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Weibliche Herrscherinnen im Islam: Fatma Bike im Khanat von Kasim (15)


by Milena Rampoldi von ProMosaik e.V. – Auch diese letzte Sultanin herrschte im heutigen Russland in einem im 15. Jahrhundert von Ulugh Muhammed, dem Khan der Goldenen Horde und Kazan gegründeten Khanat. Nach ihrem Tod wurde das Khanat von Russland annektiert.
Das
Khanat von Kasim, das sich 250 km südöstlich von Moskau in der Region des
Flusses Oka befindet, wurde 1445 von Ulugh Muhammed, dem Khan der Goldenen
Horde und Kazan, gegründet. Im Jahre vor seiner Gründung, d.h. 1444, hatte
Ulugh Muhammed die Tore von Moskau bedrängt und hatte dann im folgenden Jahr
den Bey von Moskau, Vasili, verhaften lassen. Da dieser letztere alle von Ulugh
gestellten Bedingungen akzeptiert hatte, wurde er befreit, und viele türkische
Funktionäre regierten russische Städte, um die Kriegs- und Jahressteuern zu
erheben; so wurden die Einnahmen gewisser Städte den türkischen Beys
überlassen. Die wichtigste Konsequenz dieser Vereinbarung bestand in der
Gründung eines Khanats in den Grenzgebieten von „Moskova Knazligi“, das Reich
von Kasim, das der Sohn von Ulugh Muhammed beherrschte.
 Qolsärif Moschee in Kasim
Dieses
Khanat, dessen Struktur auf der der finnischen und türkischen Stämme basierte,
führte eine völlig andere Politik als die des Staates der Goldenen Horde, denn
es verfolgte das Ziel, direkt in die internen Angelegenheiten von Moskau
einzugreifen und die Verteidigung gegen die externen Angriffe zu gewährleisten.
Das Beylikat von Moskau musste dem Khanat von Kasim gewisse Privilegien im
Bereich seiner Grenzen wie dem von Kazan, das von Ulugh Muhammed gegründet
worden war, zuerkennen. Die Klauseln der Vereinbarung, die von Moskau nicht
geschätzt wurden, führten zu Meutereien, und am Ende verlor der Bey von Moskau.
Er endete mit ausgestochenen Augen. Kasim hatte inzwischen eingegriffen, um ihn
erneut auf den Thron zu bringen und hatte sogar Kämpfe gegen seinen Rivalen
Semaka geführt; er hatte die Wettbewerber von Ulugh Muhammed außer Gefecht
gesetzt. Auf diese Weise wurde die Zielsetzung, die mit der Gründung des
Khanates von Kasim verfolgt wurde, erreicht.


Kasim
wurde durch seinen Sohn Danyal (1468-80) ersetzt, der an der Kampagne von
Novgorod teilgenommen hatte. Nach seinem Tod verlor die Familie von Ulugh
Muhammed den letzten ihrer Nachfolger. Nur Devlet, die Tochter eines der Khans
von Krim namens Gazi Guiray, wurde durch den Eingriff der Regierung von Moskau zur
Herrscherin des Khanats bestellt. Um auf diese Freundschaftsgeste von Moskau zu
antworten, verwüstete und plünderte Nur Devlet die Städte der Goldenen Horde.
Immer
wegen der russischen Intrigen nahm Satilgan, der Sohn von Nur Devlet, 1491-1506
an den Kriegen gegen die Goldene Horde und das Khanat von Kasim teil. Nach
Satilgan, hatte Djanay, der letzte Sprössling dieser Familie, den Thron inne.
Nach Djanay folgte Scheich Avliyar der Familie von Estirhan, der 1510 zum Khan
ernannt wurde und 1516 den Thron bestieg. Schah Ali, sein Nachfolger, führte
ein abenteuerliches Leben. Die Khans von Kasim, die zu Beginn die Steuern von
Moskau erhoben und während der Zeremonien wie unabhängige Herrscher behandelt
wurden, nahmen nun den Rang der russischen Vasallen an, die den Zaren von
Moskau untertan waren. Um die Gunst des Zaren nicht zu verlieren, nahm Nur
Devlet an der Ausrottungspolitik gegen die Goldene Horde teil und zerstörte und
plünderte mehrere Städte.
Die
Ernennung von Schah Ali im Jahre 1557-8 zum Oberbefehlshaber der russischen
Streitkräfte, die Litauen angriffen und sein pompöser Empfang nach seinem Sieg,
sind der Beweis dafür, dass die Khans von Kasim sehr wohl den Befehlen aus
Moskau Folge leisteten.
Als
Schah Ali 1567 verstarb, wurde sein erster Cousin Sayin Bulat zum
Thronnachfolger in Kasim. Sayin Bulat, der auch an den Feldzügen nach Schweden
und Estland teilgenommen hatte, wurde 1571-2 entthront, da er sich 1573 zum
Christentum konvertiert und den Namen Semen (258) angenommen hatte.
Als
Ivan IV., der „Schreckliche“, sein Reich auf der Tyrannei gegründet hatte,
hatte er das Land in zwei Verwaltungseinheiten (Opricina und Zemscina)
aufgeteilt; er hatte den ersten Teil unter seine Herrschaft gebracht und sich
den Titel des Zaren und Herrschers von Moskau verliehen. Den anderen Teil übergab
er Semen Bik-Bulat, indem er ihm den Titel des Zaren und Großherrschers von
ganz Russland verlieh (1575-7). Gegen Lebensende war Semen oder Sayin Bulat Priester
geworden und nannte sich „Pater Stefan“.
In
den Jahren nach 1600 hatte die Familie, welche den Thron von Kasim innehatte,
den Platz einer anderen überlassen, und zwar wurde der Kasache Uraz Muhammed
zum Khan von Kasim ernannt. Bereits 1588 hatte Quraz als Prinz von Kazak an den
Zeremonien teilgenommen und hatte sich neben die Regierung von Moskau gestellt.
Sein Besuch in dieser Stadt im Jahre 1601 und sein Empfang in den den
Herrschern reservierten Zeremonien und die Tatsache, dass er immer als
unabhängiger Herrscher in den Empfängen der ausländischen Botschafter angesehen
wurde, waren nur protokollierte Gesten von Russland, um dem Osmanischen Reich, das
zu der Zeit sehr mächtig war und die türkischen Muslime einschloss (258), einen
Freundschaftsdienst zu erweisen,.
Im
Jahre 1609 wurde Uraz, der an den Kriegen, die zwischen Zar Visili und Dimitri
II. ausgebrochen waren, in den Hinterhalt geholt und 1610 infolge einer auf
einer Lüge aufgebauten Anklage getötet.
Nach
diesem Ereignis gab die Herrscherfamilie des Khanats von Kasim ihren Platz
einer anderen Familie, und der Sohn des Khan Ali aus Sibirien namens Arslan
(Alparslan) erhielt den Thron (1614-1627). Zur Zeit von Arslan wird erkannt,
dass die Verantwortlichkeiten, welche die Khans von Kasim auf sich genommen
haben, nur mehr für die Gesellschaftsschichten der Türken gelten; der Zar
erteilt den russischen Gouverneuren, die er in Kasim ernannt, sogar das Recht,
die Khans zu kontrollieren und ihre Beziehungen zum Ausland zu beaufsichtigen.
1627 übernahm Arslan Khans Sohn, Seyyid Burhan, nach dem Tod seines Vaters, den
Thron. Da er noch ein Kind war, wurden seine Mutter Fatma Sultan und sein
Großvater Ak Muhammed zu seinen Vormunden. Fatma Sultan stammte über ihren
Vater Seyyid Ak Muhammed, der einer der wichtigsten Ulema von Kasim war (260),
von der Familie von Schah Kul ab. Sehr bald zeigte die geduldige und
durchdachte Politik der Russen ihre Wirkungen auf Seyyid Burhan. Die russische
Regierung schlug Seyyid Burhan vor, die Tochter des Zaren zu heiraten, und dies
unter der Voraussetzung, dass er sich vorab zum christlichen Glauben
konvertierte. Fatma Sultan wies das Angebot aufgrund des jungen Alters von
Seyyid Burhan zurück und meinte, man sollte noch warten, bis er das Alter
erreicht hätte, in dem er selbst entscheiden konnte. Auf einen Befehl von 1633
an den Gouverneur von Kasim ließ der Zar Seyyid Burhan nach Moskau zu ihm
rufen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Seyyid Burhan dazu gedrängt wurde, an
den pompösen religiösen Zeremonien der Orthodoxen teilzunehmen.
Zwanzig
Jahre später wiederholte Seyyid Burhan seinen Besuch beim Zaren Alexisa in
Moskau und kurz darauf verzichtete er auf seine Religion, um zum Christentum
überzutreten. Die Tatsache, dass Seyyid Burhan trotz seiner Konvertierung zum
Christentum immer noch in der Lage war, das Khanat von Kasim anzuführen,
beweist einerseits die geringe Bedeutung, welche die Außenpolitik von Moskau
diesem Lande zusprach und andererseits die Entwicklung ihrer
Russifizierungspolitik über das Christentum, die durch Moskau in diesem Khanat geführt
wurde. Dieselbe Politik, die bei den Finnen, die teilweise an den Schamanenkult
gebunden waren, ihre Erfolge erbracht hatte, hatte kein gutes Ergebnis bei den
türkischen Muslimen erzielt (261). Diesbezüglich berichtet uns Veljaminov
Zernov (III., S. 461), dass das Khanat von Kasim, das sich dank dem Islam
erhalten konnte, zur Zeit von Seyyid Burhan (Vasili Arslanovitch) bis zu einem
gewissen Punkt dazu beigetragen hatte, das Heidentum zu unterdrücken. Diese
Worte von Zernov überzeugen keineswegs, wenn man die folgende Tatsache berücksichtigt:
der Erzbischof von Ryazan, der sich große Mühe gemacht hatte, um die Muslime zu
christianisieren, stieß auf eine Meuterei der türkischen Muslime und wurde 1656
(262) getötet.
Auf
einem Grabstein in Kasim steht dieser Vers, der den moralischen Druck auf die
Muslime zum Ausdruck bringt: „Als sich Jesus Christus ihrer Gotteslästerungen
bewusst wurde, sagte er zu ihnen: welche werden meine Begleiter sein, um zu
Gott zu gelangen? Wir sagen, die Apostel. Wir haben an Gott geglaubt. Bezeuge,
dass wir Muslime sind“ (Koran III, 52).
Bis
1677 findet sich der Name Seyyid Burhan in gewissen Dokumenten. Abgesehen davon
kann man sagen, dass er bis 1679 geherrscht hatte. Im selben Jahr bestieg Fatma
Sultan Bike, trotz ihres hohen Alters, den Thron von Kasim. Diese Haltung der
russischen Regierung, d.h. diese Anerkennung zu ihren Gunsten aller Rechte
ihres Sohnes war irgendwie der Ausdruck des Respektes, der ihr entgegengebracht
wurde.
Nach
dem Zeitalter dieser Herrscherin, welche die letzte war, die über den Thron von
Kasim herrschte, berichtet die Geschichte nicht mehr so viel von diesem Khanat
wie früher, da die Autorität dieses Reiches nicht mehr vorhanden war. Dennoch
legen ein oder zwei Dokumente von Zernvo aus dem Jahr 1681 (III., S. 484)
genauer dar, dass Fatma Sultan die Steuern erheben ließ, was ihre Souverenität
belegt. Fatma Sultan ist ihr wahrer Name. Nach ihrer Eheschließung mit dem
Sultan wurde sie „Fatma Sultan Begum“ genannt. Da sie auch von der Familie von
Seyyid abstammte, fügte man „Seyyidovna“ ihrem Namen hinzu, um sie ganz einfach
die „Zarine Sultanin Seyyidovna“ (263) zu nennen. Die Jahre ihres Reiches sind
uns nicht bekannt. Aber die Tatsache, dass man ihren Namen nach 1861 nicht mehr
in diesen Dokumenten vorfindet und ihr Alter schon zu diesem Zeitpunkt ziemlich
fortgeschritten war (264), lässt darauf schließen, dass sie nach diesem Datum
nicht mehr lange gelebt haben muss. Es wird berichtet, dass sie in der Stadt
von Kasim in einem Grab bestattet wurde, das ihren Namen trug und als Grabdenkmal
von zwei Etagen errichtet worden war. Heute finden sich hier nur wenig Trümmer,
die ein wenig weiter vom Grab von Afgan liegen.
Der
Grund wofür die Russen das Reich von Fatma Sultan gerne sahen und sie als
unabhängige Herrscherin anerkannt hatten, besteht zweifelsohne darin, dass sich
ihr Sohn zum Christentum konvertiert hatte.
Das
Khanat von Kasim, das seinerzeitig zu einem sehr wichtigen Zweck gegründet
wurde, war daraufhin zu einer fortgeschrittenen, türkischen Zittadelle
geworden, die von den Russen gegen die Türken genutzt wurde. Nach dem Tode von
Fatma Sultan Bike wurde dieses Khanat von Russland annektiert. Dadurch wurde
seine Geschichte von 236 Jahren beendet. Die Türken des Staates von Kasim
hatten eine sehr wichtige Rolle in der Expansion des Moskauer Russland gespielt
und hatten auf diese Weise die Niederlassung zahlreicher mongolischer und
türkischer Stämme in diesen Gegenden begünstigt.
Die
Türken von Kasim sprachen einen türkischen Dialekt, der dem von Kazan
nahestand. Die Anzahl der Türken, die in der Hauptstadt von Kasim (Khan Kirman
oder Gorodets) (265) lebten, sank fortlaufend.