistan. Daher sehen
sich die Tadschiken weitgehend als global vernetzt. Sie sehen, dass sie nicht
zentral sind, aber dass die irgendwie zum Ganzen dazugehören.
Ein großes Problem in Tadschikistan ist die Zensur der
sozialen Netzwerke, die teilweise auch nicht erreichbar sind.
Der Islam ist für die Tadschiken eine Option in einem
System, in dem die Rechtsstaatlichkeit weitgehen fehlt. Der Islam hilft ihnen,
um ihr alltägliches Leben und ihre moralischen Werte zu leben und zu regeln.
Die islamische Moral widersetzt sich auch in einem Land, in dem die Korruption
allgegenwärtig ist, dieser ungerechten Verteilung des Eigentums. Das islamische
Gebot der Zakah unterstützt die Armen.
Die Situation der Frauen ist aber in Tadschikistan aus
verschiedenen Gründen katastrophal. Die tadschikischen Geschlechterbeziehungen
haben sich im Lande verschoben. Tadschikistan ist ein patriarchalisches Land.
Es gibt keine Kinderehen. Das Heiratsalter ist wegen der wirtschaftlichen Lage
eher höher. Die Regierung ist säkular. Aber viele Menschen tragen ihre Kinder
nicht beim Standesamt ein. Es gibt auch viele islamische Ehen (nikah), die
nicht registriert werden. Somit kann die Frau nichts einklagen und hat somit
keine Rechte, weil der Staat das islamische System nicht als staatlich
anerkennt.
Aber das große Thema ist im Lande die Arbeitsmigration des
Großteils der Männer. Bis 2014 wies Tadschikistan weltweit den höchsten
Prozentsatz von Arbeitsmigranten aus Russland auf. Dies hat sich natürlich
aufgrund der Sanktionen gegen Russland sehr stark verändert. Tatsache ist, dass
zwei Drittel der Männer nicht im Lande sind. Die unregulierte Mehrehe ist
verbreitet. Arbeitsmigranten haben oft eine zweite Frau in Russland. Die Frauen
bleiben alleine mit den Kindern zurück. Viele Ehemänner kehren nicht mehr nach
Hause zurück. Durch die Sanktionen gegen Russland ist auch die Wirtschaft des
Landes zusammengebrochen. 60% der Rücküberweisungen fallen aus. Es gibt in
Tadschikistan immer mehr junge Männer ohne keine Perspektive. Das Risiko dieser
Situation ist, dass Unruhe ausbrechen wird. Aber die hierarchische Gesellschaft
konnte bis heute einen zweiten Bürgerkrieg (der von 1992-1997 war eine Katastrophe
für das Land gewesen) verhindern.
Die ländlichen Strukturen werden weitgehend durch den Islam
aufgefangen. Der Islam setzt sich dafür ein, soziale Ordnung zu schaffen. Viele
appellieren an den Islam und festigen die islamischen Strukturen, um soziale
Unruhen vorzubeugen.
Auch auf dem Niveau des tadschikischen Staates wurde ein
Paradigmenwechsel vollzogen.
Man fokussiert auch auf Staatsebene auf den Aufbau einer
zentralasiatischen Struktur des Islam. Denn der Islam dient auch zur
Selbsterhaltung des Staates. Der Staat hat sich dramatisch autoritär verändert.
Der Präsident strebt eine lebenslängliche und dann dynastische Herrschaft an.
Der Islam wird somit manipuliert, um die staatliche Herrschaft zu erhalten.
Nach dem Ende des Bürgerkrieges gab es eine islamische Opposition im Parlament.
Nun ist diese verboten worden und gilt als terroristische Organisation.
Tadschikistan steht aufgrund der Wirtschaftskrise eine sehr
unruhige und autoritäre Zeit bevor.
Es gibt wenig Landflucht, weil es keine großen Städte gibt.
Die Hauptstadt Dushanbe hat 800.000 Einwohner. Außerdem bieten die Städte in
Tadschikistan für die Menschen kaum Perspektiven.  Da es keine Industrie und wenig Gewerbe gibt,
dienen sie nur als Durchgangsorte, um nach Russland weiterzufahren. 
MR: Wie schwierig waren die Neunziger Jahre im Land
auf der Suche nach Unabhängigkeit und Identität?
TE: Nach 1991 wurde Tadschikistan unabhängig. Es war aber
keine freiwillige Unabhängigkeit. Es gab zwar Autonomieströmungen im Lande,
aber es war keine Herauslösung aus der Sowjetunion angedacht, weil
Tadschikistan einfach die Ressourcen fehlen, um unabhängig leben zu können. An
die Macht wollen einerseits die islamischen Kräfte und andererseits die alten
kommunistischen Eliten. Aber die Sicherheitskräfte und Geheimdienste brachen
zusammen. Viele slawische Offiziere verließen das Land. Somit wurde das
politische Vakuum von politischen Kriminellen und organisierten Kriminellen
gefüllt. Dies führte zu einem verheerenden Bürgerkrieg von 5 Jahren. 1997 wurde
dann der Friedensschluss durch die vereinten Nationen verhandelt, was zu einer
graduellen Veränderung führte. Es wurde eine Staatsgründungssymbolik
erarbeitet. Das Land war vollkommen zerstört. Aber es gab keine nationale
Versöhnungskommission. Der Bürgerkrieg wurde im Land überhaupt nicht
aufgearbeitet. Über die Opferzahlen zwischen 40.000 und 120.000 spricht
niemand.
Zunächst trat 1997 Ruhe im Lande ein. Dies wurde auch durch
die Einbindung der Opposition ins System möglich. Bis 2005 funktionierte das
Ganze auch einigermaßen.
Aber nach 2005 verliert der internationale Parameter des
Westens an Interesse. Es kommen andere Akteure ins Spiel. China kommt zurück.
Putin kommt in Russland an die Macht. Die tadschikische Regierung überlegt sich
nun autoritäre Methoden, um die Opposition auszuschalten. Es fließen
chinesische Kredite ins Land. Die USA und die EU werden nicht mehr gebraucht,
weil es attraktivere Partner gibt. Außerdem blicken die Tadschiken nach Irak
und sehen, was die USA durch ihre Angriffe anrichten. Der Westen fällt negativ
auf, und man verliert das Vertrauen. Somit wird auch die demokratische
Transformation der Gesellschaft als kritisch angesehen. Dasselbe geschieht mit
dem Arabischen Frühling. Auch dieser wird negativ gesehen. Er führt zu Spiralen
der Gewalt, zum Islamischen Staat und zu endlosem Krieg. So denken sich die
Tadschiken, dass sie diese demokratischen Spielregeln im Lande nicht mehr
brauchen und schalten in den letzten 5-6 Jahren die Opposition vollkommen aus,
z.B. durch die Ermordung von Oppositionspolitikern. 
 MR: Berichten Sie uns bitte über die wichtigsten
Bereiche Ihrer Tadschikistanforschung?

TE: Ein wichtiges Thema war der Bürgerkrieg. Ich habe die
Ursprünge und den Hergang des Bürgerkriegs analysiert. Ein zweiter Bereich
meiner Forschung betrifft die Ulama, die religiösen Eliten im Lande von der
späten Sowjetzeit bis in die letzten Jahre. Ich erforsche die Netzwerke und
analysiere, welcher der größere Kontext ist, in den sie sich einordnen.
Grundsätzlich geht es um die religiöse Rechtsleitung nach dem koranischen
Prinzip „Gebiete das Richtige und Verbiete das Verbotene“. Der Kontext der
Rechtsleitung ist in Tadschikistan oft das Freitagsgebet, in dem Fragen des
Publikums zugelassen werden. Ich analysiere, wie sich diese Fragen in den
letzten Jahren verändert haben, um welche Themen es den Menschen geht.
Wichtig ist im Bereich der Rechtsleistung auch die
Erforschung der tadschikischen, religiösen Netzwerke im Internet, vor allem
auch für die tadschikischen Migranten im Ausland. Nicht nur die Moschee gilt
als Mittelpunkt der religiösen Rechtsleistung, sondern auch die elektronischen
Varianten in Form von Webseiten und Apps für Smartphone.
Durch die Arbeitsmigration kommt es auch zur Veränderung der
muslimischen Gesellschaft in Tadschikistan. Weibliche Gläubige fordern in den
letzten Jahren mehr Raum an, vor allem in Internet sind Frauen auf religiösen
Webseiten der Rechtsleitung präsenter. In den Moscheen ist das nicht der Fall,
weil sie für Frauen kaum zugänglich sind.
In Tadschikistan kann man aber nicht von islamischem
Feminismus sprechen. Die Frauen werden aber zunehmend zu einer wichtigen
Klientel für die muslimischen Rechtsgelehrten, da zahlreiche Männer nicht im
Land sind und ihre Gemeinde zunehmen weiblich ist.
Die Frauen bleiben zurück und leiden unter der sozialen
Schieflage. Männer haben mehrere Frauen, heiraten auf ungeregelte Weise.
Drogenhandel ist weit verbreitet. Venerische Krankheiten kommen aus dem
Ausland. Frauen werden infiziert. Es gibt im Lande kein medizinisches System
für die Erkennung dieser Krankheiten. Dazu kommt häusliche Gewalt.
Es gibt in diesem bedauerlichen Kontext aber religiöse,
moderate Würdenträger, die sich für die Frauen einsetzen. Sie nehmen Stellung
zur häuslichen Gewalt, sagen, dass man Frauen nicht schlagen darf, und einige
Zuhörer beherzigen das. Sie sprechen sich auch gegen die ungeregelten Mehrehen
aus. Sie erklären den Frauen, dass die Krankheiten behandelt werden müssen,
dass sie zum Arzt gehen müssen, dass Tuberkulose nicht von Allah gewollt,
sondern heilbar ist. Die neue Generation der tadschikischen Muslime sucht
Antworten auf wichtige Probleme des tadschikischen Alltags. Das ist noch kein
Feminismus. Aber es ist doch ein wichtiger Schritt, die Probleme der Frauen in
die ländliche Gemeinde zu bringen. Denn wenn ein Geistlicher sagt: „Frauen
schlagen geht nicht“, so bringt das was für den einen oder anderen Gläubigen in
der Gemeinde. Die muslimische Gemeinde in Tadschikistan fängt somit die
Schieflagen in der Gesellschaft auf. Frauen sind immer wichtiger, weil die
Männer wenig sind. Wenn die tadschikischen Gemeinden der Muslime heute nicht
anfangen, auf Frauen zu fokussieren, zerbrechen ihre Gemeinden an den
Veränderungen.
MR: Was wünschen Sie sich für die Zukunft von
Tadschikistan?
TE: Ich wünsche mir für Tadschikistan mehr Freiheit, mehr Rechtsstaatlichkeit,
dass die Menschen selbst entscheiden können, ein wenig Wohlstand, gerechtere
Verteilung, Meinungsfreiheit
Partizipation und keine Exklusion. Denn Menschen werden
sozial, wirtschaftlich und politisch ausgeschlossen. Ich hingegen wünsche mir
Inklusion.
MR: Welche sind die wichtigsten Probleme
Tadschikistans im Spannungsfeld zwischen Islam und Modernität?
TE: Der Islam ist in Tadschikistan nicht das Problem. Das
Problem ist hier eher das Verständnis von Modernität. Tadschikistan ist aber in
dieser Hinsicht keine Ausnahme. Der hoffnungsvolle Trend der Neunziger Jahre
bestand im demokratischen Wandel. Und in vielen Ländern hat es ja auch geklappt
mit der Demokratie. Nun gibt es aber eine Regression. Die Länder werden
autoritärer. Das ist die zentrale Herausforderung. Die Herausforderung für
Tadschikistan ist nicht der Islam, sondern wie man mit einer transparenten
Regierung umgeht.