General

Exodus 2015: Wir möchten den Europäern das Gedächtnis auffrischen Die ungarische Flüchtlingswelle von 1956


by Fausto Giudice, übersetzt von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V.

Aus den Reaktionen der Behörden,
der Streitkräfte, der Polizei und Medien der europäischen Balkanstaaten
gegenüber dem Flüchtlingsstrom aus Syrien, Irak, Afghanistan und Afrika, kann
man wohl schließen, dass dieses andere Europa ein sehr ausgeprägtes Kurzzeitgedächtnis
hat. Diese Länder vergessen nämlich, dass sie vor kurzem (für die Griechen
gilt das bis heute) in Massen aus ihren Ländern geflohen sind, um ihre
Freiheit und ihr Leben zu retten. Eine der großen Flüchtlingswellen im Europa der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die der Ungarn. Mit dieser
Übersetzung aus der Zeitschrift Population, Nr. 2, 1957, S. 343-345 möchten
wir deren Gedächtnis auffrischen.
1956: Aufnahme der ungarischen
Flüchtlinge in Österreich… 
 
 … und in der Schweiz

 

2015 : die sogenannte Aufnahme
der syrischen, irakischen und afghanischen Flüchtlinge in Griechenland
Aufnahmen vom 11. August 2015 im
Sportstadium der Insel Kos. Der Mann mit dem Schlagstock ist ein Polizist.


Foto Yorgos Karahalis/AP


Foto Angelos Tzortzinis/AFP vía Getty Images

Vom 28.
Oktober 1956 bis zum 06. März 1957, d.h. in nur 130 Tagen, nahm Österreich 170.822
ungarische Flüchtlinge auf, die aus ihrem Land flohen, wo die sowjetischen
Tanks eine Revolution unterdrückten. Dies entspricht einer Anzahl von 1.314
Flüchtlingen pro Tag. Am 6. März 1957 wurden 118.000 dieser Flüchtlinge aus
Österreich in andere nicht-sozialistische Länder umverteilt. Das Zwischenstaatliches Komitee für
europäische Auswanderung
, auf das wir uns hier im Folgenden beziehen,
wurde 1951 von den europäischen Regierungen ins Leben gerufen, um Länder zu
finden, die 11 Millionen Kriegsvertriebene aufnehmen können. Es organisierte
den Transport von ungefähr einer Million Migranten im Laufe der fünfziger
Jahre. Im Jahre 1980 wurde die Organisation in zwischenstaatliches Komitee für Migration (CIM) umbenannt und
1989 in seinen aktuellen Namen, Internationale
Organisation für Migration
(IOM).
Frage: Warum sollte, was 1956-57 für fast 200.000
Flüchtlinge im „kleinen Europa“ jener Zeit, das gerade noch mit der Gründung
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beschäftigt war, möglich war, heute
nicht für 50.000 Flüchtlinge möglich sein, die aus den Grenzen des
Kontinenten des „großen Europas“ von 2015 (28 Länder, 550 Millionen Einwohner)
stammen?
DIE UNGARISCHEN FLÜCHTLINGE
Eine
Pressemitteilung des Zwischenstaatlichen
Komitees für europäische Auswanderung
vom 7. März 1957  vermittelt uns den Eindruck der Probleme,
die durch die ungarischen Flüchtlinge entstanden sind, und liefert uns einige
Elemente, um die Situation zum Zeitpunkt der Pressemitteilung einzuschätzen
(3).
Zwischen 28.
Oktober 1956 und 6. März 1957 fanden 170.822 Ungarn Zuflucht in Österreich;
zwischen Ende Oktober und 7. November (Datum, zu dem sich das Zwischenstaatliches Komitee für
europäische Auswanderung
, auf Anfrage der österreichischen Regierung,
bereit erklärte, den Transport dieser Flüchtlinge in andere Länder zu
übernehmen), waren 15.000 Flüchtlinge nach Österreich gekommen; die Zunahme
dieser Abwanderung ließ eine weitere Flüchtlingszahl von 80.000 innerhalb
Ende November erwarten (man erzielte zu diesem Zeitpunkt die tägliche
Höchstanzahl mit knapp über 8.500 Eintragungen).
Am 6. März
1957 wurden 118.000 Flüchtlinge aus Österreich in andere nicht-kommunistische
Länder umverteilt. 4.300 hatten sich in Österreich angemeldet, um hier zu
arbeiten; 3.600 weitere waren auf eigene Initiative nach Ungarn
zurückgekehrt; somit bleiben 40.000 für die Weiterverteilung.
 
Rhythmus der Umverteilung: Zwischen 7. November 1956 und 28.
Februar 1957 gestaltete sich der Umverteilungsrhythmus wie folgt:

  
Die
Evakuierungen waren ab Mitte November bis Jahresende besonders zahlreich. Ab
jenem Zeitpunkt nahm der Rhythmus, auch aufgrund finanzieller
Schwierigkeiten, ab. Das Zwischenstaatliche
Komitee für europäische Auswanderung
gewährleistete oder unterstützte 94%
dieser Bewegungen. Die folgenden Zahlen vermitteln einen Eindruck des Umfangs
der Mission, deren Herausforderung sich diese Organisation in Österreich
stellte: das Team der Mission umfasste im Oktober 1956 noch 40 Menschen. Im
Januar 1957 waren es bereits 250. Im Laufe der Monate November und Dezember
arbeitete das Team dieser Mission 18 Stunden pro Tag, einschließlich der Sonntage.
Die Gastländer
Die
folgende Tabelle zeigt in absoluten Zahlen und pro Einwohner die Anzahl der
zum 6. März 1957 aufgenommenen Flüchtlinge.
In der
ersten Spalte werden die Länder nach der absteigenden Anzahl der
aufgenommenen Personen kategorisiert. Diese Aufteilung erscheint aber völlig
anders, wenn man diese Zahlen mit der Bevölkerung des Gastlandes vergleicht.
An den
ersten Stellen stehen die Staaten mit wenigen Millionen Einwohnern: Schweiz,
Israel, Kanada und Schweden. Westdeutschland ist das einzige dicht bevölkerte
Land in Europa, das unter allen Staaten mehr als 500 Flüchtlinge pro Million
Einwohner aufnimmt. Im Verhältnis zu ihren Bevölkerungen nahmen die
Vereinigten Staaten und Frankreich wenige Flüchtlinge auf, ein Ergebnis, das
ihre restriktive Haltung im Bereich der Migrationspolitik wiederspiegelt. Die
Vereinigten Staaten ließen im Gegenzug dem Zwischenstaatlichen
Komitee für europäische Auswanderung
eine große finanzielle Unterstützung
(von mehr als 5 Millionen Dollar) zukommen.
  

Für einige
Länder übersteigt die endgültige Anzahl der angenommenen Flüchtlinge um
vieles die in der oben angeführten Tabelle angegebene Zahl. Denn sie
entschieden, die Zahl der Aufnahmen zu erhöhen: das Kontingent erreicht
10.000 für Australien, 6.000 für Schweden und 1.500 für Venezuela. Das
Vereinigte Königreich überschritt auch die zu Beginn festgelegte Anzahl der
aufzunehmenden Flüchtlinge; Deutschland nahm 10% der gesamten Flüchtlinge
auf; Kanada verpflichtete sich, insgesamt zwischen 25.0000 und 28.000
Flüchtlinge aufzunehmen (es war vorgesehen, diese Gesamtzahl innerhalb von
weniger als drei Monaten zu erreichen). Des Weiteren ließ Kanada dem Zwischenstaatlichen Komitee für
europäische Auswanderung
eine Unterstützung von mehr als 3 Millionen
Dollar zukommen.

Ein Teil der Flüchtlinge, die sich in Europa befanden, zögerten, sich
endgültig niederzulassen und hofften auf eine Entscheidung des Kongresses
bezüglich der Abweichung vom System der Quoten. Daraus folgte eine gewisse
Fluktuation. Die ungarischen Behörden gaben im April die Rückkehr der
Flüchtlinge bekannt. Man kennt aber keine Zahlen.

(3) CIME, Pressemitteilung Nr. 211
– See more at:
http://tlaxcala-int.org/article.asp?reference=15788#sthash.YuItZux3.dpuf