General

Palästina – ewiger Krieg im Nahen Osten?
Zur Geschichte und Zukunft des Nah-Ost-Konfliktes.

 von Norman Paech, Osnabrück 2015

Vor
50 Jahren haben Israel und die Bundesrepublik Deutschland diplomatische
Beziehungen aufgenommen. Dieses Ereignisses ist in diesem Jahr vielfach gedacht
worden. Vor allem stand dabei Israels Sicherheit immer wieder im Mittelpunkt –
beschworen mit dem Bekenntnis zur Staatsräson von Kanzlerin Angela Merkel,
welches sie 2008 vor der Knesset in Jerusalem abgegeben hat: „Jede Bundesregierung und jeder
Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung
Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische
Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt,
die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals
verhandelbar.“
  Die Erhebung von
Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson war nicht Merkels Erfindung. Schon
2005 hatte der damalige deutsche Botschafter in Israel, Rudolf Dressler (SPD),
gesagt: „Die gesicherte Existenz Israels
liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer
Staatsräson.“
Und in Ausdehnung der Sicherheit Israels auf sein
Existenzrecht hatte der damalige Außenminister Joseph „Joschka“ Fischer auf der
UNO-Sondergeneralversammlung 2005 erklärt: „Das
Existenzrecht des Staates Israel und die Sicherheit seiner Bürgerinnen und
Bürger wird immer unverhandelbare Grundposition deutscher Außenpolitik
bleiben.“
In dieser Doppelfunktion wird Deutschlands Staatsräson jetzt
allenthalben in Politik und Publizistik verstanden – ich werde darauf
zurückkommen.

Wie
diese „unverhandelbare Grundposition“ in concreto der politischen Praxis
aussieht, haben wir verschiedentlich beobachten können. Ministerin von der
Leyen hatte in diesem Jahr ein Treffen mit ihrem Kollegen Moshe Yaalon in
Jerusalem und berichtete von einem „warmherzigen und aufrichtigen Gespräch“.
Ihr dürfte in der Vorbereitung auf dieses Gespräch die Position ihres
Gesprächspartners zu dem Friedensprozess mit den Palästinensern nicht verborgen
geblieben sein, denn seine markigen Worte wurden auch in unserer Presse
dokumentiert: „Wir führen keine
Friedensverhandlungen mit den Palästinensern. US-Vorschläge sind das Papier
nicht wert. Retten kann uns nur, dass John Kerry den Friedensnobelpreis gewinnt
und uns in Ruhe lässt
“, war seine Reaktion im Januar 2014 auf die
zahlreichen Friedens- und Vermittlungsbemühungen des US-Außenministers. Er
fügte bei Gelegenheit die Drohung hinzu: „In
gewissen Fällen, wenn chirurgische Operationen nicht ausreichen, könnte Israel
Maßnahmen ergreifen, wie sie die Amerikaner in Nagasaki und Hiroshima
unternommen haben.“
Damals blieb diese Drohung, die einem Politiker wohl
nur im US-Wahlkampf erlaubt wäre, für Yaalon ohne Konsequenzen. Fragt sich nur,
worüber sich die beiden Politiker so warmherzig und aufrichtig ausgetauscht
haben mögen –  über das Wetter oder
Kindererziehung?
Staatsräson
ist ein politisches Monument, an dem jede Diskussion und Hinterfragung
abprallt. So auch die Kehrseite der israelischen Staatlichkeit, die
Staatlichkeit Palästinas, die der Ratio des Teilungsplans der UNO im Jahre 1947
ebenso zugrunde lag wie die Gründung eines Staates Israel. Als die PLO im
September 2012 in der UNO-Generalversammlung den Antrag stellte, nach über 60
Jahren nun endlich das Versprechen eines souveränen palästinensischen Staates
mit der völkerrechtlichen Anerkennung einzulösen, wurde dies durch die USA mit
Unterstützung der deutschen Regierung im Auftrag und vermeintlichen Interesse
Israels hintertrieben.
Die
immer wieder beschworene Zwei-Staaten-Lösung ist heute faktisch tot. Israel hat
sich zu einem binationalen Staat entwickelt – durch Landraub und
Siedlerkolonialismus. 1947 wurde den Palästinensern noch 47 % ihres Landes,
welches sie seit Generationen besiedelten, für einen eigenen Staat von der UNO
versprochen. 2015 sind noch 13 % davon übrig geblieben, von denen wiederum 60 %
unter ausschließlicher israelischer Verwaltung stehen. 1993 gab es 126 900
Siedler in den besetzten Gebieten, 2007 schon 267 500 und 2011 516 000 Siedler.
Heute wird die Zahl auf über 600 000 geschätzt und sie wächst unaufhaltsam. Zu
erinnern ist jedoch immer wieder daran, dass diese Siedler vollkommen
rechtswidrig und im Widerspruch zu den Genfer Konventionen dieses Land in
Besitz genommen haben. Jeff Halper, der Mitbegründer des israelischen „Komitees
gegen Hauszerstörungen“, hat dokumentiert, dass seit 1967 48 000 Wohnungen in
den besetzten Gebieten von der israelischen Armee und den Siedlern zerstört
worden sind. Die UNO hat jüngst berichtet, dass seit 1967 95 000 minderjährige
Palästinenser in israelischen Gefängnissen gesessen haben.
Gideon
Levy, Journalist der israelischen Zeitung Haaretz, der auf Grund seiner Kritik
an der israelischen Armee, sein Haus nicht mehr ohne polizeilichen Schutz
verlassen kann, schrieb am 4. Juli 2014 in einem Artikel mit dem Titel „Israel
will keinen Frieden“: „Die Idee der
Ablehnung liegt in Israels ursprünglichstem Glauben. Zutiefst liegt das
Konzept, dass dies Land allein für die Juden bestimmt ist. – Israel wünscht
keinen Frieden. Ich habe noch nie etwas geschrieben, über das ich glücklicher
wäre, wenn mir bewiesen würde, dass ich Unrecht hätte. Aber die Beweise häufen
sich. In der Tat kann man sagen, dass Israel niemals Frieden wünschte – einen gerechten
Frieden, d.h. eine Frieden, der sich auf einen gerechten Kompromiss für beide
Seiten gründet. …Der eine und erschütternste Punkt des Beweises für Israels
Zurückweisung von Frieden ist natürlich das Siedlungsprojekt. Von Anfang an hat
es nie einen zuverlässigeren oder genaueren Lakmustest für Israels wahre
Ansichten gegeben, als dieses besondere Unterfangen. In klaren Worten: die
Siedlungsbauer wünschen, die Besatzung zu festigen und diejenigen, die die
Besatzung festigen wollen, wollen keinen Frieden. Das ist die ganze Geschichte:
kurz und bündig.“
Schon
1937 hatte David Ben Gurion, seit 1948 erster Ministerpräsident Israels,
erklärt: „Ziel und Prüfstein des
Zionismus ist die vollständige Umsetzung der Kolonisierung aller Gebiete des
Landes Israel durch die Juden. Jede Teilung Palästinas, jede ‚Grüne Linie’,
jedes Abkommen und jeder Vertrag, die ein Stück des ‚Landes Israel’ gegenüber
der jüdischen Kolonisierung verschließen, ist aus Sicht des Zionismus höchstens
eine Durchgangsetappe, darf aber niemals für immer gelten.“
Dass diese
Maxime des Zionismus auch heute noch gilt und gleichsam zur Staatsräson Israels
erwachsen ist, hat der gegenwärtige Staatspräsident Reuven Richlin am 24.
August dieses Jahres bekundet: „Unser
Recht auf das Land ist kein Gegenstand einer politischen Debatte. Es ist eine
Grundtatsache des modernen Zionismus. Wir dürfen nicht zulassen, dass
irgendjemand glaubt, es gäbe irgendeinen Zweifel über unser Recht auf unser
Land. Für mich ist die Besiedlung des Landes Israel ein Ausdruck dieses
Rechtes, unseres historischen Rechtes, unseres nationalen Rechtes, das aus der
Liebe zum Land Israel kommt, die Anerkennung unserer Wurzeln, die hier sind.“
Kein
Staat hat je etwas gegen diese schleichende aber offen propagierte
Landenteignung unternommen. Im Gegenteil, sie haben ihre eigenen vorgeblichen
Lösungspläne nicht ernst genommen und zu funktionsloser Ersatzpolitik
degradiert, wenn etwa Condoleeza Rice die Roadmap von 2003 einen „allenfalls marginalen Plan, der nicht
funktionieren wird“
, nannte. Alles was in der Öffentlichkeit immer wieder
mit dem Etikett „Hoffnung“ versehen wurde, stellte sich letztlich als grobes
Täuschungsmanöver über die wahren Pläne der Kolonisierung heraus. So wurde die
Ankündigung Ariel Scharons, Armee und Siedler aus dem Gazastreifen abzuziehen,
als erster mutiger Schritt zur Beendigung der Besatzung gefeiert. Doch Dov
Weissglas, das Alter Ego Sharons, hat am 6. Oktober 2014 in Haaretz, ganz
nüchtern aber weitgehend unbemerkt die wahren Pläne hinter dem Manöver aufgedeckt:
„Die Bedeutung des Abzugsplans liegt in
dem Einfrieren des Friedensprozesses. Wenn man diesen Friedensprozess
einfriert, dann verhindert man die Errichtung eines palästinensischen Staates
und man verhindert die Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und
Jerusalem. Der Abzug liefert das Maß an Formaldehyd, das notwendig ist, um
jeden politischen Prozess mit den Palästinensern zu stoppen.“ Das ist die
Flüssigkeit, in der tote Körper aufbewahrt werden. Und um keine Zweifel
aufkommen zu lassen, fügte er hinzu: „Im Ergebnis ist das ganze Paket,
Palästinensischer Staat genannt, mit allem, was es enthält auf unabsehbare Zeit
von unserer Agenda gestrichen …mit (US)präsidentiellem Segen und der
Ratifizierung beider Häuser des Kongresses.“
Der israelische Historiker und
bedeutende Faschismusforscher Zeev Sternhell antwortete 10 Jahre später in
einem Interview auf die Frage: „Wovor
fürchtet sich Israel aktuell am meisten?
“ nicht etwa mit Iran oder ISIS,
sondern: „Mehr als vor ISIS oder Hamas
hat Israel Angst vor einer neuen normalen Identität als „normales“ Land.
Frieden bedeutet nicht nur die Festlegung territorialer Grenzen, sondern mehr
noch: Die historische und kulturelle Anerkennung der Existenz der anderen als
Volk, als Nation mit denselben Rechten wie das jüdische Volk in einem
unabhängigen Staat in Palästina. Das Vorhandensein eines echten oder
angeblichen äußeren Feindes, einer tödlichen Bedrohung, ist nicht nur die
zentrale Losung, mit der die an der Macht befindliche Rechte in Israel ihre Anhänger
mobilisiert. Darüber hinaus ist sie auch ein Klebstoff, der eine sozial und
kulturell tief gespaltene Gesellschaft zusammenhält.“
Die
letzte große Friedenskonferenz, mit der wiederum große Hoffnung verbunden war,
fand am 27. November 2007 in Annapolis statt. Das war ganz in der Nähe eines
historischen Datums, des 29. November 1947, an dem die UN-Generalversammlung
mit der Resolution 181 die Teilung Palästinas in einen israelischen und einen
palästinensischen Staat vorschlug. Der Fehlschlag auch dieser Konferenz ist
bekannt. Bereits am 8. Februar desselben Jahres hatte König Abdullah von
Saudi-Arabien in Mekka eine Initiative der arabischen Staaten vorgestellt,  die eine gemeinsame Regierung von Fatah und
Hamas in den besetzten Gebieten beinhaltete, auf die sie sich geeinigt hatten.
Vorausgegangen war 2006 der Wahlsieg der Hamas im Gazastreifen. Doch Israel und
USA lehnten auch diese Initiative ab und schnürten den Streifen mit einer
Blockade und einem Embargo ab. Die New York Times sah damals sehr deutlich, was
das für die Palästinenser bedeutete: „Der
Bürgerkrieg, von dem die Palästinenser behaupteten, dass er niemals geschehen
könne, war nun da, ein Bürgerkrieg, gefördert von Israel und den USA im Namen
des Antiterrorismus und der Stabilität.“
Ein Jahr später, zur Jahreswende
2008/2009 überzog Israel den Gazastreifen mit einem kurzen aber vernichtenden
Krieg mit schweren Kriegsverbrechen. Der Friedensprozess war endgültig tot und
die Schwächung der Palästinenser durch ihre Spaltung war erreicht.
Der
Zionismus als Staatsräson Israels in seiner Forderung nach einem jüdischen
Staat hat jedoch ein schwerwiegendes Demokratieproblem. Denn der Verzicht auf
gleichberechtigte demokratische Teilhabe der arabischen Bevölkerung in einem
rein jüdischen Staat lässt sich nicht dadurch leugnen, dass die Regierung
Israel einfach einen jüdisch-demokratischen Staat nennt. Ein Staat, dessen
immer wieder plakativ vertretener demokratischer Anspruch sich schon lange auf
die formalen Elemente von Gewaltenteilung und Wahlprozessen reduziert hat, wird
als jüdischer Staat unweigerlich zum Apartheidstaat. Das ist das Dilemma des
modernen Zionismus zwischen jüdischem und demokratischem Staat. Einer, der es
wissen musste, der letzte weiße Präsident Südafrikas bevor er 1994 die Macht an
Nelson Mandel übergab, F. W. de Klerk, hat dieses Modell allerdings den Israeli
empfohlen: „Was Apartheid ursprünglich
erreichen wollte, ist, was jeder heute als die Lösung für Israel und Palästina
hält, nämlich trennen, separate Nationalstaaten auf der Grundlage von Ethnien,
verschiedenen Kulturen, unterschiedlichen Staaten.“
Das war noch die
Zwei-Staaten-Roadmap, die Israels Regierung zwar immer noch vor sich her trägt,
faktisch aber schon lange begraben hat. Sie hat sich auf den Weg des
Apartheidstaat begeben, in dem lediglich die jüdische Bevölkerung
uneingeschränkte demokratische Rechte besitzt. Schon die arabische Bevölkerung
in Israel ist um etliche Rechte beschnitten und nimmt den Status eines Volkes
zweiter Klasse ein. Während die Palästinenserinnen und Palästinenser in den
besetzten Gebieten über die Status offizieller Diskriminierung nicht
hinauskommen.
Amos
Schocken, der Herausgeber von Haaretz hat am 25. November 2011 in seiner
Zeitung unter dem Titel „Die notwendige
Beseitigung der israelischen Demokratie“ die Politik der letzten Regierungen
als „Strategie der Landnahme und Apartheid“ scharf verurteilt und die Auflösung
des Widerspruchs zwischen jüdischem und demokratischen Staat unter den
Prämissen der herrschenden Ideologie ebenfalls nur in der Apartheid gesehen.
Alle Regierungen seien seit den 1970er Jahren der Ideologie des Gush Emunim
gefolgt, die sehr einfach und klar sei. Er schreibt: „Sie begreift den
Sechs-Tage-Krieg als die Fortsetzung des Unabhängigkeitskrieges, sowohl was die
Einnahme der Gebiete als auch die Folgen für die palästinensische Bevölkerung
angeht. Nach dieser Strategie sind die Besatzungsgrenzen des Sechs-Tage-Krieges
die Grenzen, die für Israel gelten müssen. Die Palästinenser, die in diesen
Gebieten leben (soweit sie nicht geflohen sind oder vertrieben wurden), sind
einem harten Regime zu unterwerfen. Dies treibt sie in die Flucht oder führt zu
ihrer Vertreibung, beraubt sie ihrer Rechte und schafft eine Situation, in der
diejenigen, die bleiben, nicht einmal mehr Bürger zweiter Klasse sind. Für ihr
Schicksal interessiert sich niemand. Sie werden wie die palästinensischen
Flüchtlinge im Unabhängigkeitskrieg sein; das ist ihr erwünschter Status. Jene
aber, die nicht Flüchtlinge sind, sollte man versuchen, in den Status von
„Absentees“, Abwesenden zu versetzen. Anders als die Palästinenser, die nach
dem Unabhängigkeitskrieg in Israel bleiben, sollen die Palästinenser in den
Gebieten nicht die israelische Staatsbürgerschaft erhalten wegen ihrer großen
Zahl, aber dann sollte sich auch für ihr Schicksal niemand interessieren.“

Das Ziel, so Schocken weiter, sei die „Herabwürdigung
der Palästinenser (in Israel und in den besetzten Gebieten) gegenüber den Juden
und ihre Degradierung zu Bürgern zweiter Klasse, zu quasi Nicht-Existenten oder
– im besten Falle – zu solchen, die aus dem Land fliehen.
“ Für Schocken
eine „eklatant undemokratische
Situation“,
zu deren Realisierung jedoch „die Errichtung eines israelischen Apartheid-Regimes das notwendige
Mittel“
ist.
Wenn
aber die Zwei-Staaten-Lösung passé ist – 51 % der Palätinenser haben sich im
September 2015 gegen die Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen, sie würden lieber
um ihre Recht kämpfen – , dann hat auch die PLO ein Problem. Auch sie klammert
sich noch immer an eine Zwei-Staaten-Lösung, das heißt einen souveränen
palästinensischen Staat neben Israel. Denn dies ist der einzige
völkerrechtliche Hebel, mit dem sie die UNO in die Pflicht nehmen kann, an
ihren einmal gefassten Resolutionen festzuhalten und zu versuchen, sie gegen
Israel und die USA durchzusetzen. Der Kampf um demokratische Gleichberechtigung
in einem großen palästinensisch-israelischen Staat ist eine innerstaatliche
Aufgabe, mit der das Völkerrecht nichts zu tun hat und die UNO außen vorbleiben
muss. Doch was ist leichter und aussichtsreicher, einen solchen Staat zu
demokratisieren oder einen separaten souveränen Staat zu erkämpfen?
Ich
komme an diesem Punkt noch einmal auf das Existenzrecht Israels und seine
Anerkennung zurück. Das Bekenntnis zur Anerkennung ist heute zum Lackmustest
für Antisemitismus geworden, es ist die Eintrittskarte zum Dialog mit den
Freunden der israelischen Politik. Doch hier ist zu unterscheiden und genau
darauf zu achten, was die Anerkennung bedeuten soll. Denn die Anerkennung des
israelischen Staates genügt offensichtlich nicht. Sie ist aber die einzige Form
der Anerkennung, die völkerrechtlich und diplomatisch vorgesehen ist. Sie
stellt die völkerrechtliche Normalität dar und ist bereits 1988 von dem
damaligen Vorsitzenden der PLO, Yassir Arafat, mit seiner Kopenhagener
Erklärung vorgenommen worden. Er hatte sie seinerzeit abgegeben in der
Hoffnung, dass Israel die gleichzeitige Ausrufung des Palästinensischen Staates
ebenfalls anerkennen würde. Er sah sich getäuscht, hat aber die Anerkennung
nicht widerrufen.
Die
völkerrechtlich unverbindliche aber politisch offensichtlich so wichtige
Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel, würde jedoch voraussetzen,
dass die Grenzen des Staates bekannt und unstrittig sind. Das ist jedoch nicht
der Fall. Die israelische Regierung weigert sich, die Waffenstillstandslinie
von 1967, die sog. „Grüne Linie“ als Grenzen des Staates Israel anzuerkennen.
Eine Landkarte mit dem Ausweis der besetzten Gebiete als Besatzungsgebiet ist in
Israel nicht im Handel. Als die Erziehungsministerin Yuli Tamir die Grüne Linie
wieder in die Schulbücher aufnehmen wollte – sie war seinerzeit durch Golda
Meir gestrichen worden -, wurde dieses nach heftigen Auseinandersetzungen
abgelehnt. Hamas hat immer die genaue Bezeichnung der Grenzen zur Voraussetzung
ihrer Anerkennung eines Existenzrechts Israels gemacht. Zu Unrecht? Erinnern
wir uns an die langjährigen Debatten um die deutsche Ostgrenze mit Polen, die
sog. Oder-Neiße-Grenze. Die wechselseitige Anerkennung konnte erst erfolgen,
nachdem man eine Einigung darüber erzielt hatte, welche Neiße die Grenze bilden
sollte.
Doch
damit nicht genug. Die Anerkennung soll jetzt auch die Anerkennung eines
explizit jüdischen Staates umfassen – eine Formel, die vom Großmeister des
politischen Zynismus, Henry Kissinger, stammen soll. Das würde jedoch bedeuten,
dass die Anerkennung den Verzicht auf demokratische Gleichberechtigung der
nicht-jüdischen Bevölkerung beinhaltet, die Aufgabe eines demokratischen
Staates. Sie würde den Verzicht auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge der
Kriege von 1948 und 1967 umfassen  und
die Akzeptanz der Apartheid. Es wäre die Selbstaufgabe der Palästinenser.
Es
bleibt zum Schluss die Frage: Was ist zu tun? Die Politik der USA und der EU ist
offensichtlich aus den verschiedensten Gründen nicht willens und in der Lage,
die nach ihren eigenen Kriterien untragbare und skandalöse, ja kriminelle
Situation in Palästina zu befrieden und den jahrzehntelangen Konflikt zu lösen.
Die Zivilgesellschaft ist also wieder einmal auf sich selbst zurückgeworfen und
nach eigenen Möglichkeiten der Einflussnahme zu suchen. Die zahllosen
Organisationen, Gesellschaften und Gruppierung, die sich seit Jahren mit dem
Konflikt beschäftigen, haben zwar zur Aufklärung der wahren Geschehnisse und
Hintergründe des Konfliktes entscheidend beitragen können – vor allem in
Verbindung mit kritischen Stimmen aus der israelischen Gesellschaft. Doch einen
Wandel der opportunistischen Zurückhaltung und faktischen Kollaboration mit der
Besatzungsmacht haben sie nicht bewirken können. So ist ein großer Teil der
Organisationen und Einzelpersönlichkeiten der Zivilgesellschaft der
Aufforderung der Palästinenser gefolgt, gegenüber Israel eine Strategie des
Boykotts, Disinvestments und der Sanktionen (BDS) zu verfolgen. Dieser Aufruf
hat vor allem im Ausland breite Resonanz – wie seinerzeit gegen Südafrika –
erfahren, bei Gewerkschaften, Unternehmen und Universitäten sowie anderen
Kultureinrichtungen. Netanjahu hat die große Gefahr, die von dieser Bewegung
ausgeht, durchaus erkannt, und warnt eindringlich vor der Delegitimierung
Israels. Was er nicht erkennt ist, dass gerade die Politik seiner Regierung die
Delegitimierung bewirkt und erheblich zum Anstieg des Antisemitismus beiträgt.
Ziel des BDS ist lediglich, Israel auf die Beachtung des Völkerrechts zu
verpflichten, die Besatzung aufzuheben und ein normales Zusammenleben mit der
palästinensischen Bevölkerung in einem oder getrennt in zwei Staaten zu
ermöglichen. In Deutschland tut sich die Bewegung schwer auf Grund der eigenen
unseligen Geschichte und der verbreiteten Versuche, sie gegen die
Boykottaufrufe zu instrumentalisieren (Vorwurf: “Kauft nicht bei Juden“).  Der Boykott richtet sich allerdings nur gegen
Waren, die mit dem Etikett „Israel“ aus den besetzten Gebieten stammen und
entgegen der Maßgabe der EU nicht den genauen Herkunftsort angeben. Den
Konsumenten wird damit die Möglichkeit genommen, selbst darüber zu entscheiden,
welche Produkte sie erwerben wollen. Wer weiß schon, dass ¾ des
landwirtschaftlichen Exports Israels aus dem Jordantal stammen, welches zu 90 %
als sog. C-Zone unter ausschließlicher israelischer Verwaltung steht und damit
der palästinensischen Landwirtschaft entzogen wird. Die UNO schätzt, dass den
Palästinensern dadurch jährlich ein Verlust von 3,4 Mrd. Dollar entsteht. Der
Boykott soll solange anhalten, bis Israel diesen völkerrechtswidrigen Zustand
beseitigt hat.
Die
Entscheidung, sich dem Boykott anzuschließen, ist jedem Einzelnen überlassen.
Der ehemalige Sprecher der Knesseth, Avram Burg, hat am 14. Juni 2012 seine
Entscheidung so begründet: „Ich habe
entschieden, keine Produkte aus Siedlungen zu kaufen. Ich überschreite die
grüne Linie nicht, weder für wohltätige Zwecke noch für
Familienangelegenheiten. Denn alles, was über die Grüne Linie hinaus passiert,
betrifft Israels dunkles Alter Ego. Sein versteckter Charakter offenbart sich
dort. Boshaft, aggressiv und unzugänglich. Diese Persönlichkeit droht die Macht
zu ergreifen über die guten und menschlichen Strukturen des rechtmäßigen
Israel. Mit internationaler Hilfe müssen wir versuchen, diese Dämonen zu
vertreiben, und uns auf die positiven Seiten Israels zurückbesinnen.“