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Demokratie ohne Demos

von Dr. Tamar Amar-Dahl, http://katapult-magazin.de/de/artikel/artikel/fulltext/demokratie-ohne-demos/


Ein moderner Staat
bezieht sich immer auf das Volk, das innerhalb seiner Grenzen lebt. In
Israel ist das nicht so. Warum der Zionismus die israelische Demokratie
schwächt, wird erklärt von
TAMAR AMAR-DAHL

Der
Staat Israel als Produkt der zionistischen Bewegung vom Ende des 19.
Jahrhunderts versteht und definiert sich auch 66 Jahre nach dessen
Errichtung als ein “jüdischer und demokratischer Staat”. Die immanente
Spannung in der Definition eines im Sinne des zionistischen Projekts
anzustrebenden jüdischen Staates im Lande Israel und gleichzeitig eines
am Westen orientierten demokratischen Staatsmodells zeigt sich bereits
in seinem Gründungsdokument. So heißt es in der Unabhängigkeitserklärung
vom 14.5.1948 zu Aufgaben und Grundsätzen des gegründeten jüdischen
Staates:

“[…] Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und
der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung
des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf
Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten
Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von
Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische
Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit,
Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen
Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der
Vereinten Nationen treu bleiben.”1


Diese Zeilen skizzieren das Spannungsfeld zwischen der im zionistischen
Projekt steckenden Aufgabe der “Judaisierung” von Eretz Israel und dem
Anspruch des neuen Staats auf demokratische und liberale Werte.
Universalistische Begriffe wie “Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden”
will die Unabhängigkeitserklärung von 1948 kompatibel sehen mit der
jüdisch-nationalen Staatsräson des demografischen Wandels des Landes.


Das zionistische Projekt soll sich auf liberale Grundsätze stützen und
sich gleichzeitig auf biblische Quellen der “Visionen der Propheten
Israels” berufen. Die Unabhängigkeitserklärung wird häufig als
liberal-demokratische Grundlage für das Zusammenleben jüdischer und
palästinensischer Staatsbürger gesehen. Doch der “Jewish Code”2 bleibt nach wie vor die Grundsäule Israels. 



Unterschiedliches Demokratieverständnis
Seit
den 80er und 90er Jahren debattiert die israelische Forschung über die
korrekte Bezeichnung der Verfasstheit ihres Staats. Die traditionelle
Forschung beruft sich auf die Unabhängigkeitserklärung, wenn sie das
israelische Staatswesen als eine liberale Demokratie bezeichnet: Die
Autoren lassen sich dabei in drei Kategorien einordnen; in die
unkritischen, die moderaten und die kritischen Autoren. Die unkritischen
Autoren betonen das “demokratische” Element im Selbstverständnis des
“jüdischen und demokratischen Staates” und bezeichnen dessen
Verfasstheit als eine liberale3 oder konstitutionelle Demokratie,4 aber auch als eine Konkordanz-Demokratie.5 Moderate Autoren sehen eher den “jüdisch-ethnischen” Aspekt und verstehen Israel als eine “ethnische Demokratie”6 oder gar als eine “jüdische Demokratie” beziehungsweise “Theo-Demokratie”.7
All diese Forschungsmeinungen gehen im Prinzip davon aus, dass das
israelische Staatswesen grundsätzlich ein demokratisches sei.


Diese Annahme teilen auch relativ kritische Forscher, die auf erhebliche
Defizite dieser Demokratie hinweisen, obwohl sie nur das Kernland
Israel, das heißt, das Gebiet in den sogenannten
Waffenstillstandsgrenzen von 1949-1967, zu ihrem Untersuchungsgegenstand
machen. Die kritischen Autoren insistieren hingegen darauf, das ganze
Gebiet Palästina/Eretz Israel sei für die Frage der politischen
Verfasstheit relevant, da der Staat Israel in diesem Raum seit 1967 fast
durchgängig die politisch-militärische und sozioökonomische
Vorherrschaft ausübe.


Diese Autoren kommen aus zwei Erwägungen zu dem Schluss, dass der
israelische Staat kaum als Demokratie bezeichnet werden könne: Zum
einen, weil das Land seine Politik der “Judaisierung des Landes” zur
Staatsräson erklärt habe. Zum anderen, weil diese Politik die
Lebensbedingungen der Nichtjuden – in den besetzten palästinensischen
Gebieten ist die Rede von einer “nicht-eingebürgerten Bevölkerung” –
beständig einschränke.


Diese Forschungsrichtung verwendet in Bezug auf Israel Begriffe wie “eine Mischform aus Demokratie und militärischer Besatzung”,8 “Ethnokratie”,9 “Herrenvolk-Demokratie”10 oder auch “Apartheid”11.
Wie ist Israels Verfasstheit also korrekt zu bezeichnen? Dass der
Zionismus als Staatsdoktrin die politische Ordnung Israels geprägt hat
steht außer Frage. Inwiefern? Und was bedeutet das für die Verfasstheit
Israels? Das zionistische Projekt strebt im Sinne Theodor Herzls “einen
jüdischen Staat” an. Dieser sollte wiederum offen für das jüdische Volk
sein, das aus der Diaspora in seine Heimat geholt und nationalisiert
werden soll.

Der Zionismus sieht also ausschließlich Juden als Mitglieder des Staatsvolkes.



Judaisierung als Staatsräson
Der
Zionismus sieht also ausschließlich Juden als Mitglieder des
Staatsvolkes. Das gewählte Territorium fiel schon Anfang des 20.
Jahrhunderts auf Palästina, im Hebräischen “Eretz Israel”. Israels
Staatsräson orientiert sich von Anfang an bis zum heutigen Tage an
diesem zionistischen Verständnis, es ist daher die Rede vom
zionistischen Israel.12 Israels
Bevölkerungspolitik sieht sich folglich der Aufgabe der “Judaisierung
des Landes” verpflichtet: Landeroberung, Einwanderung, Siedlung und
Sicherheit gehören zu den Grundsätzen der israelischen Politik. Doch in
Anbetracht der de facto binationalen Realität in Palästina bleibt
Israels politische Ordnung strukturell-immanent konfliktträchtig.


Auch 66 Jahre nach der Staatsgründung und trotz eines bitteren Konflikts
um Palästina steht die zionistische Ausrichtung des Staats nicht
wirklich zur Disposition. Im Gegenteil: Seit einigen Jahren wird
versucht, die de facto existierenden Strukturen festzulegen. Die Debatte
über die Rolle des jüdischen Volkes im Staat Israel wird immer wieder
neu entfacht.13



Zionismus schließt Kompromisse aus
Wie
viel Demokratie kann also das zionistische Israel verkraften? Diese
Frage richtet sich nach den Kompromissen, die Israel bereit wäre, zu
machen: Es könnte an der Staatsdefinition als “jüdischer Staat” ansetzen
oder an der Frage des Staatsvolks, sprich dem “in aller Welt
zerstreuten, zu nationalisierenden jüdischen Volk”. Oder wäre Israel
sogar bereit, den Palästinensern territoriale Zugeständnisse zu machen
und damit auf den “Mythos von Eretz Israel als Land des jüdischen
Volkes” zu verzichten? Da das politische Israel zu keinem dieser
Kompromisse bereit ist, bleibt das zionistische Erbe weiterhin
bestimmend für die politische Ordnung und Kultur. Historisch gewachsen
ist daher eine “zivilmilitarisierte Demokratie” oder “Demokratie in
Waffen”. Denn der Konflikt um das Land ist schließlich aufs Engste an
den Konflikt in der Region Nahost gekoppelt.


Damit einhergehend ist die historisch gewachsene Zivilmilitarisierung
der Gesellschaft. In der Konsequenz des andauernden Kriegszustands
etablierte sich im Laufe der Jahre ein Glaubensgrundsatz. Diesem zufolge
stelle die Sicherheit den Garanten für die Existenz des jüdischen
Nationalstaates dar. Dieser Glaubensgrundsatz wird auch als
“Sicherheitsmythos” bezeichnet.14


Der in der israelischen politischen Ordnung etablierte Sicherheitsmythos
basiert auf einer aus der jüdischen Leidens- beziehungsweise
Verfolgungsgeschichte erwachsenen Auffassung der Unauflösbarkeit der
feindseligen Verhältnisse zwischen den Juden und den Nicht-Juden. Für
das moderne Israel bedeutet das, die militärische Macht
aufrechtzuerhalten und auch immer wieder einzusetzen. Der Nahostkonflikt
und der permanente Kriegszustand seit 1948 hat Israels politische
Verfasstheit grundlegend geprägt. Diese muss permanente Kriege
verkraften. Die israelische Armee rüstete sich zur regionalen
Militärmacht auf.


Die Sonderstellung des Militärs und der Sicherheitsapparate in dieser
Ordnung ist längst etabliert. Israels zivilmilitarisierte Demokratie
beinhaltet auch, dass die israelische Gesellschaft den ganzen Komplex
der Sicherheitspolitik dem Staat und seinen Gewaltapparaten übertragen
hat. Diese gelten dabei als ausschließliche Autorität für Sicherheit.
Die Konsequenz ist das Paradox einer schwachen Gesellschaft und eines
starken Staates: Israels zivilmilitarisierte Demokratie ist ein Resultat
der Entpolitisierung der Sicherheit und schließlich auch eines der
Entpolitisierung des Konflikts. Die Folge: Nicht die politische Lösung
wird angestrebt, sondern die militärische Kontrolle.


Für das politische Israel bleibt der Konflikt mit den Palästinensern ein
notgedrungener Preis für den als unverzichtbar begriffenen jüdischen
Nationalstaat im Lande Israel. Es ist deshalb davon auszugehen, dass das
zionistische Israel immer weniger Demokratie im herkömmlichen Sinne
verkraften wird – ja, es wird sich diese irgendwann nicht mehr leisten
können.




[1] Vgl. URL: http://www.hagalil.com/israel/independence/azmauth.htm, 26.3.2015.
[2]
Der Begriff “Jewish Code” umfasst im Kern die selbstverständliche, der
politischen Ordnung des Staats zugrundeliegende Gleichstellung von
Religion und Nation. Er beinhaltet auch die Auffassung des jüdischen
Volkes als Subjekt des Staates. Den Begriff hat der israelische
Soziologe Baruch Kimmerling Anfang der 1990er Jahre geprägt.
[3] Neuberger, Benyamin: Democracy in Israel: Origins and Development,Tel Aviv 1998.
[4] Eisenstadt, Shmuel N.: The Transformation of Israeli Society, London 1985.
[5] Horowitz, Dan; Lissak, Moshe: Trouble in Utopia: The Overburdened Polity of Israel, New York 1990.
[6]
Smooha, Sammy: Ethnische Demokratie: Israel als Proto-Typ, in: Genosar,
Pinchas; Bareli, Avi (Hg.): Zionismus: Eine zeitgenössische Debatte,
Israel 1996, S. 277-311.
[7] Kimmerling, Baruch: Religion,
Nationalismus und Demokratie in Israel, Zmanim 50-51, Historische
Zeitschrift der Tel Aviver Universität, S. 116-131, Tel Aviv 1994.
[8]
Azoulay, Ariella; Ophir, Adi: This Regime Which Is Not One: Occupation
and Democracy between the Sea and the River (1967 – ), Stanford 2011.
[9]
Yiftachel, Oren: “Ethnocracy”: The Politics of Judaizing
Israel/Palestine, in: Constellations. An International Journal of
Critical and Democratic Theory, New York (6)1999, H. 3, S. 364-390.
[10]
Benvenisti, Meron: The West Bank Data Project 1987 Report: Demographic,
Economic, Legal, Social and Political Development in the West Bank,
Jerusalem 1987.
[11] Davis, Uri: Apartheid Israel, Possibilities for the Struggle Within, London/New York 2003.
[12] Amar-Dahl, Tamar: Das zionistische Israel. Jüdischer Nationalismus und die Geschichte des Nahostkonflikts, Paderborn 2012.
[13] Harel, Israel: Wer hat Angst vor dem Grundgesetz: Jüdischer Nationalstaat?, in: Haaretz (30.05.2013).
[14] Amar-Dahl 2012, S. 224-231.