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Kalabrien: Solidarität mit den Flüchtlingen


von Antonietta Chiodo, Pressenza,
26.11.2015, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. Fotos von Antonietta Chiodo.
Ich befinde mich in Crotone, Kalabrien, in einer Stadt
in Süditalien, die am meisten von den Flüchtlingsbooten betroffen ist. Es ist
eine Gegend, in der die Bewohner gelernt haben, dass es jeden Tag zu einem Notfall
kommen könnte, der die Bürger in den Hafen ruft. Ich bin im Wissen
hierhergekommen, dass die Würde des Menschen und die Bemühungen der letzten
Zeit ein fruchtbarer Boden für die Politik und auch die Missverständnisse sind.
Für mich war es wichtig zu verstehen, was nach dem „Management“ der Ankunft
eines Bootes geschieht. Das italienische Rote Kreuz, Provinzkomitee von
Crotone, hat mich in seiner Struktur aufgenommen, in der ich mich wie eine
Schwester 48 Stunden aufhielt. Sie haben mir alles anvertraut und mich dabei
unterstützt, alle Fragen zu beantworten, auf die die Menschen, die nicht in
diesen Orten leben, keine Antwort finden können. 

Die Bevölkerung von Kalabrien fragt sich oft, warum
man, wenn man sich auf diese Region bezieht, nicht die Liebe bemerkt, die am
Hafen zwischen den Olivenbäumen und dem Schiffsfriedhof entsteht.
Unweit von meiner Unterkunft befindet sich der Straße
entlang ein Flüchtlingslager, das von Privatleuten geleitet wird und mehr als
1.200 Flüchtlinge unterbringt. Die Bewohner von Crotone und Umgebung wissen
sehr wohl, was das Wort sbarco (zu Deutsch Landung) bedeutet. Für sie
ist die Solidarität ein allgemeines Gefühl, das mit Toleranz und Notfall zu tun
hat. Und genau diesen Notfall müssen die Mitarbeiter des Roten Kreuzes managen.
Und ihr Engagement ist geradezu zur Gewohnheit geworden. Die Flüchtlingslager
befinden sich in verschiedenen Stadtvierteln. Sie sind weit voneinander
entfernt. Alle haben verschiedene Notfälle und unterschiedlichen Situationen,
worunter vor allem die unbegleiteten Minderjährigen, die auf bürokratischer und
auch menschlicher Ebene am schwierigsten zu managen sind und somit am meisten
Aufmerksamkeit brauchen.


Der technische Verantwortliche der Landungen, Sergio
Monteleone, weist darauf hin, dass es zwei Kategorien von Landungen gibt: die
„geplanten“ und di „nicht geplanten“ Landungen. Sie unterscheiden sich auf der
Grundlage von zwei Hauptfaktoren: die geplanten werden aufgefangen und manchmal
von Militärschiffen oder in manchen Fällen von den Booten von Ärzte ohne
Grenzen in den Hafen geführt. So wird dem Team die Gelegenheit geboten, sich innerhalb
von 24-36 Stunden zu organisieren. Der nicht geplanten Landung, die oft nachts
gemanagt werden muss, geht immer ein Anruf voraus, der meistens gegen 4 Uhr
morgens mit dem „epischen“ Sätzchen Sorry, wenn ich dich störe, eingeht
und auf einen direkten Notfall hinweist. Wir vom Team müssen somit schnell aus
dem Bett steigen und uns mitten in der Nacht von unseren Familien
verabschieden, um uns zum Hafen zu begeben. Wir wissen in dem Moment überhaupt
nichts von dem, was hier gleich geschehen wird. 
Das Gefühl von Machtlosigkeit und die körperliche
Erschöpfung übermannen uns manchmal, vor allem, wenn wir uns in Grenzfällen vor
einem Schiff befinden, auf dem sich sogar tausend Leute befinden. Bisher hat
das Italienische Rote Kreuz (CRI) die Ankunft von 7.000 Flüchtlingen gemanagt.
Sie hat gegen Malaria, Räude, Tote und einsame Kinder gekämpft, die alleine die
verzweifelte Reise in die Erlösung antreten und dann mit warmen Decken von den
Helfern aufgenommen werden. In ihren Geschichten berichten die CRI-Mitarbeiter
von Operationen, die im Regen und bei sengender Sonne bis zu 12 Stunden dauern.
Die Mitarbeiter der Ersten Hilfe geben den Flüchtlingen Notfallpakete mit
thermischen Decken, Wasser, Hausschuhen, einem Snack und bieten ihnen natürlich
medizinische Versorgung an. Natürlich geht nicht immer alles gut aus. Denn es
gibt Tote, die in den Gewässern geborgen werden müssen, wenn die Hoffnungsboote
beispielsweise gegen die Klippen stoßen.

Fabio, der kulturelle Vermittlers des Zentrums Farina
für Minderjährige ohne Begleitung von Crotone erzählt mit einem Lächeln: Einmal
war ich vor Ort und hatte nicht einmal die Zeit zu überlegen, womit ich
anfangen sollte. Meine Kollegen packten mich in einen Krankenwagen und gaben
mir ein phantastisches Bündel in die Hand. Neben mir befand sich eine
schwangere Frau. Ich war total verwirrt. Alles geschah so schnell. Ich hielt
das Baby in meinen Armen und wartete, bis sein Brüderchen auf die Welt kam. Das
war ein unglaubliches Erlebnis.
Nach einigen Stunden wiegte Fabio ein anderes Bündel
in seinen Armen. Er erzählt seine Erfahrung so voller Emotionen, dass einem so
viele Gefühle in den Sinn kommen und gleichzeitig auch ein komischer und
undefinierbarer Schmerz im Magen hochkommt.

Die Organisation während des Managements der Landung
des Schiffes ist extrem komplex. Es werden alle vor Ort verfügbaren Ressourcen
aktiviert, inklusive des Deutschen Roten Kreuzes, der Gemeinde, des Hafenamtes,
der Feuerwehr und der Finanzwache. Nicht immer kann alles gemanagt werden. Denn
es gibt oft makabre Überraschungen, wie beispielsweise bei der Landung, bei der
150 Leute an Bord erwartet wurden. Das Team hörte aber während der Operationen,
wie unter seinen Füßen Menschen von unten auf den Boden schlugen. Zu Beginn
verstand man nicht, worum es sich dabei handelte. Die Mitarbeiter des Roten
Kreuzes baten ihre Kollegen von der Feuerwehr, den Boden des Bootes mit Schneidbrennern
aufzubrechen. So befreiten sie 400 Migranten, die von Hunger, Durst und
Sauerstoffmangel zerstört waren. Sie befanden sich in einem äußerst schmutzigen
Stauraum, der jeden Traum mit Füßen tritt und alles, was die Menschheit bis zu
dem Zeitpunkt je geschaffen haben, zerstört. Nach einigen Minuten sahen sie den
Transport des Leichnams einer schwangeren Frau namens Malli Gullu. Der
Journalist Bruno Palermo, der sich bei jeder Landung unter den ersten befindet,
die zur Stelle sind, erzählt voller Emotionen diese Geschichte, die ihn seit
langer Zeit prägt. Diese Frau ist für die Bewohner von Crotone zum Symbol des
Traums und der Freiheit geworden. Diesen Traum erkämpfte sich diese äußerst
mutige Mutter, die alle ihre Ängste hinter sich ließ, aber leider am Ende den
Tod fand. 
Das Rote Kreuz von Crotone hat es in diesen Jahren
möglich gemacht, den Menschen nicht nur zum Zeitpunkt ihrer Ankunft ihre Würde
zurückzugeben, sondern auch ihre Persönlichkeit zu schützen und wieder
aufzubauen. Die Zentren für Minderjährige und auch die für Erwachsene bieten
die Möglichkeit, zu bestimmten Zeiten auszugehen, um dann zum Abendessen ins
Zentrum zurückzukehren. Die Minderjährigen, die in diesen Zentren untergebracht
sind, erhalten auch schulische Bildung. Es handelt sich um unbegleitete
Minderjährige, die somit während der Reise der Hoffnung ganz alleine auf den
Booten gelassen wurden. Sie hoffen auf die Rettung vom Krieg und Elend und ein
besseres Leben. Die Minderjährigen, die aus verschiedenen Regionen stammen,
stellen somit auch eine Herausforderung für das Zusammenleben zwischen verschiedenen
Religionen und Sitten und Bräuchen dar. Die Kinder erhalten Telefonkarten. Auf
diese Weise wird versucht, sie mit ihren Familien in Verbindung zu bringen.
Manchmal läuft aber nicht alles nach Plan. Einige Minderjährige klettern über
die Zäune der Zentren und verschwinden ins Nichts. Wie der Rechtsanwalt für den
Schutz der Minderjährigen erklärt, setzt ihr Verschwinden in einer Kleinstadt
wie Crotone voraus, dass sie auf Fahrzeuge geladen werden, um dann eine weite
Reise anzutreten. Um das von den Minderjährigen erklärte Alter zu überprüfen,
führt man oft eine Röntgenaufnahme am Handgelenk aus, um ihr biologisches Alter
zu bestimmen, da sie ohne Dokumente an Bord der Boote kommen.


Kalabrien ist eine große Stütze für die Europäische
Gemeinschaft. Bisher wurde Crotone immer schon vergessen und vollkommen
ausgeblendet. Allein in Crotone wurden 7.000 Flüchtlinge aufgenommen. In Reggio
Calabria waren es 12.000 und in Vibo 8.000.
Der Staat hat diese Region vollkommen vergessen. Die
Mitarbeiter des Roten Kreuzes erhalten seit April 2015 nicht mal ihren Lohn,
aber sie setzen sich weiterhin unermüdlich in ihren Rettungsaktionen ein.

Die Zentren für Erwachsene erlauben den Gästen, die
einen Asylantrag gestellt haben, zwischen 8 und 23 Uhr auszugehen. Sie müssen
nur pünktlich zu den drei Mahlzeiten des Tages eintreffen. Sie dürfen den
internen Waschsalon nutzen und haben immer ein sauberes Zimmer zur Verfügung,
das sie mit anderen Gästen teilen.
Der Kommissar des Italienischen Roten Kreuzes, Dottor
Francesco Parisi, vertraut sich mir an:  „Italien ist kein rassistisches Land. Wir sind
ein gastfreundliches Volk. Die Kultur des Verdachtes der ersten Republik
überzeugt aber bis heute den Bürger, der von Brot und Fernsehen lebt, dass es
in der Migration immer etwas Kriminelles geben muss. Er leitet somit davon ab,
dass die Migration nur ein Geschäft ist.“ 
Auf den Friedhöfen finden sich so viele Kreuze. Nicht
alle Gräber sind mit Blumen geschmückt. Denn einige Tote wurden vergessen.
Niemand kommt vorbei, um sie zu grüßen. Hier über dem Kai liegt eine meditative
Stille. Der kalte Wind streichelt diesen November 2015. Seit einigen Tagen sind
die Wellen ruhig. In der Nacht spiegelt sich der Mond ruhig im Meer. Alles
schweigt in Erwartung anderer Gesichter und andere Blicke voller gestohlener
Schönheit und voller Hoffnung und bedingungsloser Liebe. Andere wiederum
wissen, dass mitten in der Nacht ein Anruf kommen und sich jemand für die
Störung entschuldigen wird.