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Permanente traumatische Belastungsstörung in Gaza


Die Palästinenser in Gaza leben im
„größten Freiluftgefängnis der Welt“ und leiden unter einem fast permanenten
Zustand traumatischer Belastung.

In einem
Haaretz-Artikel vom Juli, in dem  an den ersten Jahrestag der
israelischen Operation Protective Edge (2014) erinnert
wird, bei der in nur 51 Tagen im Gazastreifen mehr als 2250 Palästinenser
(einschließlich 500 Kinder) getötet wurden, zitiert der Journalist Khaled
Diab den palästinensischen Psychologen Dr. Hasan Zayada vom
Gesundheitsprogramm Gaza Community Health-Programme (GCHP): „Gaza hat
vielfältige Verluste erlitten, die wir multiple traumatische Verluste nennen.
Menschen an andern Orten erleiden gewöhnlich einen einzigen Verlust: den
Verlust des Hauses, eines Familienmitgliedes oder einer Arbeitsstelle. Viele
Menschen in Gaza haben hingegen all dies auf einen Schlag verloren.“


Und
während die posttraumatische Belastungsstörung oft im Mittelpunkt von
Diskussionen über die psychologischen Nachwirkungen des Konfliktes steht,
fasst Diab die Beobachtungen verschiedener Experten wie folgt zusammen: „Über
post- oder prä-traumatische Phänomene zu sprechen, ist sinnlos, denn das
Trauma ist konstant und dauerhaft“.
Dr. Zeyada
bietet nicht nur den Opfern des dauerhaften, von Israel verursachten Traumas
eine professionelle Betreuung an, sondern kennt das Trauma auch persönlich zu
gut. Im letzten August berichtete die New York Times von seinem „neuen, herausfordernden
Patienten: sich selbst“. Sechs nahe Familienmitglieder des Psychologen,
einschließlich seiner Mutter, waren gerade durch einen israelischen
Luftangriff ums Leben gekommen.
Die
Operation Protective Edge endete am 26. August 2014. Aber die Diagnose des
kollektiven psychologischen Leidens auf dem palästinensischen Küstenstreifen
hat kein Ende und dient dazu, den fassbareren Schmerz zu verschlimmern, der
durch den regelmäßigen, israelischen Abwurf großer Waffenmengen auf
Zivilisten verursacht wird.
Unterdessen kann
das konzentrierte psychische und physische Niederschmettern, das der
Bevölkerung des Gazastreifens auferlegt wird, als eine Art psychologischer
Kriegsführung angesehen werden, die das Ziel verfolgt, die
palästinensische Identität und den existentiellen Willen der
Palästinenser auszulöschen.
Israel und
sein internationaler Fan-Club lieben es, über die angeblichen israelischen
Bemühungen zu quasseln, während militärischer Angriffe zivile Opfer zu
vermeiden, und zwar mit viel Getue über Telefonanrufe an palästinensische
Nummern und durch abgeworfene Warnzettel, die die Bewohner auffordern,
gezielte Gebiete zu verlassen. Aber mit dieser Art von „Verteidigung“ gibt es
viele Probleme.
Zum einen
werden solche Warnungen oft nicht zeitgemäß ausgeführt, wie im Falle von Dr.
Zeyadas eigener Familie. Zum anderen hat Israel nie großes Zögern beim
Bombardieren von Zivilisten – einschließlich Kindern – gezeigt, die Israel
selbst dazu aufgefordert hat, ihre Häuser zu verlassen.
Ein
anderes Problem betrifft die Tatsache,  dass es einfach nicht klar ist,
wo die Leute in einem so winzigen und dicht bevölkerten Gebiet
hingehen sollen, dessen Bewohnern es nicht erlaubt ist, in irgendeine
Richtung zu fliehen. Die israelische Tradition, Schulen und Krankenhäuser zu
bombardieren, hilft sicher zu stellen, dass es in Gaza eben keinen sicheren
Platz gibt – eine Realität, die sich weder für die physische noch mentale
Ausgeglichenheit eignet.
 
Die
Bombardierung der wesentlichen Grundlagen der palästinensischen Gesellschaft
steht in einem vollkommenen Widerspruch zum behaupteten Ziel, Opfer unter der
Zivilbevölkerung zu vermeiden. Und für jene Zivilisten, denen es gelingt, der
physischen Vernichtung zu entgehen, ist es umso schwerer, nicht auf der Liste
der psychologischen Opfer zu stehen.
Ein
UNICEF-Bericht vom 15. Februar 2015 mit dem Titel „Sechs Monate nach der
Feuerpause befinden sich die Kinder von Gaza noch immer in der Falle des
Traumas“ berichtet von der Geschichte zweier junger palästinensischer
Mädchen, deren Vater getötet wurde, als eine israelische Artilleriegranate
eine von der UN geführte Schule traf, wo die Familie Schutz gesucht hatte.
Die Mädchen wurden durch Granatsplitter getroffen und ihr Haus wurde
zerstört.
Nach der
Operation Protective Edge, weigerte sich eines der Mädchen über Monate, in
die Schule zurückzukehren. Ihre Mutter erklärt: „Meine Kinder wurden in der
Schule verletzt. Sie sahen Verletzte ohne Hände oder ohne Beine, mit
verletzten Gesichtern und Augen. Sie sahen, wie ihr Vater umkam. Für sie ist
die Schule kein sicherer Ort mehr.“
 
Der
UNICEF-Artikel berichtet, dass sehr viele Kinder in Gaza „ psychologische und
pädagogische Unterstützung brauchen, um ihr Leben erneut zu bewältigen“. Da
während der letzten Angriffe aber mindestens 281 Schulen beschädigt wurden,
gestaltet sich dies sehr schwierig. „Dazu kommt, dass auch die Lehrer
traumatisiert sind“,  so der Bericht.
Vergessen
wir die alte Frage: Wer wird die Wächter bewachen? Wer wird sich um die
Betreuer von Gaza, wie Dr. Zeyada, kümmern oder um die Erzieher und andere
Menschen, die in völlig anderen Umständen als Pfleger von gesunden
Gesellschaften gelten würden? Im Gazastreifen ist schließlich keiner immun
vor Israels lähmenden Raubzügen.
Laut dem
Artikel in der New York Times über Dr. Zeyadas Wandel vom Trauma-Arzt zum
Trauma-Opfer bekannte er, dass er sich manchmal ethische Sorgen darüber
machte, „Menschen zu betreuen, die wahrscheinlich wieder traumatisiert
werden“.  Über diese beunruhigende Stellung äußert sich der Psychologe
wie folgt: „Man ist wie ein Gefängnisarzt, der ein Folteropfer behandelt und
den Gefangenen heilt, damit er dann wieder verhört und gefoltert werden
kann“.
Dass Dr.
Zeyadas Metapher wirklich zutrifft, hat nicht nur damit zu tun, dass der
Gazastreifen als „das größte Freiluftgefängnis der Welt“ bezeichnet wird. Es
liegt auch daran, dass ein Palästinenser im Gazastreifen zu sein, heißt,
mehr oder weniger in einem Dauerzustand von traumatischem Stress zu
leben, der oft psychische Folter gleichkommt.
 

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