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Israel ist schon ein bi-nationaler Staat, und zwar schon seit langer Zeit

von Gideon Levy, Haaretz, 13. Dezember 2015.


Gideon Levy جدعون ليفي גדעון לוי 
Übersetzt von  Ellen Rohlfs اِلِن رُلفس
Herausgegeben von  Milena Rampoldi میلنا رامپلدی  –  Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي

Die Debatte muss sich nun verschieben. Die Verkündigungen über die „zwei Staaten“ und den „jüdischen Staat“ müssen ihr Ende nehmen. Denn nun geht es darum, die Sache gerecht zu gestalten.

Ein Demonstrant hält eine Flagge, die wie eine israelische Flagge aussieht, doch mit den palästinensischen Farben entworfen ist, während er gegen die  neuen Sparmaßnahmen  demonstriert,  die  in Israels Budget von 2013-14  eingeschlossen wurden.

Die Angst, der Schrecken, die Abneigung und der Widerstand, den die Einstaatenlösung in jedem zionistischen Israeli hochkommen lässt, sind nachvollziehbare Emotionen. Sie sind die Spuren von 120 Jahren Zionismus und 120 Jahren Kampf gegen das palästinensische Volk mit allen Ängsten, allem Hass und der ganzen Ideologie, Propaganda und Gehirnwäsche.  Außerdem verheißen die zeitgenössischen Präzedenzfälle vom Balkan bis Nordirland nichts Gutes. Die Einstaatenlösung ist der schlimmste der Dämonen, der zur Mutter aller Katastrophen führt, und zwar zur  Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge.
Intifadas, Kriege, Terror, Tyrannei, Bürgerkrieg und Armageddon verblassen  vor dem Terror, den die Idee einer bi-nationalen Demokratie in das israelische Herz schlägt. Denn die Rückkehr ist die absolute Apokalypse.
So ist es, wenn die Mitglieder der benachbarten Nation als unmenschlich angesehen werden. So ist es, wenn man im Schatten eines Traumas lebt, das jemand dafür sorgt, zu pflegen, zu vergrößern und dessen Auswirkung zu verdrehen. Daraus folgt, dass ein bi-nationaler Staat als Einladung zum Selbstmord angesehen wird. Mit einem solchen Start ist jede Veränderung der Denkweise weit weg. Dieses Israel wird nie  die Palästinenser freiwillig als Bürger mit gleichen Rechten akzeptieren. Und wir können dem Ministerpräsident vertrauen, dass er seinen Beitrag dazu leisten wird: In der letzten Woche antwortete Benjamin Netanjahu deutlich US–Außenminister John Kerrys Weltuntergangswarnungen  mit der folgenden, entschlossenen Äußerung: „Israel wird kein bi-nationaler Staat sein“.
Wenn der Premier sagt, Israel wird kein bi-nationaler Staat sein, dann wird er es natürlich auch nicht sein. Da gibt es nur eine Kleinigkeit aus dem Reich der Fakten: Israel ist seit mehr als 48 Jahren schon ein bi-nationaler Staat. Es gibt keine andere Art und Weise ihn zu beschreiben: denn ein Staat, der zwei Nationen regiert, ist bi-national. Es gibt auch keine Anzeichen, dass sich diese Situation ändern wird. Und so wird die Kampagne der Panikmache wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Es wird sich herausstellen, dass die Katastrophe schon hier ist und es gar nicht das Ende der Welt ist. In Basel gründete Theodor Herzl den jüdischen Staat; 70 Jahre später, 1967 kam er ans Ende und wurde ein bi-nationaler Staat. Den größten Teil seiner Geschichte war Israel somit ein bi-nationaler Staat. Der schreckliche  Dämon ist demzufolge schon Realität.
Vielleicht ist der Teufel gar nicht so schrecklich. In der grausamsten, ungerechtesten Situation, die man sich vorstellen kann – in der ein bi-nationales Israel ein Apartheid-Regime in den (besetzten)  Gebieten hält, das seine arabischen Bürger diskriminiert, sind die erschreckenden Prophezeiungen nicht wahr geworden. Da gibt es keinen Bürgerkrieg, keine Massaker im jugoslawischen Stil. Alle paar Jahre gibt es einen Aufstand, alle paar Jahre gibt es einen kleinen Krieg. Israel lebt mit dem Schwert; es ist nicht das Ende der Welt, gewiss nicht in seinen eigenen Augen. Um wie viel schlechter  könnte es mit dem Bi-Nationalismus werden, wenn er demokratisch wird? Und warum soll der Staat nicht jüdischen Charakter haben, was immer dies bedeutet; warum soll er nicht in einer bi-nationalen Demokratie erhalten werden, neben dem nationalen Charakter der zweiten Nation?
Befürworter der Einstaatenlösung versuchen es mit der Unterbreitung einer verrückten Vorschlages, der im Aufbau eines gerechten Regimes, einer egalitären Demokratie für alle und nicht nur für Juden besteht. Das ist die ganze Geschichte, die ganze Katastrophe. Der Hintergrund dazu  ist eine andere Entwicklung, die zunehmend in Israel und darüber hinaus Anerkennung findet: die Vergeblichkeit der Alternative. Es gibt immer noch Leute, die sich mit der Idee der Zweistaatenlösung amüsieren, ob aus Trägheit, oder einem Wunsch, irreführend zu sein, um den Status quo zu erhalten. Und da gibt es Leute, die denken, es wäre möglich einen palästinensischen Staat zu errichten, und Gerechtigkeit auch jenseits der 1967er-Grenze walten zu lassen, ohne all die Siedlungen zu evakuieren und ohne das Flüchtlingsproblem zu lösen. Und das wäre absoluter Wahnsinn. Es hat nie eine israelische Regierung gegeben, die an solch eine Lösung glaubte. Der Beweis ist, dass keiner jemals ernstlich den Bau der Siedlungen stoppte, deren ganzer Zweck war, solch einer Option vorzubeugen.
 Der Weg ist lang und steil, aber die Debatte muss sich endlich verschieben, mindestens für die Wenigen, die gerne in einem gerechteren Staat leben möchten. Sie müssen aufhören, die „Zweistaatenlösung“ und den „jüdischen Staat“ zu verkünden und anfangen, über die Realität zu sprechen. Denn die Realität ist seit langer Zeit die eines bi-nationalen Staates. Nun haben wir die Aufgabe, diesen Staat gerecht zu gestalten. Dies ist viel weniger schrecklich und gefährlich als jegliches andere Szenario.