Das bange Hoffen auf die Katastrophe
Wir wissen, was uns droht. Aber sich zu ändern, ist schwierig. So die Hirnforschung. Bleibt nur die Katastrophe als Lehrmeisterin?
Foto von Ingrid Nestle
Das Jahr hat sich noch nicht festgelegt. Und es wird auch nichts dazu zu sagen haben, für wen es ein fettes oder ein mageres, ein trauriges oder ein fröhliches, ein gemütliches oder ein stürmisches werden wird. In den Niederungen ist dieser Winter noch kein Schnee gefallen, die Krokusse lauern schon unter der Erde, die Vögel verbreiten erste Frühlingsgefühle, wir sitzen mit offenen Jacken in der Sonne und verpflegen uns aus Rucksäcken. Etwas unterhalb der Zürcher Scheidegg. An einem Waldrand. In herbstdürrem Gras hockend. Mit Blick in die Alpen. Abseits des sonntäglichen Touristenstroms. Immerhin finden wir, oben angekommen, im Restaurant vier freie Plätze. Auch Vermicelles gibt es noch. Bevor wir uns aufmachen, nach Wald abzusteigen – was etwas gar gebirglerisch klingt –, speichere ich die Eigernordwand ab. Gezoomt und digitalisiert. Augenblick, verweile doch. Dann fallen – wenn die Erinnerung mich nicht täuscht – zmittst in den beschaulichen Januartag Sätze, die ich nicht zum ersten Mal höre. «Ich glaube nicht mehr daran, dass diese Frage demokratisch, ohne Zwang gelöst werden kann.» Die Klima-, die Umweltfrage. Aber auch bei anderen Bedrohungen verhindern SehnsüchteBedürfnisseInteressen «der Menschen» das Notwendige. Nur – wer genau, wenn nicht die zu langsame Demokratie, definiert dann, was getan werden muss?
Es ist noch üblich, sich «e guets Nöis» zu wünschen, als Gerhard Roth im Gespräch mit Nadja Pastega von der SonntagsZeitung festhält: «Es ist schwierig, uns zu ändern» (5.1.2020). Selbst jedes Rattenhirn frage sich: «Ist es gut, etwas Neues zu tun?» So der Hirnforscher. Ihm und seinen Fachkolleg*innen wird ja in diesen Zeiten mindestens so sehr geglaubt wie früher dem Pfarrer. «Die Leute» wüssten zwar, dass wir uns wegen des Klimawandels verändern müssten, täten es aber real nicht. Das liege in der «Logik unseres Verhaltens». Und es sei grundsätzlich auch ganz gut, dass unsere Gehirne den Wandel nicht liebten, «sonst würden wir uns pausenlos verändern». Für Umgestaltungen brauche es folgende drei Faktoren: «Der Leidensdruck muss hoch sein, die Belohnung für die Veränderung ebenfalls, und drittens muss man sehr geduldig sein, denn sich zu verändern dauert.»
Im Sagenraintobel drängt sich dann die Katastrophe – am liebsten eine kleinere – in unser Gespräch. Oder wird, genau genommen, aus der (volks)pädagogischen Mottenkiste gezerrt. Die Katastrophe als Lehrmeisterin oder, eben, als Leidensdruck. «Den Leuten» gehe es einfach noch zu gut. Wurde unter uns Linken zuweilen geklagt. Wenn es mit Revolte und Revolution nicht so recht vorwärtsgehen wollte. Gute alte Verelendungstheorie. Weil «die Menschen», die anderen, sonst nicht begriffen. Wie stark müssen die Fahnen im Wind flattern, bis wir verstehen? Warten sie auf den Ernstfall, auf die ganz grosse Katastrophe? Wer nicht hören will, muss fühlen. Und wie immer macht mir das Hoffen auf Katastrophen Angst. Angst um mein gemütliches Leben. Und wer würde sie überleben? Wer nicht? Wer würde den Preis für die Lektion, die «den Menschen» erteilt werden würde, bezahlen? Sind wir nicht alle, insgeheim, ganz froh, dass es, bisher, nicht dazu gekommen?
Ich glaube mich zu erinnern, der Philosoph Peter Sloterdijk habe vor vielen Jahren die Denkfigur der Katastrophe als Lernfeld in die Debatten der Achtzigerjahre, nach Tschernobyl und vor dem grossen, dem Big Bang, eingeführt. Ich finde das Buch nicht in meinen Gestellen, schliesslich – dank diesem verdammten Amazon – in einem deutschen Antiquariat. Tage später liegt es auf meinem Tisch. Der Titel ist zugleich die Überschrift von Sloterdijks Beitrag: «Wieviel Katastrophe braucht der Mensch?» Das gesuchte Zitat finde ich noch vorher auf der Festplatte meines Computers im Text einer Radiosendung beziehungsweise eines Artikels von mir («AIDS – die willkommene Seuche»): «Wer auf eine erhellende Katastrophe setzt, erwartet von dem Eklat der Explosion, er möge wie eine Warnleuchte Einsicht verbreiten. Die Warnkatastrophe soll selber die Katastrophenwarnung sein. Wer gemäss dieser Logik zu Ende denkt, schliesst mit einer panischen Tautologie: erst der reale Weltuntergang ist die vollkommene Warnung vor dem Weltuntergang» (Peter Sloterdijk).
Wenige Wochen später wird sie da sein und die Skisaison vorzeitig beenden. Die Katastrophe. Mit dem fremden Namen: Corona. Und noch bevor die Toten begraben sein werden, hoffen einige auf die alte Pädagogin. Jetzt würden «die Leute» hoffentlich begreifen. Endlich. Und die Flieger für immer vom Himmel holen. Zum Beispiel. Aber wissen sie es nicht längst, «die Leute», was uns droht? Treibt sie die nackte Angst in ihre gepanzerten Autos, in denen sie sich sicher fühlen? In die Flieger, die sie in ferne Paradiese bringen, während draussen die Welt untergeht? Fühlen sie sich dieser Welt gegenüber ohnmächtig? Schützen sie sich vor ihr, indem sie sie mit-zerstören? «Die Leute»? Welche genau?