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Brief aus Nazareth: die vergessenen Palästinenser




Jonathan Cook جونثان كوك



Übersetzt von 
Ellen Rohlfs اِلِن رُلفس



Herausgegeben von 
Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي



Die Christen und Muslime der Stadt kämpfen weiter gegen Israels Teile-und-herrsche-Politik


Nazareth-Mit 26 m  ist Nazareths künstlicher Weihnachtsbaum
der größte im Nahen Osten. Deshalb rühmen sich die Stadtoberen. Sein
roter, silberner und goldener Schmuck hat eine  vorübergehende, aber
dringend nötige Freude zur Stadt von Jesu Kindheit gebracht.

Trotz der festlichen Stimmung kämpfen
Freunde und Nachbarn in Israels größter palästinensischer Stadt einen
Kampf, um hoffnungsvoll über die  Zukunft zu klingen. Selbst die
aufblasbaren Weihnachtsmänner, die an den Ladenmarkisen hängen sehen
verloren aus.

Der Tourismus ist seit Israels Angriff  auf Gaza vor 18 Monate
zusammengebrochen. Die Unruhe, die in der naheliegenden  besetzten
Westbank brodelt, bringt  kontinuierliche Berichte  über
palästinensische Todesfälle.

Und in Syrien, ein Steinwurf weit von Galiläa entfernt, klingt  die auseinander fallende regionale  Ordnung wie ein  böses Omen.

Genau so beunruhigend sind die Zeichen, dass die israelische
Feindseligkeit der Gesellschaft gegenüber  ihrer palästinensischen
Minderheit immer hässlicher wird. „Tod den Arabern! “  wird nicht mehr
nur in den Fußballstadien gesungen,  sondern auch auf den Hauptstraßen.

Meine in Nazareth geborene Frau wagt kein Messer mehr mitzunehmen, um
bei einem Ausflug mit unsern jungen Töchtern Früchte  zu schälen. Sie
hat Angst, bei der neuen Stimmung von Selbstjustiz, als sogenannte
„einsamer Wolf“-Angreiferin erschossen zu werden.

In jüdischen Gegenden  geben Freunde und Verwandte zu, immer
ängstlicher zu werden, in der Öffentlichkeit oder im Telefon arabisch zu
sprechen.

Der Historiker Ilan Pappe nennt die 1,6 Millionen Palästinenser  mit
israelischer Staatsangehörigkeit die „vergessenen Palästinenser“.
Während der Nakba 1948 brachten sie es fertig, der Massenenteignung der
Palästinenser zu entkommen und sich nicht vom neuen Staat  vertreiben zu
lassen. Heute ist jeder fünfte Einwohner Israels ein Palästinenser .

Es ist ihr seltsamer Status als „gefangene Minderheit“ mit den Worten
eines israelischen Soziologen, der mich als Journalist  vor mehr als
zehn Jahren zu Beginn der 2. Intifada nach Nazareth zog.

Während der Jahre bin ich langsam dahinter gekommen, welche
Schwierigkeiten palästinensische Bürger in Israel  überwinden müssen, da
sie in dem permanenten  Status eines „inneren Feindes“ leben müssen.

Sie mussten eine komplexe und gefügige Identität entwickeln und einen 6.
Sinn, um den konstanten Intrigen ihres eigenen Staates
entgegenzutreten, um sie zu schwächen und gegeneinander  aufzuwiegeln.

Nazareth hat die größte Konzentration von  Christen im Heiligen Land,
aber auch eine muslimische Mehrheit von zwei Dritteln, nachdem die
Stadt  ein Zufluchtsort für viele Flüchtlinge nach 1948 wurde. Das hat
die Stadt besonders anfällig für Israels Teile-und-Herrsche-Strategie
gemacht.

Benjamin Netanjahu‘ s unheilvolle Bemühungen in den späten 1990er
Jahren, während seiner ersten Regierungszeit als Ministerpräsident, 
Zwietracht anzufachen, ist nicht vergessen worden.

Er löste sektiererische Aufstände aus, als er einen provokativen Plan
ausheckte: eine riesige  Moschee zu bauen, die die heiligste Stätte der
Stadt, die Verkündigungsbasilika überschatten sollte. Hier soll der
Engel  der Maria verkündet haben, dass sie Jesus in sich trägt.

Dies schürte Feuer. Netanjahu  ließ ruhig den Moschee-Plan fallen.

Als er seit 2009 wieder an der Macht war, spielte er aggressiv die
Teile-und-Herrsche-Karte wieder. Er machte den Christen Angst wegen der
wachsenden Macht  von ISIL in der Region.

Nach lokalen Medien, eine kürzliche israelische Umfrage behauptete, dass 17% der Muslime in Israel die IS-Gruppe unterstützen.

Eine nähere Untersuchung jedoch enthüllt, dass die Gefragten  nicht
danach gefragt worden seien, ob sie die IS-Gruppe unterstützen, sondern
ob sie sich als Araber dafür schämen. Bei dieser Zählung  wäre sogar
meine palästinensische christliche Frau  zu den Unterstützern von ISIL
gezählt worden.

Trotz alledem: die Öffentlichkeit, der die Meinungsumfragen gegeben
wird, wie auch die Verhaftung von fünf Männern aus Nazareth, die
angeklagt wurden, eine ISIL-Zelle aufzubauen,  hat einige Christen
nervös gemacht. Sie fragten sich, ob oder wie bald  sie die Auswirkungen
von Syrien erreichen werden.

Netanjahu ist  nur sehr glücklich, die Ängste geschürt zu haben. Er
hat einen Priester aus Nazareth auf seine Seite gezogen und behauptet,
dass es jetzt für Christen – nicht für Muslime – an der Zeit wäre, ihre
jahrzehntelange Opposition aufzugeben, in der israelischen Armee zu
dienen. Junge Christen  – so sagte Netanjahu – sollten lernen, wie man
sich selbst  als israelischer Soldat verteidigt, selbst wenn das
bedeuten sollte, ihre Verwandten in den besetzten Gebieten zu
unterdrücken.

Die Idee ist für die meisten  unappetitlich, aber Netanjahu  arbeitet mit Zuckerbrot und Peitsche, um sie zu locken.

Ein Anlass liegt neben meinem Haus –  Land  auf einem Hügel über der
Basilika. Seit Jahrzehnten war das Gebiet Ödland, seltsam leer in einer
Stadt, die übervölkert ist ….

Ein Stadtangestellter sagte mir, das Grundstück war vom Staat
konfisziert worden, nachdem sein Besitzer 1948 geflohen war. Die
Regierung hat nun entschieden, das Land für Hausbau anzubieten, aber nur
Palästinensern, die bei den Sicherheitsdiensten dienen. Netanjahu hofft
so,  Nazareth Land- und Wohnungsmangel  zu verbessern und der
traditionellen Verpflichtung  für palästinensische Männer nachzugehen,
vor der Hochzeit ein Haus zu bauen.  um dabei den christlichen 
Schulabgängern, die nun zur Armee müssen, den Arm zu verdrehen.

Die Einmischung geht noch tiefer. Die israelische Regierung hat eine
neue Nationalität eingeführt: Aramäisch. Das ergänzt die bestehenden
Einteilungen auf israelischen ID-Karten : jüdisch, arabisch und
drusisch.

Das Ziel ist, junge Christen  davon zu überzeugen, ihr arabisches
Erbe zu leugnen, die Sprache und Kultur und Identität und stattdessen
Aramäer zu werden.


Shadi Halul, ein Reservekapitän der Fallschirmjäger und Leiter des Forums christlicher IDF-Offiziere, stand an 15. Stelle auf Avigdor Liebermans Israel BeytenuListe bei den Knessetwahlen im vergangenen Jahr. Er betreibt das Aramäisch-maronitische Zentrum und die erste Schule in Aramäisch in Jish (Gush Halav), die vom israelischen Bildungsministerium finanziert wird.
Shadi Halul, ein früherer Sprecher  der kleinen
Gruppe von Christen, die freiwillig in die israelische Armee gingen, hat
vor kurzem  die Genehmigung für die erste aramäische Schule in seinem
Dorf Jish, nördlich von Nazareth erhalten .


Als ich ihn in seiner Wohnung traf, hat er ärgerlich verleugnet, dass
er ein Araber sei, und sagte, die muslimischen Eroberer  hätten  im 7.
Jahrhundert die arabische Identität in der Gegend  aufgezwungen.

„Wir sind Aramäer, aber die meisten haben unsere wahre Identität
vergessen, weil sie uns  Jahrhunderte verboten war“, sagt er. „Der erste
Kampf der Christen,

 wird sein, dass sie ihre Geschichte und Sprache lernen“.

Nach seiner Ansicht können Christen in dieser Region  nur an der
Seite von Israel existieren, wenn beide Juden  und Christen am Einfluss
gewinnen, wenn sie  Aramäisch sprechen. Die Wiedergeburt dieser Sprache
ist der Schlüssel zur Befestigung dieses Bündnisses.

„ Wir müssen   wie ein Wolf sein, um in dieser Region zu leben“, sagt er. „Wir müssen in der Lage sein, uns zu verteidigen“.

In Nazareth hat solch ein Denken eine kleine aber wachsende Gruppe
vehementer Anhänger gefunden. Die überhaupt erste palästinensische
christlich-zionistische politische Partei wird bald in der Stadt
entstehen. Ihr Hauptziel, außer Christen in die Armee zu rekrutieren,
ist, eine große Statue von Jesus zu bauen , nach der von Rio de Janeiro,
am Stadteingang.

Khalil Haddad, ein christlicher Reiseführer und Restaurantbesitzer,
der ein prominenter Kritiker von Halul und seinen Nachfolgern ist,
fürchtet, dass mit der Zeit solche Ideen an Boden gewinnen. Er weist auf
das Paradox, dass diese Christen zu Loyalität zu Israel zu einer Zeit
aufrufen, in der sie unter allgemeinem Angriff leben – nicht von ISIL
oder ihren muslimischen Nachbarn -, sondern von ihrer eigenen Regierung
und von jüdischen Extremisten.

Im letzten Sommer  erklärte Israel gegen 50 kirchliche Schulen Krieg,
zog den größten Teil der Geldmittel ab und zwang Lehrer und Schüler –
meine eigenen auch – zum Streik. Gleichzeitig verübten jüdische
Fanatiker einen Anschlag  auf die berühmte Brotvermehrungskirche in
Tabgha am Galiläasee in der ernstesten Welle der Rache –Angriffe auf
muslimische und christliche  heilige Stätten  der letzten zwei Jahre.

Netanjahu, sagt Haddad, will die neue aramäische Nationalität dazu
benützen, den Christen Privilegien anzubieten, die den Muslimen
verweigert werden, um so weiter Misstrauen zu säen.

Auch das Verbot durch Israel  des nördlichen Zweigs der Islamischen
Bewegung im letzten Monat – so glaubt er –  könnte  teilweise
beabsichtigt gewesen sein, das Gefühl der Kluft zwischen „guten
Christen“ und „schlechten Muslimen“ zu stärken.

 „Christen und Muslime haben jahrhundertelang gemeinsam in Harmonie
gelebt“, sagt er, „die Sorte  konfessionell geprägten Konflikts, die
Netanjahu kultiviert, wird Israel zu gute kommen und uns schaden“.