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Eine Weltwirtschaftskrise, Made in China?

von Milena Rampoldi, Tlaxcala, 06. Januar 2016.




Minqi Li 李民骐




Übersetzt von 
Milena Rampoldi میلنا رامپلدی



Herausgegeben von 
Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي



Am 20. Oktober 2015 erschien Minqi Lis Buch China and the 21st Century Crisis
(China und die Krise des 21. Jahrhunderts). Der Autor untersucht die
Grundlinien des möglichen Standortes des Falls des Kapitalismus und
warum dieser früher eintreten könnte, als wir denken.

„Verschiedene führende Mainstream-Wirtschaftsinstitutionen warnen vor
der Gefahr der nahenden Weltwirtschaftskrise. Am 8. September
veröffentlichte die Citi Group einen Forschungsbericht mit dem Titel Is China Leading the World into Recession? (Ist
China im Begriff, die Welt in die Rezession zu führen?) von Willem
Buiter, dem leitenden Wirtschaftswissenschaftler von Citi. Der Bericht
warnt: „Eine globale Rezession ab 2016, ausgehend von China, ist nun das
Hauptszenario unseres internationalen Teams von
Wirtschaftswissenschaftlern. Die Unsicherheit bleibt, aber die
Wahrscheinlichkeit einer zeitgerechten und effektiven politischen
Reaktion scheint abzunehmen.“

Am 11. September veröffentlichte die Daiwa Securities Group, die
zweitgrößte japanische Brokergesellschaft, einen Bericht mit dem Titel What Will Happen If China’s Economic Bubble Bursts
(Was, wenn die chinesische Wirtschaftsblase platzt?). Sogar im besten
Falle sollte das chinesische Wirtschaftswachstum unter null fallen.
Dennoch sollte der Kollaps der chinesischen Wirtschaft das
wahrscheinlichste Ergebnis darstellen. Und „wenn die chinesische
Wirtschaft, die zweitgrößte der Welt, zwei Mal größer als Japan, in eine
Krisensituation wie diese stürzt, dann hätte das höchstwahrscheinlich
zur Folge, dass die Weltwirtschaft auch in Mitleidenschaft gezogen
würde. Dies könnte zur schlimmsten, weltweit je gesehenen Auswirkung
führen“.

Am 3. Oktober verfasste dann Lawrence Summers, der ehemalige
US-Finanzminister und wirtschaftliche Berater von Präsident Obama, einen
Artikel mit dem Titel „The Global Economy Is in Serious Danger“
(Weltwirtschaft schwer gefährdet). Dieser Artikel wurde sowohl vom Financial Times als auch von der Washington Post veröffentlicht.

Ein wachsender Konsensus scheint darüber aufzukommen, dass die
kapitalistische Weltwirtschaft in einem schnellen Tempo der nächsten
Krise zusteuert. Vom Standpunkt des globalen Klassenkampfs aus
fokussiert die wahre Frage auf die Modalität, nach der die nächste
Wirtschaftskrise in der derzeitigen strukturellen Krise des
Weltkapitalismus eine Rolle spielt (die dritte „strukturelle Krise“ nach
den strukturellen Krisen von 1914-1945 und 1968-1989) und darauf, ob
die derzeitige strukturelle Krise innerhalb des historischen Rahmens des
Kapitalismus gelöst werden kann.

In Antwort auf die letzte strukturelle Krise, setzte der
Weltkapitalismus den „Neoliberalismus“ als eine Reihe politischer
Richtlinien und Institutionen um, die das Ziel verfolgten, die
Arbeiterklasse in den zentralen und semiperipheren Ländern
niederzuschlagen. Aber das globale Machtgefüge wurde nicht entscheidend
zu Gunsten der kapitalistischen Klassen gedreht, bis China nicht die
„Reformen und Öffnung“ einleitete. Die kapitalistische Transition Chinas
verschaffte Hunderten Millionen kompetenter Arbeiter Lohnsätze zu einem
Bruchteil der in den Kernländern geltenden Löhne. Die Eingliederung
einer so günstigen Arbeitskraft untergrub entscheidend die
Verhandlungsposition der westlichen Arbeiterklassen.

Seitdem hat die chinesische Gesellschaftsstruktur erhebliche
Änderungen erfahren. Eine breite militante Arbeiterklasse bildete sich
heraus. Gemäß der Schätzung dieses Autors wuchs die lohnabgängige
Arbeiterklasse in China von 230 Millionen im Jahre 1990 auf 370
Millionen im Jahre 2012. Wenn man noch die privilegiertere städtische
„Mittelklasse“ (Facharbeiter und Techniker) einschließt, dann stieg die
Gesamtanzahl der städtischen und ländlichen Lohnempfänger von 250
Millionen im Jahre 1990 auf 420 Millionen im Jahre 2012 an. Derzeitig
gibt es ungefähr 100.000 „Massenvorfälle“ (Massenproteste) pro Jahr.
Ungefähr 10 Millionen Menschen sind jährlich an den „Massenvorfällen“
beteiligt.



Streikende ArbeiterInnen im Hi-P-Werk in Shanghai, Dezember 2011
Foto Eugene Hoshiko AP/Sipa/

Nach den starken Rückgängen der 1990er Jahre und der Stabilisierung
zu Beginn der 2000er, begann das Arbeitseinkommen als Anteil des
chinesischen Bruttoinlandproduktes ab 2010 zu wachsen, ein Zeichen des
wachsenden Erstarkens der chinesischen Arbeiterklasse. Der Ertragsdruck
auf den kapitalistischen Profit führte zu einem schnellen Niedergang der
gesamten chinesischen Gewinnspanne. In den ersten Jahren der 2000er war
die gesamte Gewinnspanne Chinas ungefähr zweimal so hoch wie in den
USA. Seit 2007 ist die Gewinnspanne in China schwindelerregend gefallen.
Mit dem aktuellen Trend könnte die chinesische Gewinnspanne in wenigen
Jahren auf Niveaus fallen, die wir zuletzt aus der großen
US-Wirtschaftskrise kennen.

Wie verschiedene Mainstream-Institutionen vorausgesehen haben, könnte
eine schwere Krise der chinesischen Wirtschaft die kapitalistische
Weltwirtschaft in eine Krise stürzen, die sich als destruktiver erweisen
wird als die „Große Rezession“ von 2008-2009. Es stellt sich die Frage,
ob der Weltkapitalismus die kommende Krise überleben wird und ob die
günstigen Bedingungen, die für die globale Kapitalanhäufung erforderlich
sind, wieder hergestellt werden können.

Menschen aus dem rechten und linken Flügel gehen beide davon aus,
dass der Kapitalismus ein unglaublich flexibles System ist, das sich an
neue historische Gegebenheiten anpassen kann. Denn schlussendlich hat
der Kapitalismus die vergangenen „strukturellen Krisen“ von 1914-1945
und von 1968-1989 überstanden. Aber es gibt mindestens zwei neue
Entwicklungen, die die zukünftige strukturelle Krise wesentlich anders
gestalten könnten als die vorigen zwei.

Auf die strukturelle Krise von 1914-1945 reagierte der
Weltkapitalismus durch die Anpassung an die gesellschaftlichen
Herausforderungen der westlichen Arbeiterklasse (in Form des
Keynesianismus und des Wohlfahrtstaates) und die nicht-westlichen
Befreiungsbewegungen (in Form von Dekolonisierung und wirtschaftlichen
Entwicklungsprogrammen). Im Gegensatz dazu war der Weltkapitalismus
während der strukturellen Krise von 1968-1989 nicht mehr in der Lage,
die steigenden Anforderungen der zentralen und semiperipheren
Arbeiterklassen zu erfüllen und sah sich daher gezwungen, neoliberale
politische Modelle umzusetzen, um die Profitrate wiederherzustellen.

Wenn der Weltkapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr in
der Lage war, den Anforderungen der zentralen und semiperipheren
Arbeiterklassen zu entsprechen, wie wahrscheinlich ist es dann für den
Weltkapitalismus des 21. Jahrhunderts, dass er in der Lage sein wird,
nicht nur die Anforderungen der zentralen und historisch semiperipheren
Arbeiterklassen, sondern auch die der chinesischen Arbeiterklasse (die
allein ungefähr 1/5 der Arbeiterklasse weltweit ausmacht) zu
erfüllen? Des Weiteren gibt es, im Unterschied zum 20. Jahrhundert,
keine andere große geografische Region, die zahlreiche günstige
Arbeitskräfte mit den anderen notwendigen Bedingungen für die
Kapitalanhäufung liefern könnte, um den Weltkapitalismus dabei zu
unterstützen, günstige Bedingungen der Kapitalanhäufung
wiederherzustellen. Unzureichende Energieressourcen alleine können
verhindern, dass Indien das nächste „China“ wird.

Des Weiteren steuern die ökologischen Systeme weltweit in einem
schnellen Tempo dem völligen Kollaps zu und zwingen somit der globalen
Kapitalanhäufung eine andere unüberbrückbare Einschränkung auf. In einem kürzlichen Kommentar
liefert Kevin Anderson, einer der führenden Klimawandel-Experte der
Welt, ein starkes Argument, nach dem ein realistisches
Klimastabilisierungsprogramm eine globale Verminderung der Emissionen
auf jährlicher Basis von 10 Prozent oder mehr braucht, um einer globalen
Erwärmung von mehr als 2 Grad vorzubeugen. Die grundlegende Botschaft
von Andersons Kommentar besteht darin, dass eine vernünftige
Stabilisierung des Klimas (die die Erhaltung der materiellen Grundlage
der menschlichen Zivilisation möglich macht) wesentlich unvereinbar mit
der Fortsetzung des unendlichen Wirtschaftswachstums (d.h. der
unendlichen Kapitalanhäufung) ist.

Kann die Welt gleichzeitig die grundlegenden Anforderungen der
globalen ökologischen Nachhaltigkeit und die Grundbedürfnisse von
Millionen Menschen im globalen Süden erfüllen? Darauf werden wir so oder
so in den nächsten Jahrzehnten eine Antwort finden.

China and the 21st Century Crisis
Minqi Li

ISBN: 9780745335384
Seitenanzahl: 232 S.
Erscheinungsdatum 20. Oktober 2015
Größe: 230mm x 150mm
Format: Taschenbuch

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