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Die syrische Spur: Paris, Damaskus, Berlin

German Foreign Policy, 16 November 2015.
Nach den Pariser Terroranschlägen
vom vergangenen Freitag verfolgen die französischen Ermittler eine
“syrische Spur”. Es spreche einiges dafür, dass die Täter einen
Hintergrund in den Terrorstrukturen hätten, die sich im Verlauf des
Syrien-Krieges in dem Land festsetzen konnten, urteilen Experten. Der
Terror in Syrien, der seit der Jahreswende 2011/2012 Suizid-Anschläge
mit Dutzenden Toten hervorbringt, ist vom Westen, auch von Deutschland,
weithin ignoriert worden, weil er sich gegen den gemeinsamen Gegner
Bashar al Assad richtete. Dabei fielen ihm bereits in der ersten
Jahreshälfte 2012 mehr Menschen zum Opfer, als in diesem Jahr bei den
schrecklichen Attentaten in Frankreich getötet wurden. Enge Verbündete
der Bundesrepublik, insbesondere Saudi-Arabien und die Türkei,
finanzierten Terrorstrukturen wie den Al Qaida-Ableger “Al Nusra-Front”
und den “Islamischen Staat” (IS) und leisteten ihnen logistische Hilfe.
Die Chance, im Syrien-Krieg zu einer Verhandlungslösung zu kommen und
damit dem entstehenden Terror das Wasser abzugraben, wurde auch von
Berlin in der ersten Jahreshälfte 2012 vergeben. Genutzt hat dies
Organisationen wie der Al Nusra-Front und dem IS, die systematisch
erstarken konnten – und den Terror nun nach Europa tragen.

Aus den Kampfzonen

Nach den Terroranschlägen vom vergangenen Freitag in
Paris, durch die mindestens 132 Menschen zu Tode kamen und mehr als 350
teils schwer verletzt wurden, verweisen mehrere Spuren auf einen
Hintergrund der Täter in Syrien. Das gilt nicht nur für das
Bekennerschreiben des “Islamischen Staats” (IS) und auf Äußerungen der
Mörder, die sich auf Syrien bezogen. Bereits am Samstag hat der
französische Untersuchungsrichter Marc Trévidic hervorgehoben, dass die
Täter den Umgang mit Waffen und Sprengstoff perfekt beherrschten. Die
Sprengstoffgürtel etwa seien nicht leicht herzustellen; auch müsse man
wissen, wie man sich mit ihnen bewege, ohne sie vorzeitig zur Explosion
zu bringen. All dies erfordere genaue Kenntnisse. “Die Leute, die aus
den Kampfzonen in Syrien und im Irak zurückkehren, sind dafür
ausgebildet”, hielt Trévidic fest.[1] Einer der Pariser Täter ist
Berichten zufolge wohl tatsächlich im Winter 2013/14 in Syrien
gewesen.[2] Zwei weitere stammen möglicherweise von dort. Es “beginnt
sich abzuzeichnen”, dass das Massenverbrechen vom Freitag von Tätern
begangen worden sei, “von denen die Mehrheit aus den Kampfzonen in
Syrien kam”, heißt es in der französischen Presse.[3] Dabei handelt es
sich nicht nur um eine Marginalie.


Suizid-Anschläge en masse
Denn den blanken Terror, der Paris jetzt zum zweiten
Mal in diesem Jahr getroffen hat, haben die Staaten der EU und
Nordamerikas in Syrien jahrelang faktisch toleriert – und damit dazu
beigetragen, dass er sich festsetzen und quasi professionalisieren
konnte. Erste Suizid-Anschläge mit Dutzenden Toten wurden in dem Land um
die Jahreswende 2011/2012 verübt. So sprengte sich etwa ein Attentäter
am 6. Januar 2012 im Damaszener Stadtviertel Al Midan neben mehreren
Polizeibussen in die Luft, als dort gerade Proteste gegen die Regierung
Assad stattfanden. Der Anschlag zielte darauf ab, die Proteste weiter zu
radikalisieren; 26 Menschen – mehrheitlich unbeteiligte Zivilisten –
kamen dabei ums Leben. Die damals in Gründung befindliche Al Nusra-Front
reklamierte die Täterschaft für sich. Weitere Suizid-Anschläge folgten,
so etwa einer am 10. Mai 2012 im Damaszener Stadtteil Al Qazzaz, bei
dem 55 Menschen getötet und rund 400 verletzt wurden, die meisten von
ihnen Zivilpersonen. Erneut bekannte sich Al Nusra zu der Tat. Bereits
damals waren in Syrien mehr Menschen bei Suizid-Anschlägen von
Jihadisten zu Tode gekommen als dieses Jahr in Frankreich, und die Zahl
der Opfer nahm rasch weiter zu. Eine Verurteilung der Anschläge, die
auch nur annähernd mit den Reaktionen auf die jüngsten Pariser Mordtaten
vergleichbar gewesen wäre, blieb im Westen jedoch aus.


“Keine Extremisten”
Stattdessen räumten einige deutsche Medien den mit
Terroranschlägen gegen den gemeinsamen Feind Assad kämpfenden Jihadisten
zuweilen sogar Raum zur Rechtfertigung ihrer Anschläge ein. “Wir
kämpfen und wir beten, aber wir sind keine Extremisten”, zitierte die
Online-Ausgabe der Wochenzeitung “Die Zeit” im August 2012 einen
Kommandeur des Al Qaida-Ablegers “Al Nusra-Front”. Befürchtungen, es
könne in Syrien zu einer “Radikalisierung” des Aufstandes kommen, seien
völlig fehl am Platz. “Wir haben jahrelang an der Seite von Minderheiten
gelebt”, erklärte der Al Nusra-Kommandeur; in Syrien würden andere
Religionen deshalb auch in Zukunft toleriert: “Lasst uns das Land
regieren und urteilt dann über uns”. Allerdings seien im Kampf gegen die
Regierung Assad Suizid-Anschläge völlig legitim: “Wenn wir eine
Autobombe zünden, denken wir, dass es gerechtfertigt ist”, äußerte der
Al Nusra-Mann.[4]


Ein tödliches Spiel
Darüber hinaus wurden Organisationen wie Al Nusra und
der spätere “Islamische Staat”, während sie die Taktik ihrer
Suizid-Anschläge perfektionierten, im gemeinsamen Kampf gegen Assad von
den wichtigsten regionalen Verbündeten der Bundesrepublik unterstützt.
Vor allem Saudi-Arabien förderte sie finanziell und mit Waffen. “Das
gesamte Geld”, über das syrische Milizen verfügten, komme “aus
Saudi-Arabien und Qatar, und das gesamte Geld geht an die Salafisten und
Islamisten”, wurde schon Ende 2012 ein kurz zuvor desertierter
Hauptmann der syrischen Streitkräfte zitiert.[5] Die saudische
Unterstützung für Al Nusra gleiche derjenigen, die Riad in den 1980er
Jahren den Mujahedin in Afghanistan habe zukommen lassen, kritisierte
Anfang 2013 ein saudischer Menschenrechtler.[6] Die Türkei habe
ebenfalls von Anfang an “das gesamte Spektrum der Gruppen, die für
Assads Sturz kämpften, unterstützt – von der moderaten Opposition bis zu
extremistischen Fraktionen wie Al Nusra und ISIS”, hielt im Juni 2014
die renommierte US-Zeitschrift Foreign Affairs fest. Das Land sei “ein
Hauptkanal für den Zustrom von Menschen, Waffen und logistischer
Unterstützung” vor allem für Al Nusra geworden.[7] Warnungen vor der
Beihilfe für Terrorstrukturen waren selten, aber es gab sie durchaus.
US-Stellen müssten Druck auf Staaten wie Saudi-Arabien und die Türkei
ausüben, die die größte Verantwortung für die Förderung von Al Nusra
trügen, kommentierte im Dezember 2012 die New York Times: “Wie sehr sie
Assads Sturz befürworten mögen, sie spielen ein tödliches Spiel, indem
sie Ableger von Al Qaida stärken, einer Vereinigung, die zwar geschwächt
ist, sich aber dennoch dem globalen Jihad verschrieben hat”.[8]


Kein Kompromiss
Dabei hätte es 2012 wohl die Chance gegeben, den
eskalierenden Syrien-Krieg einzudämmen und einer politischen Lösung
zuzuführen. Wie der ehemalige Präsident Finnlands, Martti Ahtisaari, vor
kurzem berichtet hat, trug ihm Ende Februar 2012 der Botschafter
Russlands bei den Vereinten Nationen, Witali Tschurkin, einen Vorschlag
für einen Interessenabgleich zwischen Russland und dem Westen in Sachen
Syrien vor. Demnach war Moskau damals bereit, Assad zu Verhandlungen mit
der syrischen Opposition zu zwingen, wenn der Westen im Gegenzug die
Bewaffnung des Aufstandes unterlasse bzw. unterbinde; Russland könne
sogar “einen eleganten Weg für Assad zum Rückzug finden”, wird
Tschurkins damaliges Angebot zitiert. In der Hoffnung, den Absturz
Syriens in den Krieg verhindern zu können, sprach Ahtisaari – ein
erprobter Vermittler aus dem Kosovo-Konflikt – bei den UN-Botschaften
der USA, Großbritanniens und Frankreichs vor, blitzte dort aber ab: Die
westlichen Mächte “waren überzeugt, dass Assad in wenigen Wochen sein
Amt verlieren” werde und man auf einen Kompromiss nicht angewiesen sei,
berichtet der einstige finnische Präsident.[9] Berlin bereitete damals
die syrische Exilopposition auf die Übernahme der Macht in Damaskus
vor.[10] Die Terroranschläge von Al Nusra trugen aus westlicher Sicht
dazu bei, Assads Sturz zu beschleunigen. Eine Reaktion wie diejenige auf
die Attentate in Paris blieb daher aus.


Aus dem Ruder gelaufen
Die Strategie ist nicht aufgegangen. Am Wochenende
sind in Wien unter Beteiligung des Westens Verhandlungen über den
Syrien-Krieg fortgesetzt worden, deren Stoßrichtung dem russischen
Vorschlag vom Februar 2012 nicht unähnlich ist. Zu den zahllosen
syrischen Kriegsopfern, deren Tod womöglich hätte verhindert werden
können, hätte der Westen sich schon 2012 auf eine Einigung eingelassen,
gehören diejenigen, die durch Suizid-Anschläge ähnlich den Attentaten in
Paris ihr Leben verloren. In Syrien ist seit Februar 2012 nicht nur Al
Nusra erstarkt, sondern auch der Islamische Staat (IS), der dieselben
Ursprünge wie Al Nusra hat (german-foreign-policy.com berichtete [11]).
Der jihadistische Terror, dessen Träger in Syrien nicht nur vom Westen
toleriert, sondern von dessen Verbündeten sogar energisch gefördert
wurden, um Assad zu stürzen, beginnt nun aus dem Ruder zu laufen und
sich gegen die westlichen Mächte zu wenden. Nebenbei: Wie Entstehung und
Erstarken von Usama bin Ladin und seiner Organisation Al Qaida seit den
1980er Jahren in Afghanistan zeigen, geschieht dies nicht zum ersten
Mal.
 


[1] Le juge Marc Trévidic: “Leur haine ne va pas s’arrêter là”. www.lefigaro.fr 14.11.2015.
[2] Simon Piel, Laurent Borredon: Attaques de Paris: Ismaël Omar
Mostefaï, l’un des kamikazes français du Bataclan. www.lemonde.fr
15.11.2015.
[3] Christophe Cornevin: Attentats de Paris: les enquêteurs sur la piste “syrienne”. www.lefigaro.fr 15.11.2015.
[4] Daniel Etter: Bei den Islamisten von Aleppo. www.zeit.de 20.08.2012.
[5] Jonathan S. Landay, Hannah Allam: U.S. might name Syrian rebel Nusra
Front a foreign terrorist group. www.mcclatchydc.com 04.12.2012.
[6] Reese Erlich: With Official Wink And Nod, Young Saudis Join Syria’s Rebels. www.npr.org 13.03.2013. S. auch Vormarsch auf Bagdad.
[7] Karen Leigh: Turkey’s Bleeding Border. www.foreignaffairs.com 24.06.2014.
[8] Al Qaeda in Syria. www.nytimes.com 10.12.2012.
[9] Julian Borger, Bastien Inzaurralde: West “ignored Russian offer in
2012 to have Syria’s Assad step aside”. www.theguardian.com 15.09.2015.
S. dazu Zynische Optionen.
[10] S. dazu The Day After, The Day After (II), The Day After (III) und The Day After (IV).
[11] S. dazu Vom Westen befreit.